Der im Frühling 2022 neu erschienene Band 70a der Gesamtausgabe ‹Menschenseele, Schicksal und Tod› enthält 20 Vorträge aus den ersten Kriegsmonaten 1914/15, die früher nicht publiziert wurden, da sie als Parallelvorträge betrachtet wurden und so eine Publikation nicht als nötig erschien.
Im Rudolf-Steiner-Archiv wurde aber im Zuge der Überprüfung der Gesamtausgabe entschieden, auch diese Vorträge zu publizieren. Sie sind in dichter Folge erschienen, weitere folgen noch.
Tausend Seiten Parallelvorträge – soll ich mir das antun? Habe ich nicht alle seit den 1960 erschienenen Bände der öffentlichen Vorträge gelesen? Das liegt Jahrzehnte zurück. Wiederholung – eine wunderbare Tugend der Schulung – kann doch nichts schaden. Also entschließe ich mich, den Band in die Hand zu nehmen. Und dabei werde ich immer wieder überrascht. Natürlich wiederholt sich vieles, aber mit welchem Nuancenreichtum der Aussagen, wie wird immer wieder neu formuliert mit kleinen und größeren Abweichungen. Auch Neues erscheint, das in keinem der bisherigen öffentlichen Vorträge vorliegt. Man spürt beim Lesen geradezu, dass wir an einem bestimmten Ort in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz oder in Tschechien sind, dass ein bestimmtes Publikum auf die Ausführungen Rudolf Steiners lauscht.
Bei der Lektüre stößt man auf manche Aussagen, die deutliche Erweiterungen zu Ausführungen anderer Vorträge sind. Ein Beispiel: Am 18. Juni 1915 spricht Rudolf Steiner in Köln ausgiebig über Volksseelen. Dabei geht er in der Differenziertheit der Aussagen über das hinaus, was im Volksseelenzyklus fünf Jahre früher geschildert wurde. «Alles dasjenige, was als italienische Kultur zutage getreten ist, ist – vergleichsweise gesprochen – der Ausdruck eines Wechselgespräches zwischen der italienischen Volksseele und der Empfindungsseele der einzelnen Angehörigen des italienischen Volkes. Und alle Einseitigkeit, aber auch alle Größe der italienischen Entwicklung beruht darauf, dass das Glied des Seelenlebens, die Nuance des Seelenlebens, die wir als Empfindungsseele bezeichnen, eben in einseitiger Weise inspiriert, impulsiert wird von den Kräften der italienischen Volksseele.» Dem folgt eine erhellende Ausführung über das Besondere der Empfindungsseele. Eigentlich fast willkürlich greife ich einen weiteren Satz aus den prägnanten Ausführungen über andere Volksseelen heraus: «Der russische Mensch sieht den Volksgeist über den einzelnen Seelen; er sieht ihn nicht in die drei charakterisierten Seelenkräfte hineinwirken, geschweige denn, dass ihm wirklich aufgehen könnte jenes intime Erleben des Geistes in der einzelnen Seele selbst, was gerade das Charakteristische des mitteleuropäischen Volksstreben ist.»
Rudolf Steiner bemüht sich in vielen dieser Vorträge der ersten Kriegsmonate darum, auf die Qualitäten des deutschen Kulturlebens hinzuweisen und es gegenüber den Verleumdungen vonseiten der Kriegsgegner Deutschlands zu verteidigen. Es geht ihm dabei darum, überall die tieferen geistigen Impulse zum Erlebnis zu bringen. Man fühlt sich mitunter unangenehm an die peinlichen aktuellen, sich gegenseitig herabwürdigenden Auseinandersetzungen über russische oder ukrainische Kultur erinnert, die aufgrund der emotional geladenen Stimmung oft jede Objektivität vermissen lassen.
Anne-Kathrin Weise vom Rudolf-Steiner-Archiv hat in minuziöser Arbeit die zum Teil schlechten Nachschriften zu gut leserlichen Texten aufgearbeitet. Man kann gespannt sein auf die weitere Publikation noch nicht erschienener öffentlicher Vorträge.
Buch Rudolf Steiner, Menschenseele, Schicksal und Tod Rudolf-Steiner-Verlag, 2022