Torusto

Das verlorene Wort

Im Sommer 2021 arbeitete die spanische Künstlerin Ester G. Mecías als Artist in residence in Dornach. Die derzeitige Ausstellung im Foyer des Goetheanum zeigt die Inhalte dieser Zeit und ist bis 30. Mai 2022 täglich von 9 bis 20 Uhr zu sehen.


Augen schauen die Betrachtenden unvermittelt an. Intensive Blicke begegnen uns in der Ausstellung ‹Torusto – Das verlorene Wort› auf großformatigen fotografischen Porträts. Der Bereich um Nase, Mund und Kinn ist von einer Maske bedeckt. Es sind aber keine OP-Masken, wie wir sie zwei Jahre lang tragen mussten, sondern sie sind aus Bienenwachs, in goldenem, sonnenhaftem Farbton. Von Bienen geschaffen, die in Gemeinschaft leben und fähig sind, selbst Wärme zu erzeugen. Obwohl die Masken aus lebendigem Material sind, ist der Kontrast zum anderen Teil des Antlitzes deutlich wahrnehmbar. In den Gesichtern, besonders den Augen, sind wahres Leben, Individualität, Träume und Schmerz, Lachen, Weinen, Hoffnungen und Wünsche zu sehen. Der bedeckte Teil des Gesichtes erscheint unlebendig. In diesen Porträts wird das Schweigenmüssen verstärkt durch das Verdecktsein des Mund- und Nasenbereichs. Diese Frauen dürfen nicht sprechen.

Die Ausstellung ist eine Momentaufnahme, Ausschnitt eines Forschungsprozesses. Zunächst wurde den Frauen eine Nasen-Mund-Maske aus Gips aufgetragen. Gips ist eine nasse und kalte Masse, die am Gesicht schnell fest und spröde wird – ein bedrängender technischer Prozess hin zum Kalten und Verhärtenden. Ganz anders war das darauf folgende Auftragen des Bienenwachses. Ein warmes, duftendes, Material, das sich ebenso den Formen des Gesichtes anpasst. Durch die Körperwärme wird es noch weicher, wärmer und formbarer. Die Heilkräfte des Bienenwachses sollten den vorherigen Vorgang wiedergutmachen und ausgleichen, das Wachs sollte helfen, das zuvor Erlebte bewusst erfassen zu können.

Diese ‹Bilder› berühren und haben eine ästhetische Schönheit. Und doch: In beiden Fällen, Gips wie Bienenwachs, ist ein Sprechen nicht möglich. Es ist die Verhinderung des Sprechens, des Sich-selbst-Ausdrückens. Ist es eine Aufforderung für eine innere Arbeit, ein inneres Wahrnehmen, eine Anregung, die Aufmerksamkeit ins Innere zu richten? Ist es ein Vorwurf, dass uns das Maskentragen in den letzten zwei Jahren aufgezwungen wurde? Was bedeutet es, wenn ich nicht sprechen darf, wenn ich die Gerüche und Düfte nicht wahrnehmen kann? Es sind Fragen, für jeden Menschen andere, individuelle Fragen.

Ester G. Mecías ist mit 25 Frauen auf die Suche gegangen. Der Prozess ist in der Ausstellung dargestellt. Antworten werden nicht angeboten, nur eine Einladung, mitzugehen, Fragen zu vernehmen oder selbst zu stellen. Ihre Erfahrungen haben die Frauen niedergeschrieben oder berichtet. Besuchende können sie lesen oder anhören, aber nur in der jeweiligen Muttersprache der Teilnehmenden. Die Künstlerin will darauf hinweisen, dass Frauen oft das Sprechen verboten wurde. In der Schweiz zum Beispiel durften Frauen erst ab 1990 wählen. Die deutsche Sprache verwendet für Wählen die Wörter ‹Stimme abgeben›.

Viel mehr jedoch stellt Mecías Fragen, die unabhängig vom Geschlecht sind. Was geschieht mit uns Menschen, wenn wir, von Masken bedeckt, von Sinneseindrücken abgeschnitten sind, wenn wir uns nur über die Augen wahrnehmen können und kommunizieren dürfen? Was geht dabei verloren? In Mecías Arbeiten sind Nase und Mund wie vom Menschen getrennt. Denn alle Masken aus Gips und Bienenwachs sind separat ausgestellt. Sprechen und Riechen finden so außerhalb des Menschen statt. Der Mensch ist nicht mehr beteiligt. Sie sind wie ein toter Abdruck, eine Art Spiegelbild des Eigentlichen. Wie kann das sein? Wo finden wir so etwas heute in der Gesellschaft, können wir uns fragen. Sind wir uns solcher Momente bewusst? Der Fragenkreis geht weiter, wird größer und individuell, so wie die Geschichten und Erlebnisse der teilnehmenden Frauen. Jeder Besucher und jede Besucherin kann das für sich selbst entdecken. Es sind fragende und fordernde Augen, die uns im Goetheanum, im Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft, anschauen.


Bild Die Künstlerin Ester G. Mecías und die Kuratorin Barbara Schnetzler. Foto Xue Li

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare