Sozial gerecht heißt multikulturell

Unterrichten heißt verantworten. Der Zeit gemäß wollen Beziehungen reformiert, überdacht und neu gestaltet werden. Cristina Velasquez aus Brasilien und Neil Boland aus Neuseeland entwickelten auf der Lehrertagung gemeinsam ein Bild des neuen Lehrens.


Neil Boland Bei Bildung nutze ich oft universelle Begriffe. Aber mir ist auch klar, dass Bildung niemals universell ist. Sie ist immer spezifisch. Sie wird von bestimmten Menschen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten in bestimmten kulturellen und sozialen Kontexten praktiziert. Sie kann nie allgemein sein.

Cristina Velasquez Die Identität eines Menschen ergibt sich aus der Begegnung mit dem anderen. Andere Menschen helfen mir zu erkennen, wer ich bin. Durch den Dialog mit anderen wird jeder Mensch einzigartig. Pluralität wiederum ist das Gesetz der Erde. Zu lernen, in der Pluralität zu sein, ist eine grundlegende Übung und zentrale Aufgabe der Erziehung. Wo ich herkomme, also in Brasilien, entspringt die Pluralität einer Entfaltung von interkulturellen Begegnungen und Beziehungen vor einem soziokulturellen Hintergrund. Es ist wichtig, anzuschauen und neu zu bewerten, wie wir diese Begegnungen strukturieren und pflegen wollen. Dazu müssen wir verstehen, wie wir alle von unserer Geschichte beeinflusst werden. Daraus ergibt sich die Frage, wie wir in kolonialisierten Ländern gute Begegnungen schaffen können? Über die brasilianischen Indigenen wurde ein Schleier gelegt, der ihren kulturellen Reichtum verbirgt. So etwas kann zu Entmenschlichung, Entmachtung und dem Verlust der kognitiven Freiheit führen. Diese Schleier liegen über uns und hindern uns daran, die anderen klar zu sehen und uns selbst zu erkennen. Schleier sind gewebt aus Informationen von Orten, Positionen in der Gesellschaft, Geschichten, Bildungssystemen und Einflüssen, die uns in unserer Kindheit und Jugend geprägt haben. Sie beeinflussen unsere Einstellungen und Entscheidungen. Wenn wir an einer kolonialistischen Logik festhalten, die andere Erkenntniszugänge (Epistemologien) außer Acht lässt, laufen wir Gefahr, eine ‹epistemische Belagerung› aufrechtzuerhalten. Die Herausforderung besteht darin, sich authentisch auf den anderen einzulassen, und zwar in einer Weise, die seinen einzigartigen Beitrag zum und im kollektiven Verstehen würdigt und bewahrt.

Durch die Förderung eines Bildungsumfelds, das Unterschiede würdigt und zum Dialog ermutigt, wirken wir dominierenden Formen des Wissens entgegen und bauen an einer integrativeren, empathischeren und verständnisvolleren Gesellschaft mit. Frantz Fanons1 aufschlussreiche Analysen des komplizierten Wechselspiels zwischen dem Selbst und dem anderen, insbesondere im Kontext rassischer und kolonialer Dynamiken, werfen ein Licht auf die Hindernisse für authentische menschliche Verbindungen und Wege zur gesellschaftlichen Transformation. Sie wirken sich sowohl auf die Kolonisierenden als auch auf die Kolonisierten negativ aus. Durch die Verinnerlichung sozialer und historischer Rassekonstruktionen werden Ungleichheit und Unterdrückung durch Vorurteile, Stereotypen und oft unbewusste Diskriminierung aufrechterhalten. Auf dem Weg der Dekolonisierung geht es nicht nur darum, die zerstörerische Natur solcher Muster zu erkennen, sondern auch darum, neu zu definieren, was als normal gilt. Indem wir die Monokultur des Verstandes infrage stellen, setzen wir uns für eine Gesellschaft ein, die Pluralität und unterschiedliche Erkenntniszugänge anerkennt und eine Vielzahl spiritueller Ausdrucksformen fördert. In dieser Vielfalt haben wir das Menschsein gemeinsam. Sie ist die Grundlage für eine lebendige, widerstandsfähige und gerechte globale Gemeinschaft.

Den Raum bereiten

Neil Boland Wenn man diese Ideen auf die Lehrerausbildung bezieht, ist das Wesentliche des Lehrens jenes, was zwischen Lehrenden und Lernenden geschieht. In traditionellen westlichen Unterrichtsformen kann dies einseitig sein: Der Lehrer spricht, die Schülerin hört zu. Mache ich mir als Lehrer bewusst, wie lange ich rede, bevor ich die Zügel oder die Macht an meine Schülerinnen und Schüler übergebe? Letztes Jahr fragte ich eine Gruppe von Waldorfpädagogik-Postgraduierten, welche Lehr- und Lernmethoden für sie wirklich funktionierten. Was sie auf jeden Fall nicht wollten, war, dass man auf sie einredet. Das schläfere sie ein. Sie wollen eher Diskussion, Interaktion, Kontakt, Engagement, Begegnung. Wie und vor allem wo findet diese Begegnung dann statt? Meine Aufgabe als Lehrendenausbilder ist es also, einen Raum zu kreieren, in dem gegenseitiges Lernen stattfinden kann. Dazu braucht es Offenheit, Akzeptanz, Sicherheit, Neugier und Liebe. Der indische Gelehrte Homi Bhabha hat 1994 eine alte Idee vom dritten Raum als Metapher verwendet. Es ist ein befreiter Raum, in dem sich Menschen frei von Hierarchien und Vergangenheiten begegnen können. In ihm können die Schleier von den Augen der Menschen genommen werden, damit sie sehen und gesehen werden können. Man betritt einen Raum, der niemandem gehört, in dem wir nur durch unsere Einzigartigkeit verbunden sind.

Was bedeutet es also für einen Lehrendenausbilder, sich in diesem neutralen Gebiet zu bewegen? Es bedeutet, ich muss den Ort verlassen, wo ich mich normalerweise aufhalte, wo ich mich am wohlsten fühle. Ich muss mich in dieses ‹Grenzgebiet der Möglichkeiten› begeben. Ich muss so unterrichten, als ob ich keine Art von Zentrum bilden würde. Auch meine erwachsenen Lernenden müssen ihre gewohnten Plätze verlassen und sich an diesen Ort der Begegnung begeben, an dem wir nur als Individuen vereint sind. Können sie wahrnehmen, was in diesen Raum mitgebracht wird? Können sie hören, wer sie wirklich sind? Und sind wir in der Lage, diesen sicheren Raum zu schaffen, in dem jeder beginnt, die Person, die er eigentlich ist, hervorzuholen, damit sie wahrgenommen und ihr begegnet werden kann? Dazu muss ich mich aus meiner Komfortzone herausbewegen. Unterbrechungen und Unbehagen sind wesentliche Bestandteile des Lernens. Im Unbehagen überschreitet man ständig neue Schwellen, man entwickelt sich ständig weiter.

Aus der Tagung, Foto: Xue Li

Gewollte Intersektionalität

Cristina Velasquez Ein Lehrer oder eine Lehrerin ist heute mit unterschiedlichen, schwierigen, vielschichtigen und komplexen Aufgaben konfrontiert. Themen wie Gender, Feminismus, Rassismus, Kolonialismus, Diskriminierung können heute nicht mehr voneinander getrennt werden. Wir kommen zu der Idee der Intersektionalität. In Brasilien habe ich mit verschiedenen indigenen Gruppen zusammengearbeitet, um zu erfahren, was sie wissen, wie sie Kinder und Jugendliche erziehen, wie ältere Menschen sich gegenseitig helfen. Es brauchte Zeit, um all diese Situationen zu erleben. Das ist ein Hinweis für uns, offen zu sein, die Zeit auszudehnen, andere kennenzulernen. Ivan Illich stellte das Konzept der Schaffung von Räumen für Erfahrungen des Zusammenlebens als praktischen Ansatz vor. Dieser Ansatz ist mit der Notwendigkeit der Entschulung von Gesellschaften verbunden. Wie könnte sich demgemäß die Waldorflehrerausbildung anpassen? Wie solche Räume eröffnen, um Erfahrungen des Zusammenlebens zu ermöglichen, bei denen es im Wesentlichen um Sozialisation und gemeinsame soziale Erlebnisse geht? Auch unter Berücksichtigung der Epistemologie der Waldorfpädagogik und einiger anderer Epistemologien. In der Erwachsenenbildung ist eine wesentliche Frage, wer der lehrende Pädagoge ist und welche inneren Landschaften sie oder ihn prägen. Der Prozess des inneren Hinterfragens ist in unseren Ausbildungskursen ein offener Raum für jede Schülerin und jeden Schüler, für Lehrer oder Dozentin. Wir müssen unsere Zeitwahrnehmung ändern und eine dialogische Interaktion fördern, die die kollektive Erfahrung zwischen uns in den Vordergrund stellt.

Neil Boland Die Erwartung, dass die Lehre auf Grundlage von Forschungsergebnissen erfolgt, ist ebenfalls eine Frage nach dem je konkret Unterrichtenden. Der forschungsbasierte Unterricht, wenn man ihn so nennen will, ist nicht dasselbe wie das Unterrichten auf Grundlage von Erfahrungen. Er hat einen strengen Prozess durchlaufen und ist hoffentlich tatsächlich das Ergebnis der Arbeit der Lehrerausbilder selbst. Noch besser ist es, wenn er aus der gemeinsamen Arbeit des Ausbildenden und der Lehramtsstudierenden hervorgegangen ist. Wie wir alle wissen, kann Forschung in vielen verschiedenen Formen stattfinden. Sie muss nicht unbedingt akademisch sein, sie kann auch künstlerisch oder meditativ sein. Dies alles sind gute Wege, um Wissen zu schaffen. Das Wichtigste ist jedoch, dass der Lehrerausbildende dieses Wissen erweitert und dass man das auch sieht. In einer idealen Welt wären auch die Lehramtsstudierenden aktiv an dieser Arbeit beteiligt.

Soziale Verantwortung von Lehrerbildungseinrichtungen

Eine ganze Reihe von Menschen, von Platon über Helen Keller und Malcolm X bis hin zu Nelson Mandela, haben im Laufe der Jahrtausende über die Bedeutung der Bildung für die Schaffung sozialer Realitäten gesprochen. Das bedeutet eine wirklich große Verantwortung für Pädagogen. Sie kann helfen, neue soziale Formen zu finden. Sie kann aber auch das Bestehende reproduzieren, alte soziale Realitäten fortschreiben, von denen wir vielleicht nicht alle weiterwollen. Welche Form der sozialen Realität möchten Sie anstreben? Wie sehen Sie die Gesellschaft, die Sie mit Ihrer Arbeit schaffen? Man muss sich mit den Zeichen der Zeit befassen, mit der Frage, in welchem Verhältnis wir zu der Zeit, in der wir leben, stehen. In welche Richtung scheint sich die Welt gesellschaftlich zu bewegen? Können wir uns, wie Otto Scharmer in der Theorie U sagt, in die Zukunft lehnen und versuchen, auf das zu hören, was zu entstehen versucht? Diese Art von Prozess ist für jede pädagogische Bewegung, die auf der Höhe der Zeit bleiben will, unerlässlich.

Der Vortrag Steiners ‹Was tut der Engel im Astralleib?› (GA 182 vom 9. Oktober 1918, gehalten in Zürich) befasst sich mit Gesellschaftsformen, die weit in der Zukunft liegen, aber schon jetzt danach streben, ins Leben zu treten. Und es ist eine Arbeit, die durch die Aktivität des Engels jedes Einzelnen im Schlaf gefördert wird. Ich fand das ein sehr anregendes und kraftvolles Bild, mit dem ich arbeiten konnte. Steiner sagt, dass der Engel eines jeden Menschen, der im Einklang handelt mit den anderen Engeln, versucht, unseren Astralkörpern einzuprägen, dass in der Zukunft kein Mensch in der Lage sein wird, Frieden zu finden und Glück zu genießen, wenn andere um ihn herum unglücklich sind. Das Zweite ist, dass in einer zukünftigen Zeit jeder Mensch in jedem seiner Mitmenschen eine verborgene Göttlichkeit sehen wird. Und das dritte, letzte Ziel ist es, uns zu ermöglichen, durch das Denken den Geist zu erreichen, durch klares Denken den Abgrund zur aktiven Wahrnehmung der geistigen Welt zu überqueren.

Können wir etwas wahrnehmen, was in dieser Richtung gerade entsteht? Ich würde sagen, das ist dann unsere Aufgabe als Lehrendenausbilder. Ich glaube, wir können durchaus Anzeichen dafür erkennen, dass dies im gesellschaftlichen Diskurs Gestalt annimmt. Es zeigt sich in der zunehmenden Akzeptanz von Unterschieden, in der Hinwendung zu Gleichberechtigung und Toleranz und in der zunehmenden Sensibilisierung und Diskussion über die Menschenrechte. Es drückt sich in der zunehmenden Erkenntnis aus, dass es in all unseren Gesellschaften Gruppen von Menschen gibt, die systematisch diskriminiert, zum Schweigen gebracht, unterdrückt, ignoriert, ausgelöscht, verachtet, ausgegrenzt, als minderwertig betrachtet, abgetan oder überhaupt nicht beachtet werden. Sie werden unsichtbar gemacht, ihnen wird die Menschlichkeit abgesprochen. Ich habe den Eindruck, dass dies zunehmend aufhört. In zweien meiner Kurse habe ich die Studierenden gefragt, ob ihnen soziale Trends, soziale Bewegungen oder Dinge einfallen, die im Entstehen begriffen sind. Was ihrer Meinung nach wirklich entsteht, ist der Wunsch nach Gleichberechtigung, nach einer gleichen Stimme für alle, nach der Akzeptanz aller, nach einem Ausgleich von Machtungleichheiten, nach der Integration nicht westlicher Lebens- und Wissensformen, nach der Idee, dass wir keine soziale Gerechtigkeit haben, bis wir kognitive Gerechtigkeit haben.

Wie können wir eigentlich glücklich sein, wenn es so viele Menschen auf der Welt gibt, die leiden? Es ist die Idee, dass wir Ungerechtigkeit nicht tolerieren können. Deine Traurigkeit ist meine Traurigkeit. Dein Kummer ist mein Kummer. Dein Schmerz ist mein Schmerz. Das ist wirklich ein starkes Ideal. Und wie wirkt sich das auf die Steiner-Lehrendenausbildung und ihre Institutionen aus? Bildung produziert soziale Realitäten. Also welche Realitäten produzieren oder reproduzieren Ihre Institutionen? Gibt es einige Dinge, die Sie tun, die eigentlich ungewollt das Gegenteil von dem bewirken, was Sie wollen? Wenn Sie sich mit solchen Fragen nicht auseinandersetzen, unterstützen Sie den Status quo. Wie nehmen Sie Ihre soziale Verantwortung wahr? Wenn Sie denken: «Es ist meine Verantwortung, die Art von sozialer Realität zu schaffen, die ich mir wünsche», dann wird das hoffentlich allen gerecht, denn es trifft alle.

Aus der Tagung, Foto: Xue Li

Cristina Velasquez Ich freue mich, an dem Projekt zu Interkulturalität teilzunehmen, welches die pädagogische Sektion seit einigen Jahren durchführt. Da habe ich erkannt, dass sich Steiners Ideen für die zukünftige Gesellschaft, für die soziale Verantwortung, in Übereinstimmung mit den Fragen unserer Schülerinnen und Schüler in der ganzen Welt verwirklichen, ohne die Augen vor den Bedürfnissen des heutigen Kindes zu verschließen. Meine brasilianischen Studierenden im Bachelor-Studiengang danken uns immer für die Möglichkeit, zu diskutieren und zu interagieren, anstatt nur zuzuhören. Sie arbeiten dafür, mit fundierten Ideen präsent zu sein. Wenn wir uns dem pädagogischen Dilemma der Waldorfpädagogik in Brasilien und Lateinamerika stellen, könnten wir unsere Lehrplanvorschläge mit fächerübergreifenden Themen wie einer alternativen Sichtweise der Geschichte und der Philosophie der Erziehung verbinden. Diese Themen sind nicht nur akademisch, sie sind Tore zum Verständnis der tieferen Rolle von Bildung, menschlicher Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt. Wir brauchen mehr Vielfalt, um mehr unterschiedliche soziale Realitäten zu erleben, nicht nur darüber zu reden, um in Respekt vor der Vielfalt zu leben und das Göttliche in jedem Menschen zu erkennen. Wir müssen ein viel breiteres Spektrum an Stimmen auf diese Bühne einladen, damit sie von ihren Reisen, Herausforderungen und Erfolgen berichten können, egal aus welchem Umfeld sie kommen. Im Mittelpunkt unseres Bildungsweges steht das Prinzip, anderen zu erlauben, frei zu existieren, nicht, um ihnen Menschenwürde zu verleihen, sondern um jedem die menschliche Emanzipation zu ermöglichen, sich zu entfalten und zu einer gerechteren und mitfühlenderen Welt beizutragen.


Titelbild Gespräch an der Tagung, Foto: Xue Li

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Footnotes

  1. Frantz Fanon (1925–1961), der aus der französischen Kolonie Martinique stammte, wurde zu einer bedeutenden Persönlichkeit der Sozialpsychologie und der Dekolonisierungsforschung.

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