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Steiners Werk als Abenteuer

Eine Rezension des Buches ‹Rudolf Steiners Schriften in 50 kurzen Porträts› von Friedwart Husemann.


Rudolf Steiner sprach über seine geschriebenen Werke wie über Symphonien, jedes Wort hat dort seine Stelle wie die Noten in einem Musikstück (1). In seinen Büchern ist Leben: Sein Buch ‹Theosophie› hat ihm «wie ein Lebendiges gegenübergestanden», in der ‹Geheimwissenschaft› lebt «der lebendige Seeleninhalt des Verfassers» und ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› ist «wie ein Gespräch, das der Verfasser mit dem Leser führt».

Welch eine Veranlassung, um sich intensiv mit dem geschriebenen Werk Rudolf Steiners zu beschäftigen! Und welch eine Freude, das Buch von Friedwart Husemann ‹Rudolf Steiners Schriften in 50 kurzen Porträts› zur Kenntnis zu nehmen, in dem der Autor sein forschendes Leben mit diesen geschriebenen Werken beschreibt. Sein Versuch – nach einer 50-jährigen Beschäftigung mit der Anthroposophie –, eine zeitgemäße, sachlich richtige und gut lesbare Darstellung der Anthroposophie zu schreiben, hat mich sehr beeindruckt. In seinem Buch begegnet man dem persönlichen Ringen und Forschen des Schriftstellers, seiner Entdeckungsreise mit und durch die Schriften Rudolf Steiners.

Inhaltlich wird in den verschiedenen Kapiteln der Entwicklungsgang Rudolf Steiners klar beschrieben, in Kapiteln über Erkenntniswissenschaften, Christologie, Wiederverkörperung, Kunst, das praktische Leben, den Pfad der Erkenntnis und Rudolf Steiners Leben. Wichtig ist, dass nicht nur eine Fundierung des Vortragswerks von Rudolf Steiner und der sogenannten anthroposophischen Sekundärliteratur gegeben, sondern auch ein Brückenschlag zur wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart gemacht wird. So nennt Husemann beispielsweise die Forschungen von Forouhar, der am Zebrafischembryo zeigte, dass die Peristaltik (Organbewegung) des Herzschlauches sich langsamer bewegt als das hindurchfließende Blut, «womit die Eigenbewegung des Blutes experimentell bewiesen war: Das Herz ist keine Pumpe» (2). Und die Entdeckung der Spiegelneuronen durch Rizolatti, der zeigte, dass diese Neuronen immer gleich reagieren, einerlei, ob man selbst eine Handlung ausführt oder ob man die Handlung bei anderen nur beobachtet. Rizolatti bezeichnete demgemäß die Trennung in motorische und sensible Gehirnareale als ‹abstrakt› bzw. «weitgehend künstlich» (3). Husemann gibt dieser Entdeckung ein hoffnungsvolles Gewicht: «Nach der jetzt veralteten Vorstellung der Nervenphysiologie wird ein Impuls im Gehirn geboren und leitet sich entlang der Nerven bis in den Muskel fort, um dort den entsprechenden Muskel zu bewegen. Nach dieser Vorstellung war der Mensch als Handelnder in seiner Haut abgeschlossen und ganz allein. Mit den Spiegelneuronen dürfen wir uns von dieser Vorstellung, die den Menschen zum Egoisten macht, verabschieden und uns der Empathie zuwenden, die die Menschen untereinander verbindet.» (4)

 


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Wie Rudolf Steiner immer betonte, ging es ihm darum, seelisch-geistige Geschehnisse und Wesenheiten von verschiedenen Seiten her wahrzunehmen und zu beschreiben, damit sie in ihrer Wirklichkeit erkannt werden. Friedwart Husemann geht diesen Weg. Er verbindet sich innerlich mit den Texten, in denen Rudolf Steiner Begriffe wie Freiheit, Moralität usw. charakterisiert, weil diese Ideen in der ‹Philosophie der Freiheit› anders umschrieben werden als in ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› oder in der ‹Geheimwissenschaft›. Gerade das Miteinander-Verbinden dieser Texte in einem imaginativ-inspirierten Erleben ist eine Kunst, die Husemann beherrscht, um zu einem höheren Verständnis zu gelangen. Es ist eine große Freude, seine originellen Entdeckungen zu lesen! So lösen sich auch scheinbare Widersprüche, wenn die Blickrichtungen Rudolf Steiners entgegengesetzt sind. Husemann macht nachvollziehbar, dass Rudolf Steiner in ‹Die Philosophie der Freiheit› vom gewöhnlichen Bewusstsein aus in die höhere Welt blickt, während er im ‹Bologna-Vortrag› (Autoreferat) von der Warte des höheren Bewusstseins aus auf das gewöhnliche Bewusstsein zurückschaut.

Auf ähnliche Art wird dem Verfasser – nachdem er es zusammen mit seiner Frau Imke viele Jahre lang immer wieder durchgearbeitet hat – das Buch ‹Die Schwelle der geistigen Welt› immer verständlicher, wobei er auch für das Rätsel der in diesem Buch genannten ‹übergeistigen Welt› eine interessante Erklärung findet: «Im Sinne der ‹Theosophie› und der ‹Geheimwissenschaft› gibt es eine reich gegliederte geistige Welt. Mehr als den Geist kann es aber trotzdem nicht geben, weil in diesen Büchern die geistige Welt von der physischen Welt aus beschrieben wird bzw. die physische Welt wird von der geistigen Welt aus betrachtet. In ‹Die Schwelle der geistigen Welt› jedoch liegt der Betrachtungspunkt in der geistigen Welt selbst, und zwar je nachdem, wo man sich dort befindet. Wenn man zum Beispiel im Geisterland ist, fühlt man den eigenen Gesichtskreis beschränkt, man weiß, es gibt jenseits des Geistesufers eine Welt, die ganz anders ist als die betrachtete. Vom Gesichtspunkt dieses Geisterlandes aus gesprochen, ist es sinnvoll, von einer «übergeistigen Welt zu sprechen, weil diese übergeistige Welt sich ergeben wird, wenn die schauende Seele das Geistgebiet verlassen wird» (5). Zu welcher Steigerung die Fähigkeit führt, Rudolf Steiner in dessen Betrachtungen von der geistigen Welt zu folgen, zeigen Husemanns Gedanken über die «übergeistige Welt, das andere Selbst, das ‹wahre Ich› und das ‹nicht Ich, sondern Christus in mir›» (5).

Nicht nur für Studierende der lebendigen Symphonien Rudolf Steiners, sondern auch für diejenigen, die überhaupt erst Bekanntschaft machen wollen mit Rudolf Steiners geschriebenen Werk, sind die 50 kurzen Porträts hilfreich. Die Überblicke, Zusammenfassungen und die Auswahl von individuell verarbeiteten Einsichten geben einen vertrauensvollen Eindruck von dem Weg, den Rudolf Steiner für die Erneuerung des Menschen und der Kultur gegangen ist. Die Früchte der Anthroposophie im praktischen Leben der unterschiedlichen Lebensfelder werden in ihrem Umfang und Erfolg klar und aktuell beschrieben. Dass Rudolf Steiner dabei seinen Weg durch die naturwissenschaftliche Erkenntnismethodik und Erkenntnistheorie gehen musste, um zu einer höheren Erkenntnis und dem modernen Erkenntnisweg zu gelangen, wird sonnenklar beschrieben. Und welch ein Genuss ist es, die abgebildeten Porträts der Menschen, mit denen Rudolf Steiner sich so intensiv auseinandergesetzt hat, wie mit Francis Bacon, Immanuel Kant, Eduard von Hartmann, Ernst Haeckel und anderen, anzuschauen!

Zusammenfassend ist Friedwart Husemanns Buch ein begeisternder Bericht von einem Menschen, der energisch und forschend die erste Stufe des Einweihungsvorgangs der höheren Erkenntnis – das Studium der Geisteswissenschaft – geht und uns die Früchte seiner Arbeit mitteilt. Zudem bietet es dem interessierten Leser eine originelle Orientierung im Leben und Werk Rudolf Steiners und in den Quellen und Beiträgen der Anthroposophie für die Welt.


(1) Rudolf Steiner: Erziehungskunst. Metho­disch-Didaktisches, GA 294, S. 47
(2) S. 167–168
(3) S. 178–179
(4) S. 179
(5) S. 269

Friedwart Husemann ‹Rudolf Steiners Schriften in 50 kurzen Porträts› Verlag am Goetheanum, Auflage 1, 2018, 312 Seiten

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