Trans meint ‹darüber hinaus›

Wir wollen über Vorurteile hinausgehen. Sich miteinander auszutauschen, hilft. Hier einige Perspektiven auf das Thema.


Heilige Freiheit

Mein Leben hat mich über Grenzen geführt; ich lebe und lebte in vielen Welten – im konservativen Texas und in der kosmopolitischen Schweiz, in kumpelhaften Sportteams und spirituell sensiblen Gemeinschaften. Einige dieser Welten sind nur einen Klick voneinander entfernt. Auf Instagram sehe ich einen lieben Transfreund, der die Installation eines von ihm entworfenen Autobahnplakats feiert, auf dem zu lesen ist: «Trans-Menschen sind heilig.» Auf X sehe ich einen explizit anthroposophisch orientierten Account, der eine Waldorfschule dafür beschimpft, dass sie eine nicht binäre Geschlechtsoption in ein Anmeldeformular aufgenommen hat. Der Autor beschuldigt die Schule, «den Mythos aufrechtzuerhalten, dass wir im falschen Körper geboren werden können». Ich würde nicht behaupten, dass wir karmisch dazu verdammt sind, dort zu leben, wo wir geboren wurden. Es ist eine heilige Freiheit, sich bewegen zu können, obwohl das nicht immer und für alle möglich ist. Was wäre, wenn das auch für unseren Körper gilt? Ich habe das Glück, mich in meinem Körper wohlzufühlen und Grenzen leicht zu überschreiten, aber ich vermute, dass es viele Menschen gibt, die sich nach einem Zufluchtsort sehnen und die anderswo für ihre Seele eine Heimat finden. Nennen wir es eine irdische Seelenwanderung. Charles Cross


Es wird offenbar

‹Empfänglichkeit› und ‹Produktivität› sind polare Tugenden der Seele, sagt der Philosoph Karl-Martin Dietz und nennt sie im gleichnamigen Buch ‹Arbeitsprinzipien des Geistes›. Es ist das Weibliche und Männliche in der Seele. Beides zu steigern – die Sensibilität, die im O und A klingt, und die Schaffenskraft, die nach I und E tönt – und dabei die Balance zu halten, macht menschlich. Dann konnte und durfte ich verfolgen, wie ein ferner Bekannter von Johannes zu Johanna wurde. Gang, Hautbild, Gestik, ja mit Übung selbst die Stimmlage, wechselten die Waagschale. Was es heißen mag, als Mann die weiblichen Saiten der Seele zu spielen, das fährt bis in die Knochen, wenn man Zeuge solchen Wechsels wird. Vieles tun wir stellvertretend für andere, lernen so voneinander, füreinander – vielleicht auch hier. Ich vermute, den Weg zum Ich finde ich, wenn ich, wie es im roten Fenster des Goetheanum leuchtet, als Frau den Stier, als Mann die Löwin in mir wecke. Jetzt gibt es Menschen, die zeigen es. Wolfgang Held


Keine Vorstellungen

Als ich 16 Jahre alt war, erzählte ich meiner Mutter, dass ich lieber eine Frau sein möchte und nicht damit klarkomme, ein Junge sein zu sollen. Sie schaute mich an und sagte: «Kein Problem!» Danach geschah nichts. Jahrelang. Ich hätte mir ihre Hilfe gewünscht, weil ich selbst nicht wusste, wie ich damit weitergehen sollte. Wahrscheinlich wusste sie das auch nicht. Wahrscheinlich hatte sie keine Vorstellung, kein Bild, dass so etwas möglich und machbar ist. Deshalb hat sie vielleicht auch meine Not nicht erkannt. Sie war wie blind für mein Bedürfnis nach einem anderen Geschlecht. Ich weiß nicht, ob sie es als Spleen abgetan hat. Bis heute hat sie mich nie wieder darauf angesprochen, als würde sie keine Sprache dafür haben. Und noch fast sieben weitere Jahre habe ich geschwiegen und versucht zu akzeptieren. Langsam finde ich meine Sprache und meinen Ausdruck. Frey


Übergeschlechtlich

«Aus der Ungeschlechtlichkeit kommt die Geschlechtlichkeit. Aus dem Männlich-Weiblichen kommt das Männliche und das Weibliche. Dieser Unterschied wird wieder untertauchen in der gemeinschaftlichen, objektiven geistigen Außenwelt, wenn der Mensch sein Selbst finden wird im großen Universum, […], das kein Geschlecht hat. […] Wenn dieser Gedanke ganz und gar lebt, sodass er die Kultur durchdringen kann, […], dann ist die Sonne aufgegangen. Dann ist von selbst gegeben die Zukunft unserer Kultur, […], und diese Kultur darf in der Außenwelt nichts tragen, was mit dem Geschlecht etwas zu tun hat. So gehen wir in Institutionen, in Einrichtungen ein, welche uns eine Kulturumgebung, […] zeigen, die […] für Mann und Frau dieselbe ist. […] So wird auch ein zukünftiges, natürliches Übergeschlechtliches hervorgehen aus dem jetzigen Übergeschlechtlichen, das der Mensch selbst schafft. […] Das, was der Mensch schafft als ungeschlechtliche Kultur, wird später schaffen eine übergeschlechtliche Natur.» Rudolf Steiner (Aus: Das Wesen des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft. GA 68d, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2022, S. 64 ff.)


Zwischen Innen und Außen

Ich habe mich nie mit meinem Geschlecht identifiziert. Mein inneres Wesen und die Bedingungen, unter denen es sich manifestiert, sind zwei verschiedene Sachen. Mein Körper, meine Augenfarbe, meine Muttersprache, mein Heimatland – das sind die Bedingungen, die ich vorgefunden habe, als ich auf die Erde kam. Vielleicht finde ich sie toll, vielleicht unbefriedigend oder störend, vielleicht lerne ich, sie zu akzeptieren, zu lieben, oder ich will sie verändern. Im Laufe seiner Entwicklung bis hin zum Materialismus hat der Mensch gelernt, sich mit seinem Körper zu identifizieren. Wenn die Frage nach der Beziehung zwischen dem Inneren und dem Äußeren in unserer Zeit immer wichtiger wird – ist das nicht ein Zeichen dafür, dass sich diese Bindungen lockern? Macht sich das Ende des Materialismus durch eine Veränderung der Beziehung zum Körper bemerkbar? Jedenfalls geht es sicherlich darum, zu lernen, den anderen in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen. Und schließlich, wie die Sängerin Zaho de Sagazan kürzlich sagte, als sie nach ihrem Gender gefragt wurde: «Genauso wie ich davon überzeugt bin, dass wir alle bisexuell sind, bin ich auch davon überzeugt, dass die Wahrheit in einer Welt liegt, in der es kein Gender mehr gibt.» Louis Defèche


Weiterblicken

Ich möchte an dieser Stelle auf die Arbeiten anderer Autoren und Autorinnen sowie Redaktionen hinweisen, die auf diesem Fragenfeld mit Offenheit, Neugier und Nüchternheit bereits Gedanken- und Gesprächswege gebahnt haben. Wer sich ernsthaft in die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit diesen Fragen unserer Zeit begeben will, findet hier aktuelle oder anthroposophische Gesichtspunkte. Bilden wir uns so breit wie möglich! Franka Henn


Literaturhinweise

Will der Sohn sich die Nägel lackieren, geht das Kopfkino los. In: Fritz+Fränzi – Das Schweizer Elternmagazin, Ausgabe: Selbstfürsoge, Mai 2024, S. 38–43.

Dagmar Pauli, Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und (ganz) trans*normale Sachen. C. H. Beck, 2023, 272 Seiten.

Info3, Ausgabe: Schöpferische Polaritäten; Medien – Gender – Verbot oder Freiheit, Oktober 2023, info3.de.

Erziehungskunst, Ausgabe: Queer, November 2023.

Info3, Ausgabe: Innenräume; Traumata – Beziehungen – Identitäten, Mai 2021.


Titelbilder Das fertige Selbstporträt von Frey und Frey selbst, Fotos: Gilda Bartel

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