Rudolf Steiner schuf in den ersten Wochen des Jahres 1924 eine Reihe von Bildern, Formen und Zeichen, mit denen er eine künstlerische «Sprachform, eine ‹geistige Art› des Sprechens, eine ‹Herzenssprache› finden wollte für jene geistigen Wesenheiten, die zu der modernen Menschheit sprechen sollen».1
Etwa zu gleicher Zeit begann er, mit den Mantren für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft ‹Ausdrucksarten› zu entwickeln, «die der geistigen Welt selbst entlehnt sind».2 Wie verhalten sich diese beiden Ausdrucksarten oder Sprachformen des Geistigen zueinander? Diese Frage steht für den Autor noch unbeantwortet im Hintergrund der Beschäftigung mit den Bildern, von denen hier die Rede sein soll.
Erstes Bild
Auf einer mit schwarzem Papier bespannten Tafel wird – von Worten begleitet – mit farbigen Kreiden eine Form gezeichnet. Eine Form wird gesucht. Eine schützende Form. Sie soll über den Türen und Fenstern des geplanten Zweiten Goetheanum erscheinen, überall dort, wo Menschen eintreten oder wo Licht ins Innere des Hauses dringt. Die Form ist farbig gestaltet: Gelb tritt über dem Eintretenden hervor; es wird zu Rot, wo die Form am weitesten hervortritt; im Blau weicht sie wieder zurück. Die Portalform senkt sich in der Mitte herab. Der Eintretende soll beim Stehen unter der sich neigenden Form bemerken können: die «schützende Gestalt» über seinem Haupt.3

Zweites Bild
Ein Tor. Ein in Bewegung versetztes Portal-Motiv, das links von einer roten Stütze getragen, rechts von einer blau sich aufrichtenden Säule, die sich nach oben wie zu einem Kapitell verdichtet, gehoben wird. Von oben neigt sich in rötlichen Abstufungen die schon vertraute schützende Form herab. Darunter schwebt etwas, etwas noch Unbestimmtes, in einem lichten, weiten, offenen Raum. Der Blick wird in diesen Raum eingelassen. Der Weg geht durch das offene Portal hindurch in die Tiefe. Schräg aufwärts.

Drittes Bild
Die sich neigende Portal-Form ist verschwunden. An ihrer Stelle erscheinen Wesen, zielstrebig aufsteigend in rascher Bewegung, denen sich von oben andere Wesen kopfüber entgegenneigen. Darunter erscheint, schwebend in hell-warmem Lichtraum, über einer roten Mondsichel, ein Reiter auf seinem Pferd. Mein Blick umfasst den ganzen Raum, der sich hier auftut. Eine perspektivische Sicht eröffnet sich, eine Flucht, bei der das Nahe zum Entfernten führt. Der Blick empfindet – wie wenn er selbst der rote Reiter wäre – sich in diesem Raum schon tiefer darinnen.

Viertes Bild
Zwei Formen, goldocker auf blauem Grund, aufsteigend beide. Die große Figur scheint die kleinere wie vom Anfang her zu begleiten. Sie steigt, von dieser unbemerkt, hinter ihr auf, streckt sich über sie hinweg und wendet sich ihr von vorne zu. Bei dieser Umwendung entsteht eine Beuge, welche den Durchgang bildet, durch den das große Wesen das kleine still hindurchgehen lässt, gleichsam durch sich selbst hindurch, über eine Schwelle hinweg, die sich aus einer intimen Wesensbeziehung heraus erschuf.

Fünftes Bild
Farbentor (Tafelkreide auf schwarzes Papier, Instruktion zur Meditation, während der 17. Stunde vor den Mitgliedern der ersten Klasse der Freien Hochschule gezeichnet): Der Hüter der Schwelle, der den in die geistige Welt Eingetretenen auf seinem Weg bis hierher geführt hat, wendet sich ihm nun in intimer, vertraulicher Weise zu. Es ist, «wie wenn er sich zu ihm neigen würde».4 Zwischen Hüter und Ich spielt sich ein Zwiegespräch ab, welches in ein Licht getaucht ist, das zwar fühlbar, aber noch nicht sichtbar ist. Darauf folgt die Aufforderung des Hüters der Schwelle, sich das Bild des Regenbogens in Erinnerung zu rufen und das Ich – durch die lichterschaffene Kraft des Auges – das Bild des Regenbogens durchdringen zu lassen und sich dann umzuwenden, um von jenseitiger Warte die Farben als flutende, sonnendurchleuchtete Farbenströme in einer halbhimmelgroßen Weltenschale zu schauen. Das alles ist auf der Tafel nicht dargestellt. Es ist ein Geschehen, von dem Ich zusammen mit den Hierarchien erlebt. Und nachdem es Zeuge geworden ist von diesem jetzt in einem geistigen Licht sich vollziehenden Geschehen, in das es sich aber selbst hineinverwoben weiß, dann ist es wieder der Hüter, der sich ihm, jetzt aber wie von hinten, zuwendet. Und es ist, wie wenn der Hüter ihm nun die Hände auf die Augen legen würde, um das Geschaute wieder zu verhüllen.
Sechstes Bild
Aus tiefem Violett erhebt sich das Blau, steigt auf, lichtet sich und schlägt nach innen um. Im Mitgehen mit der Bewegung der Farbe tritt die Empfindung in einen Raum in der Fläche ein und wendet sich darin um. Das Eintreten ist hier zugleich ein Umwenden. Das Bild ist so gestaltet, dass mein Blick das Flächenhafte des Bildes durchstoßen und mit der blauen Gestalt der Mutter eine Umwendung in dem Bildraum vollziehen kann. Ich neige mich mit ihr dem Kinde zu. / Blau aufsteigend, dabei sich in einer einwickelnden Spirale von außen nach innen wendend (Blau erst von außen, dann von innen erlebt). Ich folge der Bewegung mit den Augen, dann werde ich von ihr mit einem leichten Ruck ergriffen. Ich sehe plötzlich, wie das Blau sich bewegt, und ich fühle im selben Moment die Bewegung des Blauen an meiner eigenen Gestalt, wie wenn ich mich bewegen würde (während mein Leib doch ruhig vor dem Bild stehen bleibt). / Ich folge dem Blau, trete so in den Bildraum selbst ein und wende mich darin um. Es ist so, als ob die Bewegung, welche den Raum bildet, der das Kind in sich birgt und der ein Innenraum oder Herzraum ist, meine eigene Bewegung wäre. Ich umfasse diesen Raum und das Kind mit meinem Blick. Es ist ein Blick, der sieht, ohne gerichtet zu sein. / Ich erlebe mich in dem, was sich aus der Tiefe des Bildraumes heraus zeigt. Ich weiß, wie ich dorthin gekommen bin und von wo ich ausging: Ich habe gesehen, wie die Farben, in der Art, wie sie auf die Fläche gemalt sind, einen Umschlag andeuten. Und indem ich diesen Umschlag verstehend empfand, wurde ich selbst dieses Umschlagen. Ich war zuerst in dem Raum, in dem ich dem Bild gegenüber bin, dann ließen mich meine Augen in die Farben hineingehen und mich darin umwenden. Das Hineingehen war schon das Umwenden. Ich könnte auch sagen, es war, als vollzöge ich diese Umwendung mit meinem Leib, als drehte ich mich nach hinten um. Das Hinten wurde dabei zum Innen.5 Im Anschauen des Bildes vollzieht sich ein Bewusstseinswechsel, der sich in dem Bild selbst abbildet. Die Identifikation geht vom Eintretenden über auf dasjenige, was ihn aufnimmt.

Siebtes Bild
Portal-Motiv: Für Augenblicke ruft das Sonnenlicht an den Formen des Goetheanum das Schattenbild der schützend dem eigenen Wesen sich zuneigenden Geste des Hüters hervor.

Autoreferat eines Beitrags auf einer Veranstaltung des Public Secrets Ensembles zu ‹Rudolf Steiners mantrisches Spätwerk, Transformatorische Aktualisierung›, Unternehmen Mitte, Basel 10. Mai 2024. Der Beitrag mit dem Titel ‹Zwischenspiel› wurde zwischen die Mantren der 16. und 17. Klassenstunde eingefügt. Die Bilder wurden erzählt, nicht gezeigt.
Kontakt hannesw@frisurf.no
Fußnoten
- Rudolf Steiner, 31.12.1923, GA 260.
- Rudolf Steiner, Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft (I), Nachrichtenblatt 20.1.1924, GA 260a.
- Rudolf Steiner, 1.1.1924 (vormittags), GA 260.
- Rudolf Steiner, 28.6.1924, GA 270.
- Zur Umwendung siehe: Hannes Weigert, Das Wesen der Malerei des Goetheanums, in: Goetheanum 7/1996.