Am 10. Dezember 1916 wurde am Goetheanum erstmals die ‹Romantische Walpurgisnacht› aus Goethes ‹Faust I› aufgeführt. Im einführenden Vortrag dazu macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam, wie man gerade an Einzelheiten dieser Dichtung sehen könne, «dass etwas dahinter ist, dass es nicht eine bloße Dichtung ist, sondern dass es aus spirituellem Verständnis geschrieben ist» (GA 273).
Rudolf Steiner führt als Beispiel für eine solche von Goethe sachgemäß geschilderte Einzelheit die Erscheinung Gretchens in der ‹Romantischen Walpurgisnacht› an, wie sie von Faust beschrieben wird: «Mephisto, siehst du dort / Ein blasses, schönes Kind allein und ferne stehen? / Sie schiebt sich langsam nur vom Ort, / Sie scheint mit geschlossnen Füßen zu gehen.» (V 4183–4186)
Als Illustration fügt er ein eigenes Erlebnis hinzu. Er erzählt, wie er in Wien in den 1880er-Jahren in einer Gesellschaft von «Theologen, Historiker[n], Dichter[n] und so weiter» – vermutlich handelte es sich um den Kreis der Dichterin Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931) – eine Geschichte über einen Domherrn in Paris hörte, der «in sehr fanatischer Weise gegen den Aberglauben» predigte und welcher dann selbst – versteckt während der Versammlung einer Loge an einem geheimen Ort – erleben musste, «dass sich zum Präsidentenstuhl hin eine sehr merkwürdige Persönlichkeit blassen Gesichtes bewegte, und bewegte so, dass sie nicht die Füße vorsetzte, einen nach dem andern, sondern sich vorgleiten ließ».
Rudolf Steiner erwähnt weiter, wie diese Erzählung damals in dem Wiener Kreis aufgenommen wurde, nämlich dass ein fortschrittlicher Priester die Sache für unmöglich hielt – und dass er selbst damals gesagt habe: «Mir ist die Art und Weise genug, wie erzählt worden ist. Denn auf das Wie kam es an, auf die Sache von dem Fortgleiten.» (1) Ihm, der dazumal schon in gewisser Weise im geistigen Erleben drinstand, war die adäquate Darstellung der Fortbewegung eines Geistwesens ein Beleg für die Wahrhaftigkeit der Erzählung.
Eine ähnliche Darstellung dieses gleitenden Ganges geistiger Wesen findet sich in einem berühmten Roman der Spätantike, Heliodors ‹Die Abenteuer der schönen Chariklea› (2). Dort unterhält sich Kalasiris, ein Orakelpriester aus dem Isis-Tempel in Memphis, mit dem Griechen Knemon und versucht diesem zu verdeutlichen, dass Homer aufgrund seines tiefen esoterischen Wissens ein Ägypter gewesen sein müsse. Er gibt dafür ein Beispiel: «Götter und Dämonen, lieber Knemon, pflegen, wenn sie uns erscheinen und wieder gehen, nur selten die Gestalt anderer Wesen, sondern meistens die von Menschen anzunehmen, um uns durch die Ähnlichkeit mit uns ihre Beachtung zu erleichtern. Den Uneingeweihten freilich bleiben sie darum unerkannt. Doch der Wissende lässt sich nicht täuschen. Er kennt sie schon an ihren Augen, an dem undurchdringlichen Blick und den immer offenen Lidern, mehr aber noch am Gang. Sie setzen die Füße nicht schrittweise, einen nach dem andern vorwärts, sondern in einer mehr durch die Luft schwebenden ungehemmten Bewegung durchschneiden sie mehr den Raum, als dass sie ihn durchschreiten. Aus diesem Grunde geben die Ägypter auch den Götterbildern geschlossene Füße, als wäre es nur einer. Das alles wusste Homer als Ägypter und Kenner unserer heiligen Lehren und hat es für die Verstehenden in seinen Werken symbolisch zum Ausdruck gebracht, wenn er von Athene sagt: ‹Furchtbar strahlten die Augen›, und von Poseidon: ‹Denn von hinten erkannt ich die Füße und Waden des Gottes, der so leicht von uns ging›, das heißt, leicht im Gehen dahinglitt.» (3)
Von daher lässt sich auch verstehen, was Max Gümbel-Seiling in seinen Erinnerungen an die Münchner Mysterienspiele von Rudolf Steiners Intentionen für die Bühneneinrichtung in Dornach berichtet: «Für die Erscheinung der Geistgestalten auf der Bühne wollte Rudolf Steiner, wenn in Dornach die eigene Bühne fertig sein würde, eine Gleitvorrichtung angeben und anwenden, sodass die Beine dabei nicht bewegt werden.» (4)
Es zeigt dies, dass Rudolf Steiner in den Bühnendarstellungen eine Art ‹spirituellen Realismus› anstrebte, das heißt, er wollte den Zuschauern Gesetze und Eigenarten der geistigen Welt sichtbar vor Augen stellen, um so ihr eigenes Geist-Erinnern anzuregen und ins Bewusstsein zu heben.
Bild (Ausschnitt) Die Aithiopika (‹Die Abenteuer der schönen Chariklea›) in einer Handschrift aus dem Besitz von Kardinal Bessarion, die zu den ältesten Textzeugen zählt. Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, Gr. 410, fol. 94v (12./13. Jahrhundert)
(1) Vortrag vom 10. Dezember 1916, GA 273.
(2) Heliodor: ‹Die Abenteuer der schönen Chariklea›, München 1990. Der Roman ist im 2. oder 3. Jahrhundert entstanden.
(3) Ebenda, S. 92 f.
(4) Max Gümbel-Seiling, ‹Münchener Aufführungen der Mysteriendramen›, in: E. Beltle u. K. Vierl: ‹Erinnerungen an Rudolf Steiner›, Stuttgart 2001, S. 83