In Peter Petersens Psychotherapie wird der Therapierende zum Kunstschaffenden und die Wissenschaft zur Dienerin der Kunst. Eine Befreiung im doppelten Sinne. Ein Buch über Therapie und Kunst und ihre Seinsbedingungen.
Welche Rolle spielt Kunst in therapeutischen Prozessen? Wie gestalten sich therapeutische Beziehung und Prozess? Und wie wirken sich strukturelle Rahmenbedingungen auf den Heilungsprozess aus? Mit diesen Fragen befasst sich der Psychotherapeut Peter Petersen in seinem Buch ‹Der Therapeut als Künstler›. Dabei entwickelt er einen Gesundheitsbegriff, der Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern als lebendigen Prozess des einverleibten Krankseins begreift. Gesundheit bedeutet Leidensfähigkeit. «Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei!» (Paul Celan). Kunsttherapeutische Verfahren können im Sinne Paul Celans eine tiefe Heilung bewirken.
Das Vermächtnis eines Psychotherapeuten
Wenn man durch die Seiten des Buches streift, findet man sich gleichsam in einer Bibliothek wieder. Eine behagliche Atmosphäre, ein Feuer knistert, endlose Regale von Büchern und ein freundlicher Herr im Lehnsessel, der in aller Ruhe nach diesen Büchern greift, aus ihnen zitiert und sich erinnert. Dabei blickt er Ihnen immer wieder warm und ruhig in die Augen. Wo wir sind? Im Kopf des Autors selbst.
Mit ihm tauchen wir ein, in therapeutische Gespräche, ziehen durch die abendländische Kunst- und Geistesgeschichte, in die Gedanken unzähliger Schriftsteller und Künstlerinnen. Eine eigene Begriffswelt baut sich auf, gewachsen im lebenslangen Schaffen von Peter Petersen. Eine Welt, die nicht gleich zugänglich wird und alles andere als systematisch ist. Ein Kaleidoskop vieler Gesichtspunkte aus dem Kontext von Kunst und Psychotherapie. Und vielleicht enthält das Buch sogar alle Wesentlichkeiten, die für das Wirken von Peter Petersen von Bedeutung waren. Die oberste Instanz in diesem Buch jedenfalls bleibt das Subjekt des Autors selbst. Immer wieder setzt es sich über das Dogma wissenschaftlicher Methodik hinweg. Ein Vermächtnis aus dem lebenslangen Schaffen eines Arztes und Psychotherapeuten.
Der Weg des bewussten Leidens
Inhaltlich und strukturell befindet sich das Buch in einem Schwebezustand, ähnlich wie es Petersen für die Begegnung von Therapeut und Patient oder Patientin beschreibt. Diesem Verhältnis widmet Petersen den ersten Teil des Buches.
«Wenn du einen Freund haben willst, so zähme mich», sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen. «Was muss ich da tun?», fragt der Prinz und der Fuchs antwortet: «Du musst sehr geduldig sein.» Der therapeutische Begegnungsprozess lebt vom genauen Wahrnehmen, Zeithaben, Einander-Innewerden. Der Therapeut oder die Therapeutin muss in einem Zustand innerer Leere vor allem eines: zuhören. So entsteht eine existenzielle Begegnung, in der Sympathie und Antipathie keine Rolle spielen. Daraus kann ein neuer Impuls erwachsen, der leise eine Wandlung im Leben des Patienten und der Patientin ankündigen mag.
Mensch sein heißt, immer wieder Prozesse des Schmerzes und der Wandlung zu durchleben. Der therapeutische Weg führt durch den Schmerz hindurch, bis er sich verwandelt und ins Leuchten gerät (Nelly Sachs). Dafür sind bestimmte Entwicklungsphasen charakteristisch. Nach der anfänglichen Konfrontation des Patienten mit sich selbst, folgt eine tiefe persönliche Erschütterung, durch die der Patient seiner selbst gewahr wird. Diese Erfahrung kann schließlich zum Anstoß eines Verzichts werden. Er oder sie gibt hergebrachte Verhaltensmuster und Gewohnheiten auf. So kann eine persönliche Wandlung initiiert werden. Ohne Verzicht keine Wandlung – eine anthropologische Gesetzmäßigkeit.
Zentral für den zweiten Teil des Buches, sowie für den Autor selbst, sind seine Gedanken zu einem umfassend integralen Therapiekonzept. Dessen Prämisse besteht darin, dass jeder Patient und jede Patientin eine eigene, ihm oder ihr entsprechende Methode benötigt. Dies erfordert die methodische Beweglichkeit des Therapeuten und widerstrebt einer schablonenhaften Therapieform, die ihre Antworten und Methoden vorab festsetzt.
Das integrale Therapiekonzept umfasst zudem Überlegungen zu den strukturellen Gegebenheiten therapeutischer Gemeinschaften. Vernetzung, Selbstverwaltung, Konsensprinzip und bedürfnisgerechtes Einkommen. Überbau dieser strukturellen Gesichtspunkte wird das Verständnis von Therapie als Heilkunst.
Kunst trägt die Verbindung zum Herzen
Petersen entwickelt ein komplexes Bild von Psycho- und Kunsttherapien, die nur durch die Kraft der Liebe wirken können. Die Wissenschaft allein ist eine Betrachterin ohne Herz. Medizin und Therapie aber müssen den Kräften des Herzens entspringen. Jeder Therapeut ist im Zustand der Aktion immer reiner Künstler. Ein Plädoyer für eine Synthese aus Kunst und Wissenschaft in der Tradition Leonardo da Vincis.
Erstmals 1987 herausgegeben, erscheint das Buch heute etwas aus der Zeit gefallen. Dennoch: In der Fülle tiefer Weisheiten und Lebensgesetze und der Feinfühligkeit des Autors besteht der universelle Wert des Buches. Eine anspruchsvolle Lektüre für alle Menschen, die Krankheiten als Chance der Selbstwerdung begreifen möchten.
Grafik: Fabian Roschka