Sich auf die Ursprungsimpulse zu besinnen und sie neu zu ergreifen, dazu regte die Tatsache der Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft vor 100 Jahren an. Der dreifache Anruf im Grundsteinspruch: «Menschenseele! […] übe […]» kann uns hierbei ein kraftvoller Impuls sein.
Während der Weihnachtstagung1 erläuterte Rudolf Steiner die drei Übungen, ‹Übe Geist-Erinnern›, ‹Übe Geist-Besinnen› und ‹Übe Geist-Erschauen› nicht weiter. Doch in den Abendvorträgen ‹Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung›2 sprach er im ersten Vortrag ausführlich über die Verwandlung der Seelentätigkeit des Erinnerns seit der atlantischen Zeit. Er beschreibt dort, wie das Erinnern in Vorzeiten erst als örtliches Erinnern geübt worden sei; die Menschen richteten sich damals Merkzeichen, Denkmäler, Steine auf, um sich an etwas erinnern zu können. Während der urindischen und der chaldäischen Zeit sei das Erinnern rhythmisch geworden. Durch rhythmisch wiederkehrende Worte konnte man sich an Vergangenes erinnern. Erst in Griechenland sei das uns bekannte zeitliche Gedächtnis-Erinnern entstanden. Die Erinnerungskraft habe sich in dieser großen Zeitspanne mehr und mehr ‹verinnerlicht›, sei gleichsam aus dem Raum durch die Zeit ins Innere des Menschen eingezogen (24.12.1923). Das in der zweiten Strophe des Grundsteinspruchs erwähnte ‹Besinnen› wird in den sozialen Verhältnissen entwickelt. Die Todeskräfte bewirken erst diese Besonnenheit. Die zweite Tugend entstehe, so schildert es Rudolf Steiner anhand eines historischen Beispiels aus der antiken Geschichte, in der kriegerischen Auseinandersetzung, in der zwei verfeindete Kriegsparteien aufeinandertreffen. Im Kampf werde die Jugendkraft der erfolgreich Erobernden gleichsam durch die besiegte, seelisch alt gewordene Bevölkerung wie zurückgeworfen und rufe in den Seelen Besonnenheit hervor (25.12.1923).
Das Schauen des Geistes sei in der griechischen Epoche in den kosmischen Mysterien von Ephesus anhand des Studiums der Urzustände der Erde und der Menschheit (26.12.1923) geübt worden, ehe dieses Geist-Erleben dann noch in der griechischen Zeit versiegte und mit Aristoteles und den Alexanderzügen eine Art Abschluss fand (27. bis 29.12.1923). In den drei letzten Vorträgen des Zyklus wird dann nur angedeutet, wozu die Erneuerung der drei geistigen Kräfte, Geist-Erinnern, Geist-Besinnen und Geist-Erschauen, führen sollte: Die Ausbildung der imaginativen Erkenntnis sollte den verloren gegangenen Zusammenhang von Mensch und Natur vom Menschen ausgehend, etwa für die Entstehung einer anthroposophischen Heilkunst, wieder zugänglich machen (30.12.1923). Im letzten Vortrag richtet Rudolf Steiner seinen Blick auf den Brand des Ersten Goetheanum und zeigt, wie aus dem Schmerz über den Verlust neue Taten und Segen für die Zukunft entstehen können (31.12.1923). Abschließend wird der geistige Impuls der Anthroposophie einer Prophetie, wohin die materialistische Kultur hinsteuern würde, entgegengestellt und es wird an den Mut appelliert, den die Gegenwart fordere (1.1.1924). Die eigentlichen Betrachtungen zu den drei Übungen kamen dann erst später in den Karmavorträgen, den Mitgliederbriefen und den Klassenstunden der Freien Hochschule. Es war jedoch bis dahin bereits viel an innerem Gehalt für geistig-seelisches Üben gegeben worden. Auffällig oft weist Rudolf Steiner auf sein Buch ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?›3 hin, so als wollte er sagen, dass das dort Beschriebene immer noch nicht genügend verstanden und aufgegriffen worden sei.
Das Zeitalter der Askese
Der Sinn der Entwicklung wäre verfehlt, wenn nach dem Zeitalter des Verlustes nicht das Zeitalter des Übens folgen würde. Es kann nicht darum gehen das alte Schauen zurückzugewinnen, sondern die Frucht der Zwischenzeit ist der eigentliche Gewinn der Entwicklung. In ‹Wie erlangt man …› heißt es in diesem Sinne, dass die übersinnliche Welt den Durchgang durch die sinnliche brauche, damit Menschen die entsprechenden Fähigkeiten entwickeln könnten. Die erworbenen Fähigkeiten würden dann auf einer höheren Stufe der übersinnlichen Welt als Früchte übermittelt.4 Dies kann uns ein Ansporn sein, nicht eine geistige Eschatologie zu pflegen, sondern Freude an der Ausbildung seelisch-geistiger Fähigkeiten und geistigem Üben zu entwickeln sowie nach Selbständigkeit zu streben. Die drei ‹Proben› der Einweihung, die Rudolf Steiner beschreibt (ebd.), haben kein anderes Ziel, als vom Menschen die volle Selbständigkeit zu fordern und ihm seine Verantwortung zu Bewusstsein zu bringen. Wenn auch jedes geistige Erlebnis ein Gnade der geistigen Welt ist.
Was es mit dem ‹Üben› und der ‹Askese› auf sich hat, entwickelte Rudolf Steiner einmal5 in einem frühen Vortrag: ‹Askein›, altgriechisch, ist das Verb von Askese, was nichts anderes heißt als ‹üben, trainieren, sich ausbilden› oder wie bei Homer noch: ‹etwas künstlich anfertigen› (z. B. durch einen Daidalos). Askese ist gerade das Gegenteil von Absterben (was die irrtümliche Vermutung wäre), denn sie bedeutet in diesem Sinne nur Vorbereitung durch Üben, z. B. Gymnastik, damit Fähigkeiten entstehen, so wie man Vokabeln für eine Sprache lernt, ehe man in die fremdsprachliche Konversation einsteigt, oder am Klavier die Tonleiter oder den Fingersatz eines Stückes übt, bevor man auf der Bühne auftritt. Dass alles ist also nur Vorbereitung. Doch das wird nicht immer gehört im Grundsteinspruch. Es kann so erscheinen, als ob die Aufforderung, Geist-Erinnern zu üben, selbst schon kosmischer Art sei. Doch fängt alles tatsächlich mit dem Üben an. Dann erst erklingt: «und du wirst wahrhaft leben» – nämlich nicht nur übend, sondern wahrhaft, also wirklich im Menschen-Welten-Wesen –, während man zuvor noch nur für sich übte.
In diesem Sinne waren die Philosophie, die Logik und andere Schriften von Aristoteles nach dem Verlust des Schauens im Abendland bis in das 19. Jahrhundert nur eine Art «Übung, Askesis, Exerzitium»6. Die Ausbildung des logischen Denkens ist nur die Vorbereitung für höheres Erkennen, eine Vorbereitung, die einmal durchgemacht werden musste, die dann aber über die seelische Beobachtung, wie sie in ‹Die Philosophie der Freiheit›7 als Aufgabe gestellt wird und übend zu erlangen ist, zum geistigen Schauen werden soll.8
Übe Geist-Erinnern
Wie übt man Geist-Erinnern? Dass es sich dabei nicht um eine Übung des gewöhnlichen Erinnerns handelt, geht aus der Wortschöpfung ‹Geist-Erinnern› klar hervor. So kann gefragt werden: Wie erinnert man den Geist? Es führt ein Weg von der normalen Erinnerungsvorstellung zum Erinnern im Geiste. Schon Plato ging davon aus, dass alles Denken eine Erinnerung (‹Anamnesis›) sei, woraus sich ergibt, dass hier ein Willensweg gemeint ist. ‹Anamnesis› kommt von ‹ana-mimvoo›, d. h. etwas abwarten, was sich andient. ‹Mimnoo› ist verwandt mit ‹mimneskoo› oder ‹erinnern›. Man hält den Willen, der immer vorwärts auf Zukünftiges zugeht, zurück und lässt walten, was vorher war. Bei Platon ist es das, was vorgeburtlich war: die Wesens- oder Ideenschau.
Rudolf Steiner beschrieb die Rückschau als eine Übung, um von dem Persönlichen frei zu werden und auf seinen früheren Willen zu schauen. Diese Vorstellung wird mehr und mehr zum ätherischen Bewegen in der Zeit, ein Aufsteigen zur Akasha-Chronik. Wesentlich bei dieser Übung ist aber zu bemerken, wie sich die Vorstellung der Rückschau durch drei Nächte hindurch zuerst in den Astralleib, zweitens den Ätherleib und schließlich, in der dritten Nacht, in den physischen Leib hineinsenkt. Sie wird zur Willenssubstanz. Eben jene Substanz, mit der wir den geistigen Willen schauen, intuieren können und uns an einen schon gefassten, nun objektiv im Leben waltenden Willen, oder anders gesagt an das Karma, erinnern können.
Der gewöhnliche Wille wirkt immer auf etwas hin. Der karmische Wille dagegen ‹erinnert› sich an seinen Ursprung. Der übliche Wille stirbt in seinen endlichen Taten jedes Mal aufs Neue. Nur die Keime gehen im Nachtodlichen auf. Im weitesten Sinne ‹erinnert› sich der geübte Wille an sein Karma, seinen Weg des Abstiegs («ex deo nascimur»), der durch die ‹Zeitenwende› umgekehrt der Weg des Aufstiegs werden kann, zum ‹wahrhaften Leben› in der Welt der Dauer, durch des Geistes-Meeres-Wesen.
Dieses Erinnern mag weiter verbreitet sein, als man denkt. Wer seine Träume beim Aufwachen bemerkt, wird selber bemerken können, dass sie gelegentlich Tagesereignisse vorausnehmen. Klassisch aber ist die Darstellung Goethes im elften Buch von ‹Dichtung und Wahrheit›, wie er schon am hellen Tag, als er sich nach seiner Promotion in Straßburg von Friederike Brion verabschiedete, eine prophetische Vorausschau hat. Zuvor hatte er schon stark mit diesem anstehenden Moment gerungen. Die Tränen in ihren Augen machten ihn höchst empfindlich, als er fortritt. «Da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen, ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen, […].» Und so sollte es auch geschehen, sogar bis hin zum Kleid («hechtgrau mit etwas Gold»), das er in dem Gesicht sah und bei der Rückkehr tatsächlich tragen sollte.
Übe Geist-Besinnen
Würde man nur das Erinnern übend erweitern, so wäre es eine Einseitigkeit, die uns an das Vergangene binden würde. Demgegenüber gilt es, sich auch dem Moment hingeben zu können, rein in der Gegenwart zu sein oder ‹Geistesgegenwart› zu üben. Wer sich über seine Lage klar wird, gibt sich gegenüber der Umgebung Rechenschaft und besinnt sich auf sein Vermögen, auf diese zu reagieren. Wer sich jedoch auf den Geist besinnt, liest diese Situation noch anders, nicht nur aus dem Selbsterhaltungstrieb oder aus dem Drang, die Situation nur für sich auszunützen, sondern – wie es in der ‹Wasserprobe› in ‹Wie erlangt man …› heißt – inspirativ, was so viel bedeutet, wie dem Moment abzulauschen, in der okkulten Schrift zu lesen, was objektiv zu tun sei. Auch dies will erübt sein, und zwar in dem Maße, dass man ‹drei Schritte› tut im moralischen Leben gegenüber nur einem Schritt in der Meditation. Das kann durch die sogenannten anthroposophischen ‹Nebenübungen›, die vom Alltag aus gesehen vielleicht eher ‹Hauptübungen› genannt werden könnten, geübt werden. Nichts weniger als die Ichwerdung des Menschen hängt von ihnen ab. Die Frage ist, ob man sich vom Ich aus in die Hand nehmen kann, für seine Entwicklung selbst die Verantwortung übernehmen will und sich fortwährend prüft, ob man tatsächlich auch kann, was man sich denkt oder wünscht. Erst die Fähigkeit, die sich aus diesem Üben entwickelt, wird zum Urteilsvermögen. Wie auch in den Künsten eher gereifte Kunstschaffende gut lehren werden (wie einige Schüler Rembrandts, weniger genial als er, doch noch durch ihn zu großer Höhe aufstiegen).
Sobald die Idee der Erkenntnis im Griechentum erfasst war, sollte die Ethik ihre Bedeutung für den Menschen zugänglich machen. Sowohl in Aristoteles’ Ethik der goldenen Mitte wie in der damals elaborierten Ethik der sogenannten Stoa (nach der Säulenhalle, in der Zeno, Cleantes und Chryssipus lehrte) war das ‹Seelengleichgewicht› das Ziel. Spinoza systematisierte die alte Lehre in seiner ‹Ethica›, aus der Goethe in seinen Verstandesseelenjahren inspiriert wurde. Rudolf Steiners Nebenübungen sind aus dieser Perspektive gesehen – in aller Einfachheit – ein System, das unmittelbar in die Lebenspraxis hineinführt. Von der Kontrolle des Denkens, durch die man den Mittelpunkt der Seele erfasst, geht man polar dazu zur Beherrschung des Willens über und gewinnt drittens dazwischen auch die Herrschaft über das Gefühl. Dann stellt man viertens das Gleichgewicht von Seele und Welt her, und wendet sich – sich innerlich öffnend und die Welt aufschließend – in Positivität jeder ihrer Erscheinungen neu zu. Strebt man fünftens danach, das Neue als solches zu erfahren, ohne seine eigene Vergangenheit zu wiederholen, entsteht die Unbefangenheit. Zuletzt geht es darum, sich ständig übend durch diese fünf Seelenqualitäten in das Leben hineinzustellen, das schafft Harmonie für Mensch und Welt. Auf diesem Weg wird man frei vom ‹Mondenkarma›, den mitgebrachten Prägungen und Lasten, und nimmt das ‹Sonnenkarma› an.9 Das seelische Üben führt uns in das Tiefenlot des neuen Fühlens. Denn was wäre Fühlen denn im Grunde genommen anderes, als das Begegnete, Erfahrene an der Zukunft, dem noch zu verlebenden Leben bis hin zum Tod abzuwägen?10 In diesem Ringen zwischen Geistesgegenwart und Zukunft lebt die wahre ‹imitatio Christi›, im Willen das eigene Ich dem Welten-Ich zu vereinen und über das Gegebene, triebhaft Jugendliche hinaus bis in den Tod zu gehen («in Christo morimur»).
Was bei Spinoza noch die stoische Ausbildung einer Erhabenheit über Lust und Leid im reinen Denken war, wurde bei Goethe ein sich dynamisches Ausbilden der Seele an der Welt, eine Steigerung der Fähigkeit durch die Gegensätze von Sich-Sammeln, und Zerstreuen, von Denken und Tun, von Denken und Anschauen. Goethe lebte, wie er sich im Tagebuch 1781 notierte, «sehr diät», um die Wirksamkeit der Gegensätze nicht zu stören und einen «regelmäßigen Kreis» der Schwankungen um das Selbst als Mittelpunkt in der Zeit herzustellen. Er hob sich damit über jenes ‹himmelhoch jauchzend [und] zu Tode betrübt›-Sein hinaus. Rudolf Steiner weist auf diesen «Gleichmut» Goethes im Zusammenhang mit der dritten der sechs Nebenübungen hin.11 Für die vierte Übung der ‹Positivität› dient Goethes Nachdichtung von Nisamis Parabel von ‹Herr Jesus und der tote Hund› als Vorbild.12 Die fünfte Übung findet ihr Muster in Goethes Unbefangenheit, «niemals weder eine nächst zu erwartende Person noch eine irgend zu betretende Stelle vorauszudenken, sondern diesen Zustand unvorbereitet auf mich wirken zu lassen»13. So verhinderte auch nicht Newtons Theorie sein eigenes, unbefangenes und produktives Schauen durchs Prisma, das zu seiner Farbenlehre führte.
Übe Geist-Erschauen
Neben den ‹Nebenübungen› gibt es auf dem anthroposophischen Schulungsweg die ‹Hauptübungen›, die in der Tat Übungen des Hauptes sind. Das Haupt erschließt uns den Weltgedanken – das ist das Wesentliche der Übung der Meditation oder Kontemplation. Jeder Gedanke ist immer Weltgedanke, aber wir übersehen es, denn wir überstimmen es mit unserem Wollen und Fühlen. Wir nutzen die Gedanken für unsere Zwecke aus, wie auch ein Dieb irgendwelche klugen und wahren Gedanken braucht, um geschickt einbrechen zu können. Geben wir uns aber dagegen rein den Gedanken hin («in Gedankenruhe»), so entfalten sie ihr eigenes Wesen und Leben und sprechen die Welt (die auch uns umfasst) aus. Das Paradox von subjektivem Tun und objektivem Inhalt ist im Üben die große Hürde. Weshalb man auch nicht leicht zu dieser Gedankenruhe, zum Schauen des Geistes im Denken kommt. Alle philosophischen Schriften Rudolf Steiners – von den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung›14 bis hin zu ‹Goethes Weltanschauung›15 – sowie zahllose philosophische Aufsätze und Kommentare handeln von diesem einen Punkt: Im menschlichen Denken offenbaren sich die Gesetzmäßigkeiten der Welt. Der Mensch ist alles andere als, wie Kant es meinte, in sein eigenes Denken eingeschlossen. Die richtige Auffassung für das Verhältnis von Erkennen und Welterleben hatte Goethe mit seinem ‹gegenständlichen Denken›. Steigert man die Vorstellungs- und Denktätigkeit in der Meditation, zum Beispiel des Rosenkreuzes (also über die Sinneserfahrung hinaus), so verstärken sich die Seelenkräfte, verdichten sich, um dadurch nur noch objektiver zu werden. Was im alltäglichen Leben vermischt auftritt, das Vorstellungsbild mit dem mit ihm verwobenen Begriff, trennt sich, indem man die Vorstellung erst ganz bewusst herstellt, festhält und dann fortschafft. So wird das Denken frei für das Schauen.
Die Quelle dieses Vermögens finden wir nachtodlich im vierten Gebiet des Geisterlandes. Alles, was der Mensch an Gedanken in der Welt neu schafft, wodurch er ein Schaffender wird, hat dort seinen Ursprung. Wobei man sich den Gedanken allerdings als ein tätiges, handelndes, mit Innenleben begabtes Wesen vorzustellen hat16: also «Welten-Wesens-Licht […] zu freiem Wollen» schenkend, und zwar von Götterzielen durchleuchtet (Grundsteinspruch). «Wahrhaft Denken» ist ja nicht philosophieren, sondern sich selbst überwinden, um die «ewgen Götterziele» zu verwirklichen. Das Rosenkreuz steht als sein Sinnbild dafür.
Goethe wusste, dass in der subjektiven Tätigkeit objektive Gesetze walten können und dass sie dazu dienen, das Objektive zur Erscheinung zu bringen: «Der Mensch erfährt und genießt nichts, ohne sogleich produktiv zu werden. Dies ist die innerste Eigenschaft der menschlichen Natur. Ja, man kann ohne Übertreibung sagen, es sei die menschliche Natur selbst.»17 Dafür, dass man sich übend dem Gegenstand angleicht, dient wohl am besten Goethes eigenes Zeugnis, denn er war dazu in der Lage, dass er «in der Mitte des Sehorgans» eine lebendige Blume vorstellen konnte, die immer neue Blätter aus ihrem Innern entfaltete. Dies konnte er kraft seines Übens des Betrachtens der Pflanzenmetamorphose. «Hier ist die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel und manifestiert sich in der eigenen Lebendigkeit des Organs, mit vollkommener Freiheit ohne Vorsatz und Leitung.»18
Das selbstlose Üben
Hat man sie im Überblick, so ist auch klar, dass die drei Übungen im Grundsteinspruch sich miteinander verschlingen. Die rhythmischen Nebenübungen sind ein Willensweg, auf dem man eine Art von Übungsgedächtnis ausbildet. Sie fangen mit dem Vertrauen (Glauben) in das Denken an, trotz dem sie systematisch (der menschlichen dreigliederigen Konstitution abgelesen) sind. Während wir das Üben erst mal üben, meistern wir die Aufgabe als etwas Eigenes, es gleichsam zu individualisieren, so lernen wir auch nach und nach zugleich selbstlos damit umzugehen. Denn Können bringt zuerst Befriedigung, wie das Versagen Ärger und Frustration. Aus dem berechtigten Genuss des Übens sollen uns jedoch die benötigten Fähigkeiten entstehen, um der Welt willen, damit der selbstgefällige Genuss nicht sogar das Gegenteil bewirkt und die Übungen wertlos macht. Denn so würde man gerade diejenigen geistigen Wesen verletzen, auf die wir unsere Hoffnung, ihre Gnade zu erfahren, setzen sollten. Aus unserem Schmerz des Nicht-Gelingens wachsen uns rein geistig die moralischen Willenskräfte, unsere Aufgaben dennoch zu bewältigen.19 Dankbarkeit für das Gelingen und Liebe für das hohe Ziel werden uns, wie einen besonnenen, sich an den Mast des Denkens anbindenden Odysseus, an der «gefährlichen Klippe»20 vorbeischiffen. Da hilft uns die Vorstellung, dass wir hier mit derjenigen Kraft der Seele arbeiten, die in der Zeitenwende mit dem Gang durch Golgatha im Untergrund der Seele zu wirken begonnen hat.
Footnotes
- Siehe: Grundsteinlegung (25.12.1923) in Rudolf Steiners Vorträgen: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. GA 260. Am 25.12.1923 stellte Rudolf Steiner den Mitgliedern den Grundsteinspruch in Dornach vor. In einer zweiten Fassung erschien er in abgewandeltem Wortlaut am 13.1.1924 im Nachrichtenblatt, Dornach.
- Siehe Rudolf Steiners Vorträge: Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung. GA 233, Dornach 1923/24.
- Siehe: Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? GA 10, Berlin 1904.
- Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? GA 10, Dornach 1993, S. 206–207.
- Siehe: Die Askese und die Krankheit (11.11.1909) in Rudolf Steiners Vorträgen: Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil. GA 58, Berlin 1909/München 1910.
- Rudolf Steiner, Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung. GA 233, Dornach 1991, S. 111.
- Siehe: Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. GA 4, Dornach 1978. Original erschienen 1894.
- ergleiche: Rudolf Steiner, Ausblick auf eine Anthroposophie, im letzten Kapitel von: Die Rätsel der Philosophie. GA 18, Dornach 1985, und das Anfangskapitel: Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann, in: Die Schwelle der geistigen Welt. GA 17, Dornach 1987.
- Siehe Rudolf Steiners Vortrag vom 25.1.1924 in Bern, in: I. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. GA 235, Band 1, Dornach 1924.
- Siehe Rudolf Steiners Vortrag vom 10.10.1918 in Zürich, in: Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie. GA 73, Zürich 1917/18.
- Siehe: Rudolf Steiner, Die okkulte Grundlage in Goethes Schaffen. GA 35, Dornach 1984, S. 24–25, durch den Hinweis auf «Uparati», eine der sechs Eigenschaften nach Shankaracharya (im ‹Vivekachudamani›) und nach dessen System auch in Kap. VI: Über einige Wirkungen der Einweihung, aus: Wie erlangt man … GA 10.
- Aus den von Goethe dem ‹West-Östlicher Divan› zugefügten Noten und Abhandlungen. Insel-Verlag Gesamtausgabe 1952, S. 155.
- Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich. Dtv-Goethe-Gesamtausgabe, Bd. 27, München 1962, S. 112.
- Siehe: Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller. GA 2, Weimar 1886.
- Siehe: Rudolf Steiner, Goethes Weltanschauung. GA 6, Weimar 1897.
- Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA13, Dornach 1989, S. 114–115
- Johann Wolfgang Goethe, Über den sogenannten Dilettantismus. Goethes Werke, Berlin: Hempel, Bd. 28, S. 165.
- Johann Wolfgang Goethe, Das Sehen in subjektiver Hinsicht (von Purkinje). Dtv-Goethe-Gesamtausgabe, Bd 39, München 1963, S. 205.
- Rudolf Steiner, Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt. GA 153, Wien 14.4.1914.
- Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? GA 10, Dornach 1993, S. 27.