Sie ist ein Berg

Gudrun Krökel-Burkhard, die Persönlichkeit, die in Brasilien die anthroposophische Heilkunst in all ihren Facetten eingeführt und etabliert hat, ist letzten September nach einem langen und tatkräftigen Leben in Florianópolis verstorben.


«Ela é uma montanha!», sagte einmal ein Schwiegersohn: «Sie ist ein Berg!» Denkt man an die majestätische Kraft eines Berges, an die Jahre, die ihn haben entstehen lassen, an seine Präsenz, Mächtigkeit und Unerschütterlichkeit, stimmt das Bild. Gudrun Burkhard (geboren am 14. Dezember 1929 in São Paulo) war physisch ebenfalls besonders groß gewachsen. Auch wenn sie in ihrem innersten Wesen eher etwas Schüchternes, Zurückgenommenes hatte, war sie eine mächtige Persönlichkeit mit einer Präsenz, die einen bleibenden Eindruck hinterließ. Sie war authentisch, zielgerichtet, tatkräftig und tüchtig wie selten ein Mensch. Sie war auf die Erde gekommen, um eine große Fülle von Aufgaben zu verrichten – sichtbare Realisierungen, deren Ursprung im Geistigen lag. Es ging ihr immer um das Konkrete, Naheliegende, Greifbare, Umsetzbare. Es ging ihr darum, aus der Anthroposophie entsprungene Impulse oder Erkenntnisse in ‹Physisches› zu verwandeln. Dazu gehörten die Begründung einer Ausbildung in Anthroposophischer Medizin (Ärztekurs) in Brasilien, die Gründung der Weleda in Brasilien und die Gründung der Clinica Tobias, wo die vielen anthroposophischen Anwendungen praktiziert werden konnten. Es war die erste anthroposophische Klinik außerhalb Europas. Dann waren es Biografiekurse und die Ausbildung zur Biografieberaterin in Europa und die Initiative zur ersten weltweiten Biografiekonferenz am Goetheanum. Sie gründete das Centro Paulus, ein Zentrum für medizinische und sozialpädagogische Kurse, und den Verein für Anthroposophische Medizin in Brasilien (abma), deren Präsidentschaft sie innehatte. In ihrer ärztlichen Tätigkeit wurde ihr zunehmend deutlich, dass die Heilmittel allein nicht immer helfen konnten und eine therapeutische Arbeit mit der Biografie den Heilungsprozess begleiten musste. Die Entwicklung der Biografiearbeit ist eine logische Konsequenz von Gudruns Mission. Es folgte die Errichtung einer Arbeitsstätte für die Biografiearbeit, das Artemisia, Zentrum für Biografiearbeit und Kurheim, und die Ausbildung zur Biografiearbeit in Brasilien. Im ‹Ruhestand› in Florianópolis, im Süden Brasiliens, baute und gründete sie das Therapeutikum Clinica Vialis und den Verein Sagres. Dort gibt es Räumlichkeiten zur Durchführung von Ausbildungen und Kursen, auch in Kunsttherapie, und die Unterkunft Acalanto. Sie schrieb Bücher zu den Themen Ernährung, Medizin, Biografie/Biografiearbeit. Ihr letztes Buch zum Leben ab 80 Jahren entstand anhand von Interviews mit über 80-jährigen Menschen. Wahrlich, Gudrun besaß die Kraft eines Berges!

Anfänge

Ihr Vater, Walter Krökel, hatte ihren bedeutsamen Namen (‹die um die Götter weiß›) ausgesucht. Er war Physiotherapeut und Naturheilkundler und 1920 aus Berlin nach Brasilien ausgewandert. Gudrun stammte aus seiner kurzen ersten Ehe. Seine zweite Ehefrau brachte die Verbindung zur Anthroposophie in ihre Leben. Gudrun wuchs als Einzelkind in São Paulo auf und beschrieb, wie sie viele Stunden in einer reichen Natur verbrachte und die ganze Familie im Sommer täglich in einem nahe gelegenen See badete. Mit 12 Jahren wusste sie, dass sie Ärztin werden würde, und mit 18 Jahren bestand sie gleich die erste Aufnahmeprüfung für die medizinische Hochschule und begann das Medizinstudium mit großer Begeisterung. In demselben Jahr begannen ihr Vater und seine Frau sich zunehmend für die Anthroposophie zu interessieren, besuchten Vorträge und Lesekreise etc., was auch Gudruns Interesse weckte. Sie wurde in den ersten Semestern zur besten Studentin, erhielt allerlei Auszeichnungen, gewann während der praktischen Arbeit im Krankenhaus das Vertrauen ihres Chefs und betreute bereits im vierten Studienjahr Patienten und Patientinnen, denen sie sogar schon Medikamente verordnen durfte. Besonders die Anatomie und Histologie faszinierten sie. Stundenlang arbeitete sie am Mikroskop, um die Bilder und Gewebe zu studieren: «Unter dem Mikroskop sah ich eine ganze Sternenwelt in Zellen.»

Gudrun Krökel-Burkhard und ihr Mann Daniel in Griechenland.

Erstes Leben – Medizin

Ihren ersten Ehemann, Peter Schmidt, hatte sie mit 22 Jahren bei einem Vortrag über Goethe kennengelernt und auch bald geheiratet. Beide fühlten, dass sie einen gemeinsamen Weg beschreiten würden. Kinder großzuziehen und eine eigene Familie zu haben, war für sie neu und musste Stück für Stück erarbeitet werden. Ihre beiden Töchter Aglaia und Solway kamen noch während des Studiums zur Welt. Ihre Söhne, Thomas und Tiago, kamen in ihrem 28. und 38. Lebensjahr. Mit 24 Jahren erhielt sie ihr Ärztediplom und arbeitete im Anschluss als Assistenzärztin in der Abteilung für innere Medizin der Universitätsklinik. Ihr Vater hatte ihr auch schon ein Sprechzimmer in seinem physiotherapeutischen Institut eingerichtet, wo sie bald die ärztliche Leitung übernahm. Als sie 26 Jahre alt war, fand die Gründung der ersten Waldorfschule in Brasilien statt, woran ihre Schwiegereltern Melanie und Hans-Ludwig Schmidt beteiligt gewesen waren. Gudrun entschloss sich, dort Schulärztin zu sein. Nun wollte sie die Anthroposophische Medizin erlernen und konnte für den anthroposophischen Ärztekurs in Arlesheim/Schweiz ein Stipendium der Weleda erhalten. Seitdem war sie stets um Aus- und Weiterbildung der Ärzte und Ärztinnen in Brasilien bemüht, wobei ihr Otto Wolf sehr zur Seite stand und selbst mitwirkte. Ihr 33. bis 35. Lebensjahr verbrachte sie zusammen mit ihrem Mann und den Kindern in Europa, wo sie eine Vielzahl anthroposophischer Therapien und Anwendungen kennenlernte und prägende menschliche Begegnungen hatte. Eine dieser Begegnungen war die mit Bernhard Lievegoed. Diese zwei Jahre zählten zu den fruchtbarsten ihres Lebens, sagte sie. In deren Folge ging es darum, die anthroposophischen Therapien und Anwendungen in Brasilien einzuführen und auch hierfür Kurse und Weiterbildungen zu organisieren. Es zeigte sich die Notwendigkeit, eine Klinik zu haben. Gudrun und Peter erwarben ein Grundstück, das unweit der Waldorfschule lag. Als Gudrun 39 Jahre alt war, wurde die Clinica Tobias eröffnet. Nachdem ihr Mann mit der sozialpädagogischen Arbeit in seiner Firma Giroflex begonnen hatte, wurde Gudrun dort Werksärztin. So entfaltete sich ihr Leben auf drei Gebieten: in der sozialpädagogischen Arbeit in der Firma ihres Mannes, in der Clinica Tobias und im Familienleben.

Zweites Leben – Biografiearbeit

Mit 45 Jahren begegnete sie Daniel Burkhard, der ihr zweiter Ehemann wurde. Im Februar 2005 schrieb sie: «So fing für mich ein neues Leben an. Peter, mit dem ich bis heute noch eine sehr starke und tiefe innere geistige Beziehung habe, hat sehr intensiv dazu beigetragen und geholfen, dass durch unsere Trennung nicht die allgemeine Arbeit in den verschiedenen Bereichen, besonders in der Klinik, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ich habe das Verhältnis zu meinem Mann immer als eine väterliche Beziehung empfunden, und bis heute hole ich mir Rat bei ihm. […] Rückblickend kann ich heute sagen, dass die Begegnung mit meinem zweiten Mann viele neue Elemente, die in mir schon angelegt waren, zutage gebracht hat. Durch Peter war ich mit sozialpädagogischen Fragen und der Arbeit von Professor Lievegoed schon in Kontakt gekommen. Durch die Beziehung mit Daniel hat sich dieses Element noch verstärkt. Nachdem Daniels Freund, Helmuth J. ten Siethoff, hier in Brasilien weilte und uns die Anregung gab, unsere Kräfte zu vereinen – Daniel als Betriebsberater und ich als Ärztin –, entschlossen wir uns, Biografie-Seminare ins Leben zu rufen. Hier haben wir ein gemeinsames Arbeitsgebiet gefunden, das sich im Laufe der Jahre immer mehr entfaltet hat.»1 Gudrun erhielt für ihre Arbeit mit der Biografie viel Unterstützung durch Michaela Glöckler, die Medizinische Sektion in Dornach und die Lukas-Klinik in Arlesheim. Für diese große und wertvolle Unterstützung war Gudrun tief dankbar. Dort konnte sie die Biografiearbeit mit Krebskranken durchführen. Darüber hinaus öffneten das Forum Kreuzberg in Berlin, die Klinik Lahnhöhe in Lahnstein und Der Hof in Frankfurt/Main ihre Türen für ihre Biografiekurse. Ab ihrem 50. Lebensjahr reiste sie zwei Mal im Jahr nach Europa und hielt in der Schweiz, Deutschland, Spanien, Portugal, Schweden und Großbritannien Biografiekurse.

Gudrun Krökel-Burkhard im Gespräch während eines Ärztekures im Centro Paulus, Brasilien.

In Brasilien gab es viele Studierende der Medizin, die nach Ausbildung und neuen Kursen verlangten. Auch für sozialpädagogische Fragen gab es ein wachsendes Interesse. So entschloss sie sich gemeinsam mit Alexander (Lex) und Johanna Bos, sozialpädagogische Seminare ins Leben zu rufen. Hierfür wurde ein neues Gebäude notwendig und es entstand das Centro Paulus, in dem bis heute zahlreiche anthroposophische Kurse stattfinden.

In ihrem 53. Lebensjahr kaufte Gudrun mit Daniel ein Grundstück am südlichen Stadtrand São Paulos, um mit dem Bau eines eigenen Wohnhauses und einer neuen Arbeitsstätte für die Biografiearbeit, der Artemisia, zu beginnen. Hier sind unzählige Menschen ein- und ausgegangen, sei es als Auszubildende oder als Kurgäste. Die Artemisia war ein Schmelztiegel menschlicher Begegnungen. Im Jahr 1993 stellte Gudrun die erste Ausbildungsgruppe zur Biografiearbeit in Brasilien zusammen.

Mit 65 Jahren beschloss sie gemeinsam mit ihrem Mann, Daniel, São Paulo zu verlassen und ihren Ruhestand in Florianópolis im Süden Brasiliens zu verbringen. Von einer Bootsfahrt mit Daniel berichtete sie: «Von dort beobachteten wir die Sonnenuntergänge und die Möwen und Taucher, die in die untergehende Sonne fliegen – derselbe Flug, den einmal die Seele nach dem Tod machen wird, losgelöst vom Körper. Es ist eine Vorbereitung auf den Sonnenuntergang des Lebens, der Übergang in den Kosmos, blau während des Tages und des Nachts gestirnt.»2 Auch im Ruhestand hier bewies Gudrun große Tatkraft. Sie empfing alle, die sie aufsuchten, beriet, schrieb Bücher, betreute ihre ‹Häuser› weiterhin, arbeitete immer künstlerisch: Sie malte ihre Lebensbilder, gestaltete Wollbilder, plastizierte. Bis in die Fingerspitzen ihrer sonnengebräunten Hände war unendliche Schaffenskraft. Mit 72 Jahren erfüllte sie sich den tiefen Wunsch, eine Kunsttherapie-Ausbildung zu begründen. Gudrun betätigte sich dort als Teilnehmerin, Organisatorin und Lehrerin. Sie beschäftigte sich eingehend mit Franz Marc und kopierte viele seiner Bilder in Originalgröße.

Von dort beobachteten wir die Sonnenuntergänge und die Möwen und Taucher, die in die untergehende Sonne fliegen – derselbe Flug, den einmal die Seele nach dem Tod machen wird, losgelöst vom Körper. Es ist eine Vorbereitung auf den Sonnenuntergang des Lebens, der Übergang in den Kosmos, blau während des Tages und des Nachts gestirnt.

Gudrun Krökel-Burkhard

Im Innern

Sie hatte nichts Überschwängliches, eher etwas Gehaltenes, wie der Berg. In dem Gehaltenen konnte man zuweilen auch etwas Einsames erleben. Sie ging offen und wach in jede Begegnung und nahm diese ernst. Sie war freilassend, ließ dem anderen Raum, verhätschelte nie und übte Urteilsfreiheit. Sie sagte nur Wesentliches und darum hatte jedes ihrer Worte Gewicht. Es war in all ihrem Wirken Bewusstheit, Präsenz, Zielgerichtetheit und Ernsthaftigkeit. Sie war ‹gelebte Anthroposophie›. Alles wurde umgesetzt in Tat und so war alles, was sie uns lehrte, selbst erarbeitet und gelebt. Nicht ausruhen auf den Qualitäten oder Fähigkeiten, die einem gegeben sind, sondern immer das erarbeiten und üben, was fehlt. Das Leben ist ein unaufhörlicher Quell der Entwicklung und ist als solches zu leben!

Gudrun Krökel-Burkhard

Anderthalb Jahre vor ihrem Tod hatten Daniel und sie den Entschluss gefasst, das geliebte Haus zu verlassen und in ein Altenheim zu ziehen. Das Organisieren der alltäglichen Notwendigkeiten war sehr mühsam und kraftraubend geworden und sie waren oft auf die Hilfe anderer angewiesen gewesen. Nun hatten sie mehr Ruhe und Zeit. Sie konnte nun auch das Groß- und Urgroßmuttersein, die Gesellschaft ihrer Familie mit Enkeln und Urenkeln genießen. Beeindruckend willenshaft waren auch die letzten Tage ihres Lebens bis zum Überschreiten der Schwelle. Diese waren von starken physischen Schmerzen, aber auch von Bewusstsein gekennzeichnet. Eine Woche vor ihrem Tod (am 28. September 2022) ließ sie sich von der Intensivstation auf eine normale Station verlegen und verkündete, dass sie sterben wolle. Sie bat ihre Familie und engsten Freunde zu kommen, um sich von ihnen zu verabschieden. Bis in die letzten Stunden hinein gab sie ihrer Tochter Solway Anweisungen, wie der Aufbahrungsraum herzurichten sei. Während Solway das letzte ihrer selbstgemalten Lebensbilder anbrachte, ging Gudrun nach erfüllter Mission über die Schwelle. Sie war ein Beispiel der Liebe zum Leben und der Ernsthaftigkeit, des Verpflichtetseins und der Verbundenheit gegenüber der Evolution. Sie begleitete viele Menschen und Gruppen, sie hatte alle im Blick und traf sich regelmäßig mit ihnen. Zu manchen pflegte sie einen persönlicheren Kontakt, half ihnen und unterstützte sie auf ihrem Weg, beschützte sie wie eine Mutter. Wir, die Autorinnen dieses Nachrufs, sind tief dankbar, dass wir uns zu diesen Menschen zählen dürfen.


Titelbild Gudrun Krökel-Burkhard. Alle Bilder wurden privat zur Verfügung gestellt

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Footnotes

  1. Gudrun Krökel-Burkhard, Das Leben in die Hand nehmen. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2012.
  2. Ebenda.

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