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Symptome?

Symptome werden gern übersehen. Oder sie werden mit den Ursachen verwechselt. Symptome sind überall zu finden, auch in der sozialen Welt oder in Biografien. Sie sagen etwas und sprechen sowohl von Krankheit als auch von Heilung. Eine Reflexion über die Natur des Symptoms.


«Lassen Sie sich von einer Krankheit nicht entschleunigen!», so lautet eine Werbeanzeige für Grippe- und Schmerzmedikamente derzeit in den USA. Erwachen wir mit Kopfschmerzen, so stöhnen wir, viele greifen direkt zu einer Schmerztablette und erwarten, ihren Tag wie gewohnt durchziehen zu können. Dabei hilft die Tablette bekanntermaßen nicht gegen den Kopfschmerz an sich, sie bewirkt vielmehr, dass ich die Schmerzen nicht spüren muss. Ich muss nicht weiter überlegen, welche meiner Handlungen zu dem Zustand führten, in dem ich Kopfschmerzen spüre. Ich ignoriere die Hinweise, die mich auf etwas Tiefliegenderes aufmerksam machen wollen, und fahre fort wie gewohnt.

Symptome sind Hinweise darauf, dass etwas nicht so gut läuft, wie es könnte. Darauf, dass eine Veränderung notwendig ist, dass es Zeit ist, umzudenken, umzufühlen und Handlungen folgen zu lassen. Diese Anzeichen müssen nicht notwendigerweise körperliche Symptome sein. Auch und besonders im sozialen Miteinander tauchen kleine Symptome auf, die Aufmerksamkeit verlangen. Unstimmigkeiten, Gereiztheit, Wut, Eifersucht, Neid, schlechtes Reden über andere, Geiz und Betrug. Es können kleine Bemerkungen sein – gerade im Berufsleben; aber auch allzu oft im Familienleben sind es genau Handlungen solcher Art, die zu Konflikten führen. Aber im Zusammenleben ist es nicht eine Person, an der alles hängt. Die Frage ist: Was können wir alle anders machen?

Oft beobachte ich junge Menschen, Teenager, mit gesenktem Kopf, auf einen Bildschirm starrend. Sei es im Zug, dem Bus mit dem Smartphone oder zu Hause vor dem Computer. Ich frage mich: Wofür brennt ihr? Was weckt euch morgens auf, hilft euch, den Tag zu bestehen? Ist es wirklich nur die Jagd nach möglichst vielen ‹Likes› auf Facebook für ein neues Profilbild? Die Sorge, ob ihr auch gut ausseht in der neuen Jeans? Wisst ihr, dass es mehr gibt, dass es Hoffnung gibt, dass ihr diejenigen seid, auf die die Welt wartet? Das Desinteresse an der Welt ist ein Symptom, dass schockiert. Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit, was den Effekt, die Wirkung des eigenen Handelns betrifft, ist angsteinflößend. Es ist ein Symptom für eine Krankheit, die im tiefsten Innern der Gesellschaft langsam wächst, sie von innen aushöhlt. Eine beginnende Lähmung, die zur Erstarrung zu führen droht.

Symptome sind diese lästigen Gesten, die mir zeigen, dass ich einen anderen Weg einschlagen muss. Sie sind Wegweiser auf einer bekannten Route, die mich zum Abbiegen, zum Langsamer-Werden oder gar zu einer Kehrtwende aufrufen. Warum tendieren wir dazu, sie ignorieren zu wollen?

Wenn ich auf eine gewisse Art handle, dann machen sich meine Mitmenschen allzu gern ein Bild. Ich kreiere einen Menschen, mit Persönlichkeit, Eigenschaften und gewissen Fähigkeiten. Wir können diese Person, deren Bild an unserer Stelle in der Welt agiert, auch den Doppelgänger nennen. Dieses Bild von uns funktioniert – im Beruf, im Privatleben – und kann sogar unser komplettes Selbstbild sein. Tauchen nun plötzlich Symptome für Schwierigkeiten auf, so ist dieses Bild in Gefahr. Ich ahne: Ich werde etwas ändern müssen in meiner Art, zu leben. In meiner Art, meinen Mitmenschen gegenüberzutreten. Ich werde etwas offen ansprechen müssen, womöglich etwas beenden, neu beginnen und ganz anders machen müssen als je zuvor. Ich werde nicht mehr die gleiche Person sein für alle um mich herum. Aber was wird es? Wie wird es? Und wer bin ich, wenn sich immer alles ändert? Wenn ich mich immer ändere? Hier kommen Angst und Zweifel ins Spiel, in ein Gebiet, das ihnen als Widersacher des Urmenschlichen nur zu vertraut ist. Und nun versuchen sie, uns vom Kurswechsel abzulenken, Symptome kleinzureden. Den Menschen zur Flucht vor der Wahrheit und vor dem Weg nach vorne, in die unbekannte Zukunft ohne Absicherung, zu bewegen. Steiner drückt es in seinem ‹Ergebenheitsgebet› deutlich aus, wie der Mensch in der heutigen Zeit innerlich ausgerichtet sein soll: «Es gehört zu dem, was wir in dieser Zeit lernen müssen, aus reinem Vertrauen zu leben, ohne jede Daseinssicherheit, aus dem Vertrauen in die immer gegenwärtige Hilfe aus der geistigen Welt. Wahrhaftig, anders geht es heute nicht, wenn der Mut nicht sinken soll.»

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Ich werde etwas offen ansprechen müssen, womöglich etwas beenden, neu beginnen und ganz anders machen müssen als je zuvor. Ich werde nicht mehr die gleiche Person sein für alle um mich herum.

Symptome sind Wegweiser auf den Irrwegen des Lebens. Sie signalisieren nie dagewesene Möglichkeiten, welche hinter einem Hindernis verborgen sind, das es zu überwinden gilt. Ignorieren wir sie, so treffen wir auf immer größere Schwierigkeiten, stärkere Symptome und täglich grüßt das Murmeltier. Dabei ist ein Symptom immer das Versprechen auf einen Fortschritt, ein wahrer Segen. Fortschritt bedeutet nicht, den Schwierigkeiten bestmöglich aus dem Weg zu gehen, sanft und leise durchs Leben zu schweben, in ständiger Harmonie und güldenem Glück. Fortschritt ist eine Errungenschaft durch Transformation. Durch die Umwandlung des Alten in das Neue, durch Überwindung von allem Falschen, aller Angst und das Umlenken der Lebenskraft in noch unbekannte Bahnen, sodass sie dem dient, was wir als das wahrlich Gute und Richtige erkannt haben. Es ist ein Rückenwind, der plötzlich aus dem Nichts kommt und uns vorwärtsträgt, wenn wir es wagen, in die unbekannten Gefilde zu ziehen. Dann erst können wir «Erfüllung manchem Wunsche leihn, dem Hoffnung schon die Flügel lähmte», wie Steiner es in einem Wochenspruch darlegt. Wir hören auf zu träumen und setzen endlich in die Tat um, was uns schon so lange tief im Innern vorschwebte.

Oft sind es gerade Krankheitssymptome, die uns das ‹Recht› und den Mut geben, zu sagen: So nicht mehr! Und bald folgen dann schon die Symptome der Besserung, dann die Genesung und eine neue, ungewohnte Kraft. Auch wenn unser Bild nach außen nicht ein konstantes ist. Weil wir ständig im Wandel sind, flexibel, auf Symptome zu reagieren und in eine andere, neue Richtung zu gehen.


Foto: Everyone is staring at their phone, on the Seoul Metro, Korea, November 2010, Marc Smith

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