Die Wachheit richtet unser Wesen auf, wie eine kleine Flamme, die sich entzündet. Sie lebt eingehüllt in die Schichten, die sich vom wechselnden Grad unserer Wachheit aus entspinnen.
Ich bin heute Morgen aufgewacht. Wie jeden Tag meines Lebens. Auch wenn es nicht gerade am Morgen war, bin ich irgendwann aufgewacht. Wie weiß ich, dass ich heute Morgen aufgewacht bin? Was heißt ‹aufwachen›? – Bin ich denn wach? Wach werden, wach sein zeigt verschiedene Dimensionen unserer menschlichen Existenz. Es gibt Aufwachen. Aber auch Erwachen. Und ganz schlicht: Wachen.
Die Welt, so wie sie als Wahrnehmungsinhalt auf mich zukommt, ruft mich jeden Morgen auf zur ‹Wachheit›. Sie weckt das Bewusstseinslicht in mir. Sie grüßt mich wach. Oder küsst mich wach, wie es in Märchen heißt. Ich wache auf. Es gibt aber auch ein ‹Erwachen›, ein Ereignis, bei dem ich aus diesem Wachsein weiter erwache. Die kleine, fragile Flamme meines Wesenslichts wird entzündet. Aus mir, aus meiner Aktivität heraus. Erst jetzt weiß ich, was wach sein heißt, und dass es damit nicht aufhört. Es gibt auch ein ‹Wachen›, wo ich sowohl aus dem Aufwachen als auch aus dem Erwachen aufgerufen werde, wach zu bleiben.
Aufwachen oder Erwachen
Mehrere Male in einem Tag wacht ein neugeborenes und noch ganz kleines Kind auf. Wenn man es beobachtet, sieht man einen langsam sich entrollenden Prozess bis zu dem tastenden, behutsamen Gewahrwerden des ‹Es kommt mir etwas entgegen›. Dieses Empfinden ist das Urereignis des Tastens, der eigentliche Moment des Wachwerdens. Das Kind ruht vollständig in diesem tiefen, es tragenden ‹Es gibt etwas›, ein Etwas, das erst später seine vielen Namen findet. Oder letztendlich den einen, allumfassenden Namen: ‹Welt›. Als Kinder sind wir aber noch eingetaucht in den unverwechselbaren Glanz des ‹Es gibt etwas, das ist›.
Es ist genau das, was mir entgegenkommt, das mich durch den Tag trägt, das ich zum Einschlafen loslassen muss. Dann kann ich am Morgen die ursprüngliche Erfahrung der tastenden Gewissheit wiederfinden: ‹Die Welt ist da. Ich bin da.› Selten sind die Augenblicke, in denen ich den Prozess so aufhalten und verlangsamen kann, dass noch etwas von dieser urbildlichen Gewissheit aufglänzt. Wie das Gold der Morgenstunde, noch ehe der Tag anbricht. Wenn ich aufwache, entstehen zugleich innere Klarheit und Tagesbewusstsein. Die Welt ruft mich wach! Nicht die noch reine, in sich selbst gekehrte Welt des Noch-nicht-Bestimmten, sondern die Welt in ihren vielen Spielarten des Bereits-Bestimmten. Indem ich aufwache, fast simultan, tritt mir die Welt in Erscheinung. Sie wird sichtbar.
Immer wieder, wenn ich durch die ausgedehnten Salzwüsten im Zentrum Irans und über die alten Seidenstraßen fuhr, war ich fasziniert von dem Licht, wie es die aneinandergereihten, noch schlafenden Berggipfel wachrief und sie, ähnlich einem Tanzmeister, in zarten, bewegenden Farben in Erscheinung treten ließ. Wie jedes Mal eine Landschaft vom Licht zum Aufwachen eingeladen wurde und langsam ihren Zusammenhang wiederfand. Mir ist diese Ähnlichkeit mit den zu- und abnehmenden Bewegungen meiner flutenden, wachen Aufmerksamkeit während des Tages nur allzu gut bekannt. An diesem Wachsein kann es doch kaum einen Zweifel geben? Aufwachen und wissen, dass man wach wird,ist das nicht ein und dasselbe?
Die Frage stellt sich anders, wenn mir, mitten im Wachsein, eine ganz neue Art des Wachwerdens zuteilwird. Ich nenne es im Unterschied zu anderen Formen des Wachseins: ein ‹Erwachen›. Das ist nicht dasselbe wie die vertraute Wachheit, die ich meinem Aufwachen am Morgen im Austausch mit der Welt verdanke. Das Aufwachen hat seinen Rhythmus, seine Kurve, seine Zeitgestalt. Und seine Grenzen. Jeden Tag andere. Jeden Tag lerne ich, mich dazu zu verhalten.
Beim Erwachen geht es um ein Ereignis, das wie jedes Ereignis einmalig ist. Eine Wachheit, die sich ereignet, unabhängig von den Umständen. Erwachen kommt einer Epiphanie gleich. Das Ereignis findet in mir statt, nicht im Wechselspiel mit der Welt. Was sie einleiten kann, ist sehr verschieden. Sehr oft geht etwas Unerwartetes, sogar Erschütterndes voraus. Wichtig ist nur, dass die Begleitumstände dieses Erwachen nicht verursachen, sondern nur ermöglichen.
Eines geht mir im Erwachen sonnenklar auf: Vorher, in der Wachheit des Alltags, war ich nicht wach. Erst jetzt bin ich es! Die Frage, wie ich wissen könnte, ob ich aufgewacht bin, lässt sich erst jetzt stellen. Frage und Antwort fallen ineinander. Daran erkenne ich, dass es sich um ein Erwachen, nicht um ein Aufwachen handelt. Ich entdecke, was es heißt, wach zu sein. Ich kann aus mir heraus wach werden, dort, wo ich schon aufgewacht war durch die Berührung mit der Welt.
Wach bleiben
Auch in den ersten Schritten zur Meditation hin, wenn ich mich in mir ‹sammle›, kann sich ein leiser, zarter Anfang dieses Erwachens ankündigen. Die Gefahr, sich damit zufriedenzugeben und eilig zum Alltag zurückzukehren, wo so vieles wartet und drängt, ist real. So habe ich nur ein bisschen geschnuppert. Denn was sich ankündigt, trägt die Potenz, sich zu verdichten, substanziell zu werden. Anders als beim Aufgewachtsein kommt mir hier nichts entgegen, es sei denn, ich bringe es selber hervor. Es geht um das Wesentliche in mir, um das Wesenslicht in jedem Menschen. Aus diesem Wesenslicht erwache ich mitten im Wachsein.
Aus dieser Potenz kann ich sogar das tagtägliche Wachsein bezeugen. Da, wo ich mich – wie kurz auch immer – einen Moment sammle, damit ich in eine Situation hineinlauschen kann. Ich beleuchte die Situation nicht. Sie leuchtet mir von innen entgegen. Ich bleibe wachend dabei. Wach bleiben, nachdem ich wach gerufen wurde. Immer wieder stoße ich dabei an die Grenze meines Vermögens.
Beim Aufwachen werde ich von all demjenigen, was vorhanden ist, unterstützt, um im Bewusstseinslicht des Tagtäglichen wach zu bleiben. Im Ereignis des Erwachens ist das Einzigartige schon dadurch gegeben, dass es sich in der Zeit beschränken muss. Es bleibt ein Fragment, aber aus dem immer wieder neuen Am-Anfang-Stehen, verdichtet es sich und bildet Vermögen.
Im Wachen überkreuzen sich Aufwachen und Erwachen, Bewusstseinslicht und Wesenslicht. Ich soll im täglichen Wachsein das Wesenslicht so hineintragen, dass es sich dem Alltag dienstbar macht, ohne sich selbst zu verleugnen. Indem ich bleibe. Indem ich wach bleibe.
Bild Miriam Wahl, ohne Titel. Aus: Studien über das Wachen im Träumen, Aquarell auf Papier, 32 × 24 cm, 2020