Da fährt die Kreide so langsam über die Tafel, dass mit dem ganzen Leib die Kinder das I und dann das ( , die Gerade und das Krumme, erfahren.
Ob in dieser ersten Stunde oder im Eurythmieabschluss zwölf Jahre später: Es geht um den ganzen Menschen. Mal in einer Kinderbesprechung im Kreis des Kollegiums, dann in dem ureigenen Zeugnisspruch, der das Kind begleitet: Jeder Mensch ist einzigartig! Und weil die Lehrerinnen und Lehrer mit früheren Leben rechnen und sich in wöchentlichen Konferenzen dieser Ahnung immer wieder versichern, fühlen die Schüler: Jeder Mensch kommt vom Himmel und diese Schule will ihn wecken für all das, was er sich am Antritt dieser Reise vorgenommen hat. Und er sucht die ganze Gemeinschaft, denn er will ein soziales Wesen werden. Deshalb baut die Schule von Bazar bis Hausbesuch an diesem Miteinander von Eltern, Schülerin oder Schüler und ganzem Kollegium. Spiel und Tanz lassen den Geist im Leib erwachen. Ein Füllhorn an Geschichte und Geschichten bahnt den Weg vom Kopf zum Herzen zur Hand. Zahnwechsel und Rubikon, den richtigen Moment zu fassen, Epochenunterricht und mit der Nachtseite des Lernens arbeiten, all das, um sie mit der Zeit Partnerschaft schließen zu lassen. Und am wichtigsten: Lehrerinnen und Lehrer, die sich aufmachen, auf dem inneren Weg zu sich selbst, weil die Kinder den Menschen suchen, um selbst Mensch zu werden.
Aus: Wolfgang Held ‹Das ist Waldorfschule – Sieben Kernpunkte einer lebendigen Pädagogik›, Stuttgart 2019
Titelbild: Fabian Roschka