Über Generalversammlungen einer anthroposophischen Weltgesellschaft der Zukunft

Die Schere öffnet sich weit: Die Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft könnte der Ort sein, an dem die Mitglieder der Weltgesellschaft sich über Initiativen und Ideen austauschen und unterstützen. Was stattfindet, ist häufig Selbstbezug und lokaler Vereinsdünkel. Wie gelingt die Wende?


Ich kam 2003, vor nunmehr 21 Jahren, nach Dornach und Arlesheim zur fachärztlichen Mitarbeit an der Ita-Wegman-Klinik und zur Medizinischen Sektion am Goetheanum. Michaela Glöckler hatte mich aufgefordert, nach der Lektüre meiner Dissertation über den ‹Logos menschlicher Physis, Die Entfaltung einer anthroposophischen Humanphysiologie im Werk Rudolf Steiners›, meine Studien und Publikationen, aber auch die Lehre am Goetheanum als wissenschaftlicher Mitarbeiter fortzusetzen, was ich dann auch tat – im Rudolf Steiner Archiv mit tatkräftiger Unterstützung Walter Kuglers, der mir die Tür öffnete und auch gestattete, die über 600 Notizbücher Rudolf Steiners zu lesen … Dabei lernte ich auch das Wesen der Medizinischen Sektion und ihre kosmopolitische Arbeit kennen, ihre weltweiten Mitarbeiter in Forschung, Lehre, Ausbildung und Praxis der Anthroposophischen Medizin. Wie viel wurde in 100 Jahren erreicht, aus kleinsten Anfängen! Und welche Herausforderungen bleiben bestehen in den schwierigen Auseinandersetzungen um Medizin und Gesellschaft im 21. Jahrhundert! Ich lernte auch kennen, was es bedeutet, die befähigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Leitungspositionen im Lebenszusammenhang einer Sektion zu finden und wie intensiv daran gearbeitet wird, wenn Veränderungen anstehen. Das Goetheanum repliziert sich keineswegs selbst, wenn Leitungsaufgaben zu vergeben sind, sondern aus einer perspektivischen Wahrnehmung der Gesamtsituation und der jetzt inkarnierten Menschen. Einen solchen Prozess erlebte ich über die Jahre auch in den Landesgesellschaften der Anthroposophischen Gesellschaft; überall wird Ausschau gehalten, welche begabten, in der Anthroposophie kompetenten und sozial befähigten Persönlichkeiten zur Wahrnehmung der schwierigen Zukunftsaufgaben infrage kommen – in den Ländern und dann auch für Gesellschaftsaufgaben am Goetheanum. Darüber ist der Dialog seit vielen Jahren im Gange – und die Zeit der hierarchisch-direktiven ‹Kooptationen› ist längst vorüber. Vorschläge werden dankbar geprüft – wer ist als Einzelner schon in der Lage, die Weltgesellschaft und die weltweiten Mitarbeitenden der Sektionen zu kennen?

Entwicklungsgestalten der Anthroposophischen Gesellschaft

Als Beirat der Anthroposophischen Gesellschaft in Fragen der Weleda wurde mit Weitblick und Sachverstand auf der Generalversammlung ein fachlich qualifizierter Kreis vorgestellt, durch die Initiative einer engagierten Gruppe. Beiträge aus verschiedenen Landesgesellschaften zeigten, wie intensiv an vielen Orten an gesellschaftlichen und an Hochschulfragen gearbeitet wird, auch für die Unterstützung des Goetheanum, wie Marc Desaules am Beispiel des Fonds Goetheanum aus dem Kreis der Landesgesellschaften darstellte. Die Landesvertretenden von 30 Landesgesellschaften berieten über die Lage und die Aufgaben in ihren Ländern und für das Goetheanum bereits vier Tage lang vor der Generalversammlung, von morgens bis abends – und blieben dennoch für die Versammlung. Die Infragestellung des internationalen Interesses und der Kompetenz in Sachfragen der Anthroposophischen Gesellschaft und ihrer Geschichte, wie sie wieder vereinzelt auf der Generalversammlung zu hören war (mit dem Argument der geringen Online-Einschaltquoten zu einer Versammlung wie dieser), ist nicht nur verletzend, sondern geht komplett an der Realität vorbei. Es gibt viele dialogische Zusammenhänge von Mitgliedern der Gesellschaft, weltweit und keinesfalls nur lokal in Dornach, und es gibt befähigte und kenntnisreiche Menschen; demnächst werden auch internationale Zoom-Foren beginnen. Der langjährige Archivar des Goetheanum, Uwe Werner, sprach eindrucksvoll über das Recht aller Mitglieder, an Entscheidungsprozessen der Anthroposophischen Gesellschaft beteiligt zu sein, nicht nur der vor Ort Anwesenden; er sprach darüber, wie Rudolf Steiner die Weihnachtstagung auch als internationale Delegiertenkonferenz veranlagte, damit die Stimmen der Menschen aller Landesgesellschaften gehört werden. Rudolf Steiner ließ auf der Weihnachtstagung 1923/24 15 Länderberichte morgens zur Darstellung kommen und traf sich eigens mit den Landesvertretern. Er sprach von der «wirklich großen, hingebungsvollen, mannigfaltigen Arbeit», die überall geleistet werde. Ich konnte in den letzten Jahren Jahrestagungen verschiedener Landesgesellschaften besuchen und war und bin mit vielen internationalen Mitgliedern im Gespräch; die Unterstellung, dass das Goetheanum in Vergangenheits- und Zukunftsfragen, an den Toren von ‹Mond› und ‹Sonne›, eine reine Innenperspektive verfolge und nicht mit der Mitgliedschaft im Austausch sei, entspricht nicht der Wirklichkeit, weder auf Gesellschafts- noch auf Hochschulebene. Tatsächlich ist der Austausch intensiv und keineswegs nur innerhalb und zwischen den Gremien.

Die gemeinsame Verantwortung

Gleichwohl muss alles in kosmopolitischer, sozialer sowie spiritueller Orientierung in den nächsten Jahren noch erheblich intensiviert werden, sofern sich die anthroposophische Bewegung, ihre Einrichtungen, ihre Gesellschaft und Hochschule in dieser abgrundnahen Welt behaupten und geltend machen wollen. Wie kann es sein, dass die Generalversammlung nicht der Ort ist, wo über wichtige Zukunftsfragen in dieser Ausrichtung gesprochen wird? Darüber, wie die Gesellschaft das so deformierte Bild der Anthroposophie in der Öffentlichkeit korrigiert, wie sie den angeschlagenen anthroposophischen Institutionen beisteht, wie die Präsenz der Anthroposophie gestärkt wird? Auch darüber, wie es der Gesellschaft gelingt, wichtige Arbeiten, die in den eigenen Reihen geleistet werden, bekannt zu machen, in die Öffentlichkeit zu stellen, in die interne ebenso wie in die externe Öffentlichkeit? Darüber sollte man sich austauschen und sollte zu Absprachen kommen, als Gesellschaft, um «endlich arbeitsfähig» zu werden, wie Rudolf Steiner dies nannte, zur gemeinsamen Wahrnehmung der dringlichen Aufgaben in dieser Welt. 2025 wird erneut ein sehr öffentliches Jahr für die Anthroposophie werden, Steiners 100. Todesjahr. Wie ist die Anthroposophische Gesellschaft darauf vorbereitet, was entwickelt sie, wie geht sie vor? Davon war, aufgrund so vieler Anträge, nicht die Rede. Generalversammlungen einer Weltgesellschaft mit Zukunftswillen aber werden von solchen und anderen Fragen mitbestimmt sein müssen – dann werden auch jüngere Mitglieder und Mitglieder, die in Fachbereichen Verantwortung übernommen haben, den Weg zur Versammlung auf sich nehmen, mit ihren Anliegen und Initiativen. So viele bleiben fern, weil sie den Eindruck haben, die immer gleichen Menschen stellen Anträge und ergreifen das Wort, vorgeblich im Namen der gesamten Mitgliedschaft, die daran in dieser Weise jedoch gar nicht interessiert ist und sich dagegen verwahrt. Sie verwahrt sich jedoch keinesfalls aus Desinteresse am Schicksalsgang der anthroposophischen Bewegung in der Welt, ganz im Gegenteil – und wahrlich nicht aus fehlender Sachkompetenz.

Sergej O. Prokofieff und das Prinzip Hoffnung

Wie werden Generalversammlungen zu Treffpunkten einer Weltgesellschaft im Sinne der Weihnachtstagung? Der Aufbruch, den Rudolf Steiner 1923/24 ermöglichte, bewegt weltweit unzählige Menschen – ihm gerecht zu werden und ihn fortzuführen ist die Schicksalsaufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft. Sergej O. Prokofieff, der am 26. Juli 2014 in Dornach starb und dessen zehnten Todestages wir dieses Jahr im Grundsteinsaal gedenken werden, rechnete die Anthroposophische Gesellschaft zu den wichtigsten Gründungen Rudolf Steiners, ja er sah sie als seine allerwichtigste überhaupt – im Sinne dessen, was Steiner in den Karmavorträgen ab Juli 1924 über ihren michaelischen Auftrag sagte. Sergej rang bis zuletzt mit dieser Aufgabe, in seiner eigenen, tiefgründigen Lebensarbeit und in der gemeinsamen Verwirklichung durch die Gesellschaft und Hochschule. Er setzte jedoch, wie ich aus vielen persönlichen Gesprächen mit ihm weiß, bis zuletzt auf die Zukunft, auch auf die Zukunft des Goetheanum, mit seinen weltweit tätigen Sektionen und seiner esoterischen Schule und Schulung, die die ganze Facharbeit trägt, substanziiert und impulsiert. Dass 2023 wieder über 500 Menschen Mitglieder der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft geworden sind, hätte ihn sehr gefreut; strahlend kam er eines Tages zu mir, als er im Goetheanum-Archiv entdeckt hatte, dass Rudolf Steiner noch am 28. März 1925 13 blaue Karten unterschrieb, an seinem drittletzten Erdentag.

Seit Sergej O. Prokofieffs Tod ist viel geschehen, auf der Welt, in den Ländern, in der anthroposophischen Weltgesellschaft, in der Hochschule und ihren Sektionen sowie im Goetheanum selbst. Für das Prinzip der Leitung in der Gesellschaft, in der weltweiten Verbundenheit mit Menschen, für das Prinzip Verantwortung in Lehre, Forschung und Ausbildung in der Hochschule stand Sergej ein, was nichts mit ‹ex cathedra› und ‹Deutungshoheit› zu tun hat. Er stand für das Prinzip Hoffnung.


Literatur Peter Selg ‹Die anthroposophische Weltgesellschaft und ihre Hochschule. Dornach 2023›. Bild Generalversammlung 2024.

Foto Xue Li

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare