Überwunden geglaubte Übergriffe

Gerald Häfner hatte im ‹Goetheanum› 6/2022 in ‹Das Geschenk der Pandemie› eine mögliche Impfpflicht in Deutschland als Übergriff des Staates beschrieben und dazu historische Vergleiche gezogen.


Es sei nicht legitim, Menschen zu einer Therapie zu zwingen. Die Kompetenz des Staates, so Häfner, ende weit davor. Er müsse die Würde und die Freiheit des Menschen wie auch die Unverletzlichkeit des Körpers achten. Mitglieder des Vereins ‹Bildungseinrichtungen gegen Rechtsextremismus› kritisierten in einer Zuschrift an die Redaktion den weiteren Wortlaut von Gerald Häfner als unangemessenen Vergleich mit der NS-Zeit. Im Interview hieß es weiter: «Blicken wir zurück: Da gab es die zwangsweise Sterilisierung behinderter Menschen. Man versuchte, deren Nachwuchs zu verhindern. Das geht zurück auf die Nazizeit. Da hieß das ‹Verhütung erbkranken Nachwuchses› und steht im Zusammenhang mit der Vorstellung von ‹lebensunwertem Leben›. Bei Menschen, denen man nicht zutraute, das selbst zu entscheiden, entschied der Staat, dass sie unfruchtbar gemacht werden.»

Gerald Häfner fügte hinzu, dass das endlich aufgehoben sei und heute «kein medizinischer Eingriff […] mehr ohne Zustimmung der betroffenen Person erfolgen» dürfe. Zurecht weist nun der genannte Verein darauf hin, dass die Zwangssterilisationen des NS-Staates rassistisch motiviert und auf die Vernichtung des Lebens abzielten. Um einen solchen Vergleich ging es im Interview allerdings nicht, sondern vielmehr erinnerte Gerald Häfner daran, dass bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts diese staatlichen Übergriffe stattfanden. So wurden sie nach der ersten Zwangssterilisation 1907 in den USA bis 1981 erlaubt und durchgeführt, insbesondere an amerikanischen indigenen Völkern in den 60er- und 70er-Jahren. Bis 1980 mussten in der Bundesrepublik Deutschland Transsexuelle mit gleichgeschlechtlicher Orientierung die Zeugungsunfähigkeit durch operative Eingriffe herbeiführen, um eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen zu können. Diese Übergriffe, diese systematischen Verletzungen der Menschenwürde, hatten in der NS-Zeit ihren Anfang genommen. Im Interview zieht Gerald Häfner entsprechend nicht die Linie von der Impfpflicht zur NS-Zeit, sondern vielmehr zu der eigentlich überwundenen staatlichen Willkür gegen die Unversehrtheit des menschlichen Leibes. Heute sichert die Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit dem Vertrag von Lissabon jeder Person das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit zu. In der Medizin muss insbesondere die freie Einwilligung der betroffenen Person nach vorheriger Aufklärung beachtet werden. Der Vertrag gilt seit 2009, erst seit 13 Jahren. So jung, so empfindlich ist dieses Recht. Auf dieses heutige Verständnis der menschlichen Würde wollte Gerald Häfner hinweisen.


Bild Luis Cortes

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