Truus Geraets (6. November 1930–4. Oktober 2023) war ein Pioniergeist und eine Lebenskünstlerin. Warum hat sie sich entschieden, den größten Teil ihres Lebens der meist undankbaren, unterbezahlten und manchmal riskanten sozialen Arbeit zu widmen?
Truus hat sich für die Entrechteten eingesetzt. Sie war eine Pionierin der Sozialarbeit, die sich von der Sozialpädagogik, Heilpädagogik und Sozialwissenschaft – den mit der Anthroposophie und Hochschule verbundenen Disziplinen – stark unterscheidet. Soziale Arbeit hat direkt mit Menschen zu tun, die im Gefängnis und in Ghettos leben, die ausgegrenzt werden durch Armut, rassistische oder religiöse Vorurteile und Vernachlässigung, insbesondere in der Kindheit. Es entstehen Probleme wie Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Familien- und sexuelle Gewalt und Kriminalität. Viele dieser Menschen fallen dem Strafrechtssystem zum Opfer oder leben in Zuständen, wo der Einzelne die ihm zustehenden Menschenrechte nicht durchzusetzen vermag – die für uns sonst ganz selbstverständlichen Rechte auf Polizeischutz und rechtliche Vertretung, auf Bildung und Bewegungsfreiheit, auf bezahlte Arbeit, Freizügigkeit und Weiteres. Wer sich in der Sozialarbeit betätigt, verdient wenig Geld oder gesellschaftliche Anerkennung und setzt sich manchmal erheblichen Gefahren aus.
Als ich anfing, mit Truus am Baobab Community College in Alexandra Township, Johannesburg, zu arbeiten, hatte ich von alledem, was soziale Arbeit meint, keine Ahnung. Das war 1991 und Truus war damals knapp über 60 Jahre alt. Sie lebte zusammen mit ihrer Freundin Claartje Wijnbergh in einem Haus in der Baobab Street, Johannesburg North, von der das College seinen Namen bekommen hat. Ich hatte Truus nie richtig kennengelernt, obwohl wir einiges miteinander zu tun hatten. Es war sowieso schwierig, Truus kennenzulernen. Erstens sprach sie nie über sich selbst. Wenn man ihr eine persönliche Frage stellte, antwortete sie ehrlich und offen. Sie brauchte aber nie sehr lange. Denn sie war immer am Arbeiten. Wenn ich die beiden besuchte und mit Claartje ins Gespräch kam, entschuldigte sich Truus nach ein paar Minuten, um sich mit etwas Produktivem zu beschäftigen. Während Claartje und ich jeweils einen Job hatten, hatte Truus etwa fünf. Sie war Heileurythmistin an der Michael-Mount- und der Inkanyesi-Schule sowie in der Praxis des örtlichen anthroposophischen Arztes. Sie unterrichtete Eurythmie an der Inkanyesi-Schule für alle Kinder. Außerdem leitete sie das Centre for the Art of Living, die Dachgesellschaft von Inkanyesi, Baobab und noch verschiedenen anderen Initiativen. Sie leitete ein Projekt an der Inkanyesi-Schule, wo man Stoffpuppen für Kinder herstellte, die sie in der ganzen Welt vermarktete, und war damit beschäftigt, ihre ersten beiden Bücher über unsere Arbeit in Südafrika zu schreiben. Sie war die Geldbeschafferin für die gesamte Organisation und pflegte zu diesem Zweck umfangreiche Kontakte in Europa und den Vereinigten Staaten. Außerdem arbeitete sie als pharmazeutische Assistentin bei der örtlichen Weleda-Firma, wann immer sie etwas zusätzliches Geld brauchte. Auf diese Weise finanzierte sie ihre soziale Arbeit, aber gleichzeitig entsprach jede dieser Tätigkeiten ihrer Vorstellung von sozialem Engagement.
Truus hielt sich an keine Konventionen. Sie war ein Gesetz für sich selbst, was sie nicht immer zu einer einfachen Kollegin machte. Sie hat sich nie über irgendetwas gestritten – in der Tat habe ich nie erlebt, dass sie wütend wurde oder ihren Ärger in irgendeiner Weise zum Ausdruck brachte. Sie war einfach nicht einverstanden und machte weiter, was sie wollte. Dinge wie Konventionen, Status, persönlicher Ehrgeiz oder Anerkennung bedeuteten ihr nichts. Sie lebte von der Hand in den Mund, hatte niemals Ersparnisse angesammelt oder in eine Rentenkasse eingezahlt und arbeitete Vollzeit, bis sie fast 90 war.
Im Jahr 2016 besuchte ich meine alte, sehr geliebte Kollegin und Freundin Claartje Wijnbergh in ihrem Haus in Driebergen (Niederlande) und war überrascht, dass Truus gerade auch da war. Ich nutzte die Gelegenheit, sie zu interviewen, wobei sie mir Folgendes erzählte:
Truus «Ich wurde 1930 in Holland als jüngstes von vier Kindern geboren. Mein Vater hatte meine Mutter mehr oder weniger schon vor meiner Geburt verlassen. Er wollte Priester in der Christengemeinschaft werden, aber sie sagten: Wenn du deine Familie nicht ernähren kannst, darfst du nicht zu uns kommen. Meine Mutter konnte eine sehr günstige Wohnung mieten, während sie bei einem Arzt in Den Haag arbeitete. Wir zogen dann nach Zwolle, mitten auf dem Land, wo wir für sehr wenig Geld ein Kutschenhaus mieteten. Meine Mutter fühlte sich dort jedoch ziemlich einsam. Dann wollte meine Großmutter uns näher an ihrem Wohnort in der Nähe von Arnheim haben, und so zogen wir in eine Reihe von Doppelhäusern, meine Mutter mit vier Kindern und ohne Geld. Meine Großmutter war schließlich gezwungen, ihr 90 Gulden pro Monat zu zahlen, da es noch keine Sozialdienste gab. Meine Mutter musste genau darüber Buch führen, wofür sie jeden Cent ausgegeben hatte.
Meine anthroposophische Mutter war eine entscheidende Figur in meinem Leben. Wir hatten ein sehr friedliches Zuhause, und wir vier Kinder haben uns niemals gestritten, auch wenn wir ohne Vater aufwuchsen. Ich habe nie eine Waldorfschule besucht, weil meine Mutter es sich nicht hätte leisten können. Viele Jahre später entdeckte ich, dass es so etwas wie Sternenkinder gibt. Ich glaube, ich war wohl eines davon – jemand, der immer alles wusste. Das war auch der Grund, warum ich eine Klasse übersprungen habe. Ich fand das alles so langweilig, und so war ich gerade elf, als ich in die Oberstufe kam. Doch bekam ich stattdessen die wunderbare Gelegenheit, ein Jahr auf einem Bauernhof zu verbringen, nur von Tieren umgeben. Ich war damals etwa 14 Jahre alt, und wir waren alle evakuiert worden. Ich half auf der Farm, was viel mehr Spaß machte als die Arbeit im Haus. Mein älterer Bruder war bereits von den Deutschen zur Zwangsarbeit in den Rüstungsbetrieben eingezogen worden. Es war eine schwere Arbeit. Viele junge Männer gingen in den Untergrund. Als wir schließlich in unser Haus zurückkehrten, stand es noch, aber alle Fenster waren zerbrochen und die Pflanzen wuchsen in das Haus hinein.
Den Weg suchen
Viele Jahre lang wusste ich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich fragte meine Mutter, aber sie sagte nur, das müsse ich selbst herausfinden. Also begann ich eine Ausbildung zur pharmazeutisch-technischen Assistentin, die zumindest etwas mit Heilen zu tun hatte. Allerdings machte ich damit einige schlechte Erfahrungen. Gerade zu dieser Zeit eröffnete mein Bruder ein Heim für behinderte Kinder1, und so dachte ich, dass ich dort vielleicht ein halbes Jahr arbeiten sollte. Ich stellte bald fest, dass ich nicht genug wusste, um dort zu arbeiten, also ging ich nach Eckwälden in Deutschland, um das erste Jahr der Ausbildung in Heilpädagogik zu beginnen. Es waren 15 Studierende und 15 Lehrende. Viele von ihnen hatten Rudolf Steiner persönlich gekannt. Bevor ich jedoch abreiste, hatte ich ein halbes Jahr lang bei meinem Bruder gearbeitet und sein Kinderheim kennengelernt. Karl König besuchte meinen Bruder und seine Frau, um sie zu fragen, ob sie nach Südafrika ziehen würden. Doch in ihrer Einrichtung gab es bereits eine ganze Reihe von Häusern, in denen schwerstbehinderte Kinder lebten. Ich beschloss, das Kinderheim zu übernehmen, wenn sie nach Südafrika gehen würden. Allerdings nicht unter der Schirmherrschaft von Camphill, sondern als allgemeines anthroposophisches Heim.
Von Eckwälden ging ich direkt nach Dornach, denn im April begann die Eurythmieschule von Lea van der Pals. Mein anderer Bruder hatte in Basel geheiratet. Ich habe immer gesagt, ich würde nur ein Jahr machen, das sollte reichen. Damals hat man aber nur künstlerische Eurythmie gemacht und sich nicht mit Heileurythmie oder so etwas beschäftigt. Also bin ich immer zu Frau de Jaager gegangen, die in dem Haus neben dem Goetheanum wohnte. Von ihr habe ich am meisten gelernt. Sie hatte 16 Jahre lang die allererste Eurythmieschule in Dornach geleitet. Und war Niederländerin, was für mich immer erfrischend ist. Ob es klassische Heileurythmie war, weiß ich nicht, aber sie hatte Methoden, mit denen man einen schmerzenden Bereich behandeln konnte. Es war eine andere Art als die offizielle. Die übliche Version gefiel mir überhaupt nicht. Ich empfand sie als viel zu automatisch und klischeehaft. Sie dachte ganz anders über die Dinge. In diesem ersten Jahr merkte ich, dass ich noch viel lernen musste, und so blieb ich in Dornach. Das Gleiche passierte im nächsten Jahr, und so machte ich noch ein drittes und ein viertes Jahr. Damals dauerte die Heileurythmie-Ausbildung nur sechs Wochen. Jetzt dauert sie anderthalb Jahre. Danach musste ich alles, was ich in der Heileurythmie gemacht habe, selber ausführen. Ich wollte mich ganz auf meine eigene Intuition verlassen. Ich habe einmal an einer Tagung über verschiedene anthroposophische Therapien in Australien teilgenommen und mit einer Gruppe von etwa 80 Personen Eurythmie gemacht. Hinterher haben sie sich bei mir sehr bedankt, weil ich sie wieder mit ihrer eigenen Intuition verbunden hatte.
Amerika
Nach meiner Ausbildung habe ich eine Zeit lang in einem Kinderheim am Bodensee gearbeitet. Über Beziehungen aus dieser Zeit kam ich zu einem Haus in Amerika, wo ich dann hinzog. Zunächst arbeitete ich in Chicago in einem Heim für weiße verhaltensauffällige Kinder. Mein Haus befand sich jedoch in einem schwarzen Viertel, sodass ich nur an den Wochenenden dorthin nach Hause kam. Durch die Esperanza-Schule konnte ich eine Green Card beantragen, aber damit hatte ich noch keine Arbeitserlaubnis. Während ich darauf wartete, arbeiten zu können, habe ich das gekaufte Haus komplett renoviert. Ich wollte einen Eurythmieraum, den ich im obersten Stockwerk einrichtete. Ich hatte ein wunderbares kleines Haus mit einem großen Gemüsegarten. Alle Nachbarn waren sehr freundlich. Als sie sahen, was ich tat, wollten sie auch Gemüse anbauen, und nachdem ich mein ganzes Haus gestrichen hatte, taten sie dasselbe an ihren eigenen Häusern. Das passiert, wenn jemand die Initiative ergreift.
Da ich in einem schwarzen Viertel lebte, hatte ich Kontakt zu den schwarzen Handwerkern und anderen Menschen in der Umgebung. Eines Tages hatte ich eine Reifenpanne in der Nähe meiner Wohnung, die sich direkt neben einer Tankstelle befand. Ich ging zu einem schwarzen Mann, den ich kannte. Er sagte, er würde helfen, bat mich aber, in der Zwischenzeit die Autos zu betanken. Er erzählte mir, dass er 36 Jahre alt sei und versuche, zur Schule zu gehen, um richtige englische Grammatik usw. zu lernen, aber es falle ihm sehr schwer. Ich bot ihm gerne meine Hilfe an. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass er der größte Drogendealer in Chicago und Detroit war. Er wurde von der Polizei selbst an der Tankstelle angestellt als Lockvogel für andere Leute, die Drogen kaufen wollten. Er wurde dann eingesperrt, und ich begann, ihn im Gefängnis zu besuchen. Da wurde mir klar, wie archaisch das gesamte Gefängnissystem war. Ich konnte aus erster Hand beobachten, wie das Leben in einem US-Gefängnis aussieht. Auch uns Besuchende behandelte man, als ob wir Lepra hätten, weil man Abschaum wie ihn besuchen wollte. Er wusste noch nicht, was Eurythmie ist, aber er hatte seinen Mitgefangenen von mir erzählt. Sie wollten von mir lernen und so bat er mich, mit dem Direktor des Gefängnisses zu sprechen. Daraufhin erhielt ich die Erlaubnis, einmal im Monat dorthin zu fahren. Es war eine wunderbare Erfahrung für mich. Viele Leute fragen mich, ob ich keine Angst hatte. Ich kann nur sagen, dass ich nicht mit dem Gedanken dorthin gegangen bin, Angst zu haben, sondern nur mit dem Gedanken, etwas beitragen zu können. Es gibt Menschen, die haben noch Zeit auf dieser Welt; es kommt nicht oft vor, dass Menschen Zeit haben, aber in der Eurythmie ist es gut, wenn man viel Zeit hat. Wir müssen experimentieren und etwas einmal auf eine Art und Weise machen und dann auf eine andere Art und dann wiederum auf eine dritte Art. Die meisten von ihnen hatten noch nie von Poesie oder Tönen gehört. Sie hatten einen sehr schlechten Bildungshintergrund und ein schwaches Selbstbild. Bald merkten die Leute, dass man mit Eurythmie etwas erreichen kann; die Gefangenen selbst sagten allen, wenn sie so etwas in ihrer Jugend gehabt hätten, wären sie nie im Gefängnis gelandet.
Dawud (den Truus später heiratete, um ihm ein Zuhause und eine Bezugsperson zu geben, da die Anpassung nach der Entlassung schwer ist für langjährige Gefangene; Anm. d. A.)2 lernte ich etwas später kennen. Das war ungefähr um die Zeit, als meine Mutter starb. Von ihr erbte ich ein wenig Geld, das es mir ermöglichte, ein Jahr lang für eine Organisation zu arbeiten, die im Gefängniswesen tätig war. Auf diese Weise erhielt ich Zugang zu einem der größten Gefängnisse des Landes mit 5000 Insassen. Man könnte wohl sagen, dass ich eine Art Seelsorgerin war. Das war die offizielle Bezeichnung. Eines Tages kam jemand und sagte: «Ich stehe nicht auf deiner Liste. Aber ich habe geträumt, dass ich heute jemanden treffe, der in meinem Leben sehr wichtig sein wird. Ich dürfte eigentlich nicht einmal hier sein.» Das war Dawud. Ich fragte ihn, warum er in diesem Fall hier sei. «Ich glaube», sagte er, «ich bin hier, um Gott zu dienen.» Dann fragte er mich, was ich hier mache, und ich sagte, dass ich vielleicht aus demselben Grund hier sei. Das war unser erstes Treffen. Bald führte ich mit ihm Gespräche, die ich mit niemandem sonst in Amerika führen konnte, zum Beispiel über Viktor Frankl. Er wusste alles über Viktor Frankl, der ihm zum Helden wurde. Ich hatte schon immer mit Leuten über seine Arbeit sprechen wollen, aber niemand hatte je von ihm gehört. Aber Dawud hatte alle seine Werke gelesen. Er hatte Zugang zu Frankls Büchern gehabt im vorigen Gefängnis, dem ein reicher Geschäftsmann seine Bibliothek vermacht hatte. Er hatte Shakespeare und weitere Literatur gelesen, die er während seiner Schulzeit nie hatte lesen wollen. Er zeigte mir seine Zeichnungen und viele fantastische, große Bilder, die er gemalt hatte. Er hatte einige verkaufen können, um sich im Gefängnis etwas Geld zu verdienen. Außerdem spielte er klassische Musik auf der Gitarre. Niemand sonst im Gefängnis spielte so etwas; sie spielten alle nur Rockmusik. Aber er war von klein auf der klassischen Musik verfallen.»
Das Treffen von Truus und Claartje
Claartje «Truus’ ganze Familie leitete in den Niederlanden ein Kinderheim, aber ich hatte Truus selber nie getroffen, weil sie in Amerika war. Eine wohlhabende Freundin wanderte nach Amerika aus und lud mich zu Besuch ein. Nach einer Woche fuhren wir auf eine anthroposophische Konferenz in Detroit. Ich folgte ihnen mit einem anderen Flug, der erst mit einiger Verspätung ankam. Im Flughafen stand nur eine einzige Person, um Konferenzteilnehmer zu treffen. Ich sah sie dort ganz allein und sagte mir: «Das ist meine Schwester hier drüben!» Ich hatte in diesem Leben zwar niemals eine Schwester, aber es war auf jeden Fall Truus. All dies ging mir durch den Kopf, noch bevor Truus mich überhaupt gesehen hatte. Während meines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten traf ich die Frankens3, die mich nach Südafrika einluden. Sie schrieben mir, dass sie eine Eurythmistin suchten, weil die Schule dringend eine brauchte. So gingen Truus und ich gemeinsam nach Südafrika. Wir waren froh, einander zu haben, als wir auf Mooiplaats (dem Bauernhof, auf dem die Schule Rosemary Hill steht) lebten, da alle anderen immer übers Wochenende wegfuhren. Aber wir waren nicht glücklich an der Max-Stibbe-Schule, also zogen wir nach Johannesburg.»
Truus «Da ich Apothekerin gelernt hatte, konnte ich auch für Guy Wertheim-Aymes4 arbeiten, meist an Wochenenden oder in den Ferien. Cindy Spencer hatte ein großes Anwesen in Rivonia, und als ich einzog, wollte sie dort unbedingt mit Aktivitäten beginnen. Kurze Zeit später entstand das erste Weihnachts-Regenbogenprojekt. Es brachte uns in Kontakt mit Menschen aus Soweto, die ihre Kinder zu diesem Anlass mitbrachten. 20 Kinder nahmen teil, 17 davon schwarz und drei weiß. Damals war es erstaunlich, dass drei weiße Kinder überhaupt dabei waren. Christine Howard war sehr aktiv in dem Projekt und arrangierte auch ein allgemeines pädagogisches Treffen, bei dem Menschen aus staatlichen Schulen mit einigen aus der Waldorfgemeinschaft zusammenkamen. Dort lernte ich Carol Liknaitzki5 kennen und wir hatten die Idee, ein Zentrum für Lebenskunst zu gründen, was schon immer mein Ding war – die Lebenskunst. Ich trug gewisse Bilder in mir von einem ätherischen Strom, der durch den Ort floss, an dem ich lebte – ein Gefühl, als ob ich ein Baby erwartete. Es fühlte sich an diesem Ort an wie ein Strom, der durch mich vom Himmel herabkam, um das zu bewirken, was wir zu tun hatten. Wir mussten lange darüber nachdenken, wie wir es angehen wollten. Wir hatten durch Pauline Scott6, deren Sohn in der Untergrundbewegung war, Verbindungen zum ANC (African National Congress). So konnten wir mit den Menschen in Alexandra in Kontakt kommen. Alexandra war für uns natürlich viel zugänglicher als das riesige Soweto. Allerdings haben wir ein halbes Jahr gebraucht, bis die Leute uns endlich willkommen hießen.»7
Eine soziale Welt
Bald nach der Gründung des Baobab College im Jahr 1991 ging Truus auf eine Fundraising-Reise nach Europa. Sie hatte ihre Netze im Vorfeld weit ausgeworfen. Als sie nach Südafrika zurückkehrte, lag ein vollständiger Vorschlag für den Bau einer Lehrendenbildungseinrichtung und eines neuen Kindergartens sowie ein Ausbildungsplan über einen Zeitraum von drei Jahren vor, der vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschland (BMZ) finanziert war. So wurden wir zum ersten vom BMZ-finanzierten Waldorfprojekt wie auch zu Empfängern des ersten durch die Freunde der Erziehungskunst verschickten Zivildienstlers.
1993 kehrte Truus in die USA zurück, arbeitete jedoch weiter an der Finanzierung der Arbeit in Südafrika. Diese Arbeit brachte sie auf internationaler Ebene nicht nur mit Geldgebenden in Kontakt, sondern auch mit Menschen, die sich in ähnlichen Bereichen und Projekten engagierten. Als Truus auf der Goetheanum-Lehrerkonferenz 2000 Ute Craemer und Ben Cherry traf, wurde klar, dass diese Sozialarbeit, die aus lauter einzelnen Projekten auf lokaler Ebene bestand, in dem sich in Vorbereitung befindenden Weltsozialforum keinen passenden Rahmen finden würde. Es war jedoch ebenso klar, dass ein internationales Forum genau dieser Art und Organisation erforderlich war, damit auch diese Initiativen eine Stimme hätten. Es handelte sich um das Weltsozialforum 2001, das zum ersten Mal in Porto Alegre tagen sollte – der Gegenentwurf zum Weltwirtschaftsforum (WEF), das 1999 als ‹Schlacht von Seattle› weltweit berüchtigt wurde. Es war das erste Mal, dass die Zivilgesellschaft sich bemerkbar machte, indem sie sich gegen die unheilige Allianz von Wirtschaft und Regierung wehrte. Alle in unserer Branche waren von diesen Ereignissen stark ergriffen. Wer sollte den Prozess der Globalisierung kontrollieren? Und was sollte mit den vielen Opfern dieses Prozesses geschehen?
Wieder zu Hause
Zurück in den USA veranstaltete Truus in diesem Sinne lokale Sozialforen, an denen sich eine ganze Gruppe von Menschen beteiligte. Ihre persönliche Situation wurde jedoch nicht einfacher, und sie hatte oft Mühe, über die Runden zu kommen. 2016, mit 86 Jahren, erzählte sie mir: «Ich habe jetzt die Schule, in der ich auch gewohnt habe, verlassen, weil eine Nachhilfelehrerin angestellt wurde, die mir gesagt hat: Alle Kinder aus den Klassen sind für mich und du kannst die Kindergartenkinder haben. Sie sagten, ich sei nicht ausreichend qualifiziert. Heutzutage erwarten sie, dass die Leute einen Bachelor-Abschluss haben. Ich habe keinen Bachelor. Ich habe nur fünf Jahre Geisteswissenschaft studiert. Trotzdem schafft man es doch immer irgendwie.» Zum Glück erkundigten sie und Claartje sich bereits nach den Bedingungen, um in die Niederlande zurückzukehren und dort Hilfe von den Sozialdiensten zu beantragen. So zog Truus ein paar Jahre später tatsächlich zurück. Doch in der Zwischenzeit arbeitete sie noch an mehreren Orten, darunter in China, richtete eine Website für ihre eurythmische Arbeit ein, die sie in den Niederlanden fortsetzte, und blieb bis zuletzt aktiv.
Nicht lange nach ihrer Rückkehr starb ihre große Freundin und Stütze Claartje Wijnbergh im Oktober 2020, aber Truus hatte wieder Kontakt zu ihrer Familie und ihrer Nichte Fiona, die bei ihr war, als sie starb, einen Tag nachdem sie die letzte Salbung der Christengemeinschaft erhalten hatte.
Alle Bilder Truus Geraets
Footnotes
- Das Camphill Christopherus in Amerpoort.
- Einzelheiten dazu in ihrem Buch ‹Love in Action›, Trafford Publishing, 2010.
- Annelie und Huibert Franken, Mitbegründer der Max-Stibbe-Schule außerhalb von Pretoria, die heute Waldorfschule on Rosemary Hill heißt.
- Direktor von Pharma Natura, damals Vertreter von Weleda und Wala.
- Carol Liknaitzki leitete die frühkindliche Ausbildung im College und war zusammen mit ihrem Mann David im Leitungsgremium des Centre for the Art of Living.
- Pauline Scott ist seit Anfang der 1960er-Jahre Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Johannesburg. Ihr Sohn, Simon Radcliffe, war an der Gründung von schwarzen Gewerkschaften beteiligt. Dies führte dazu, dass er wegen Hochverrats für einige Jahre inhaftiert wurde. Während dieser Zeit wurde seine Mutter eine Aktivistin des Detinee’s Parents Support Committee.
- Die Geschichte der Waldorfprojekte in Alexandra und Soweto, Madietane und Winterton sowie zahlreicher Kindergärten hat Truus in ihren zwei Büchern ‹Stars and Rainbows over Alexandra› und ‹Inkanyesi› sowie in meinem eigenen eher historischen Bericht ‹Integrating South Africa’s Waldorf Schools› erzählt.