Sich und andere ernst nehmen

Vor Michaeli. Versuch einer Besinnung.


Angela Merkels oft zitierte Mahnung an die Bürger im Zusammenhang mit dem Corona­virus – «Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst» – könnte möglicherweise auch das Wort sein, das in einem ganz anderen Sinne Rudolf Steiner heute richten würde an Lehrer, Ärztinnen, Seelsorgerinnen, Eltern oder einfache Bürger, die mit Anthroposophie umgehen und deren Impulse in die Gesellschaft hineintragen: Anthroposophie ist ernst. Nehmen Sie sie auch ernst. Der Ernst ist – neben der Milde – eine Eigenschaft, die dem Erzengel Michael zugeschrieben wird. Dieses ‹Michaelische› spielt in der Waldorfpädagogik und im gesamten geisteswissenschaftlichen Werk Steiners eine zentrale Rolle. Michaelische Tugenden sind Mut, Wahrhaftigkeit und Unterscheidungsvermögen. Michael ist der Engel mit dem Schwert. Der Drachentöter St. Georg ist ein Held, der sein ganzes Ich einsetzt, um die Gefahr nicht zu leugnen, aber zu bannen, ins Verhältnis zu setzen und sie zu erkennen und zu entlarven als eine Prüfung, aus der dieses ‹Ich› paradoxerweise im selben Moment erst geboren wird und sich entpuppt.

Das Leben ist nicht schwarz-weiß, sondern bunt

Derzeit machen viele im Sozialen eine Erfahrung, die sie erschüttert, überrascht und verstört: Es entpuppen sich im Gespräch Menschen, die man für Weggefährten hielt im Anschauen der Welt, als ganz und gar anders Denkende und die momentane Welt ganz anders Erlebende, als Menschen, die einem fremd werden, und es entpuppen sich wiederum andere, mit denen man vorher nie etwas zu tun hatte oder nichts gemeinsam zu haben glaubte, als Seelen, die einen verstehen und die eigene Sicht und Sorge teilen. Hier scheiden oder meiden sich die Geister – dort suchen und finden sie sich. Das ist eine positive Entwicklung, insofern es die Chance eröffnet, dass sich (allzu) natürliche Koalitionen, Verwandtschaften und Lager – im Politischen, aber auch bezogen auf Milieus, auf den Lebenshabitus – auflösen und Bürgerinnen und Bürger sich rein als Individuen in ihrer gemeinsamen Intuition begegnen. Es könnte ein ganz neues Interesse heranwachsen am anderen Menschen und an dem, was in ihm denkt und empfindet.

Die Erfahrung lehrt, dass das moderne Leben nicht schwarz-weiß ist, sondern bunt. Nichts sind wir einander mehr schuldig als zu erkennen, wo etwas des Ernstnehmens wert ist, weil es auf einem lebendigen Gefühl, einer wahrhaftigen Erfahrung oder einem selbstverantworteten Gedanken beruht, und wo uns hingegen etwas begegnet, das nicht aus dem innersten Ich des Gegenübers stammt, sondern aus Vorstellungen, die der andere nicht loslassen kann oder die er aus einem Interesse heraus in mich hineinlegen will. Ich spüre dann, er hat kein Interesse am Austausch mit mir und am Verstehen unserer Seelen, um gemeinsam womöglich etwas völlig neues Drittes zu generieren, sondern er hat das Interesse, sich dessen zu versichern, dass ich moralisch auf einer bestimmten Seite stehe.

Sankt Michael in der Kirche in Havdhem auf Gotland, Schweden. Foto: Fabian Roschka

Jede und jeder kann in der Zeit, in der wir leben, auch außerhalb der Coronathematik, in Situationen kommen, wo sie oder er aus einem Kampf mit sich selbst, aus einem intimen Ringen mit einer Frage, einer Ambivalenz, nicht anders herauskommt als mit Kompromissen, mit einer Handlungsoption, unter der sie oder er selbst leidet, die unbefriedigend ist und die Angriffsfläche für Vorwürfe oder Schuldzuweisungen bietet. (Darunter zählen, im privaten Bereich, beispielsweise Trennungen oder auch die Frage ökologisch ‹korrekten› Verhaltens.) Deshalb gehört auch das zur Wahrhaftigkeit, dass wir dann als Freunde oder allgemein als Mitmenschen sagen: Ich sehe deinen Konflikt, ich sehe die Priorität, die du setzen musst, ich anerkenne dein Motiv, ich anerkenne deinen Kampf.

Das Heroische mit Milde nehmen

Natürlich kann es irritieren, wenn Waldorf­lehrer und -lehrerinnen, die jahrelang ‹Die Philosophie der Freiheit› oder die Dreigliederung studierten, sich auf den Standpunkt vermeintlicher Neutralität zurückziehen und achselzuckend oder stoisch betonen, dass man ‹die Regeln einhalten› müsse, auch wenn diese zum Teil unsinnig seien. Man möchte dann dem anderen sagen: «Du verbiegst dich, du wirst dir untreu, du verrätst alle deine Ideale, du bist feige.»

Aber so einfach ist es nicht. Auf der anderen Seite wäre es eine Hilfe, wenn man nicht ausgegrenzt würde, sobald man eine Diskussion anregen oder Zweifel bewegen möchte, die die Coronamaßnahmen betreffen. Hier hätten spirituell arbeitende Menschen die Möglichkeit, sich selbst – die eigene Angst, die sie unmutig und aggressiv macht – mit einem gesunden Abstand zu betrachten, um den Mitbürger oder die Kollegin nicht zu einem Gefährder oder einer Querulantin zu machen, sondern die anderen Gesichtspunkte einmal zu durchdenken oder als berechtigt zuzulassen.

Vielleicht gehört auch Milde dazu, das manchmal etwas gewollt Heroische, rhetorisch irgendwie Triumphale von Anti-Corona-Demos auszuhalten – vielleicht brauchen die Demonstrierenden dieses sprachliche Kleid, diese ‹Maske›, um sich Mut zu machen, wie andere Mitmenschen die andere Art Maske brauchen, um ‹demonstrativ› Schutz zu geben.

Doch auch in der Berichterstattung wird wenig unterschieden – etwa zwischen Infizierten und Erkrankten. Oder zwischen Protestierenden, die eigene Interessen mit dem Protest verbinden, und solchen, die aus Sorge um die Demokratie und die Zukunft ihrer Kinder auf die Straße gehen. Und natürlich gibt es auch Bösartigkeit, gibt es gezielte Lügen, auch das gehört zur Gegenwart, zum spirituellen Kampf um unsere Seele.

All das zeigt: Es gäbe derzeit nichts Wichtigeres als den seelischen Raum zu bewahren, ja neu zu erobern, neu zu öffnen und beherzt zu definieren, den uns die Maßnahmen notgedrungen immer mehr nehmen. Denn es ist die Seele, in der sich all diese Manöver und Konflikte abspielen. Es wäre ein erster Schritt, wenn jeder vom anderen hören würde: Ich anerkenne deine Ohnmacht und dein Ringen, ich respektiere deine Angst, ich anerkenne deinen Zorn, und wenn wir dies nicht verhindern würden durch kategorische Gesprächsverweigerung, durch Provokation, durch Unterstellungen in beide Richtungen und durch eine nicht mehr differenzierende und immer beziehungsloser und unwesentlicher werdende Sprache.

Die einen scheinen gerade mehr das Körperliche im Blick zu haben, die Materie: die Grenzen, die Schutzlosigkeiten, die Bedingungen des Menschlich-Irdischen – und die anderen das Ideelle, das Geistesleben, die Freiheit der eigenen Individualität. Aber im Sozialen, im Recht, dass sich alle Seelen artikulieren, ausdrücken, bekennen und auch sichtbar verbinden dürfen, in diesem Raum müssen wir uns frei begegnen können, diesen Raum muss es geben.

Das Ich als Seelenkern aktivieren und innerlich ausbreiten: indem wir die Seele ernst nehmen als den Ort von Ambivalenzen, als den Ort, wo wir in uns dem Drachen der Anpassung, dem Drachen der Überlegenheit, dem Drachen der Vereinfachung, dem Drachen der Furcht, dem Drachen der Mitleidlosigkeit und dem Drachen des Hasses begegnen.

All dies bedeutet auch – und diese Erkenntnis gibt Anlass zu Hoffnung –: Die Situation, die diese seelischen Möglichkeiten uns zu rauben im Begriff ist, ruft zugleich ihre Gegenbewegung bereits hervor. Sie weckt in uns die Notwendigkeit, dass wir das Ich als Seelenkern umso intensiver aktivieren und innerlich ausbreiten: indem wir die Seele ernst nehmen als den berechtigten Ort von Ambivalenzen, als den Ort, wo wir in uns dem Drachen der übereifrigen Anpassung, dem Drachen der moralischen Überlegenheit, dem Drachen der Vereinfachung, dem Drachen der irrationalen Furcht, dem Drachen der Mitleidlosigkeit und dem Drachen des Hasses begegnen. Die Seele ist der Schauplatz all dieser Gewissenskämpfe und der Ort auch von Uneindeutigkeiten. Den Kampf um das richtige Urteil, das richtige Handeln, den Kampf um ‹Wahrheit› kämpft unser Ich. Kämpfend wird es sich seiner selbst bewusst. Es sieht, wenn es nicht die geistigen Augen verschließt, auch die anderen kämpfen. In der Seele erleben wir, wie schwer dieses Ringen ist, wie verletzend, wie kompliziert – und doch auch wie menschlich, wie kostbar, wie notwendig.

Anstatt eine totalitäre, reduktionistische, Schwarz-Weiß-Moral (die es auf beiden Seiten geben kann) brauchen wir eine empathische, skrupulöse, zweifelnde Moral, eine michaelische Ethik, die Widersprüche und Ambivalenzen zulässt und die – vor allem – alle Fragen zulässt und nicht von vornherein aussiebt, was eine legitime Frage ist. In der Coronakrise sind ‹technische› und ‹pädagogische› Fragen ohnehin mehr denn je ineinander verschränkt. Eine solche spektrale, michaelische Moralität gerade in der Sprache ähnelt vielleicht der inneren Haltung, die Christiane Haid in ihrem Beitrag ‹Die verdeckte Sonne› (Goetheanum 35/2020) als die tastende und selbstlose des Kunstschaffenden beschreibt, eines «Experten im Umgang mit dem Ungewissen». Denn Kunst ist das offene Sich-Einstellen auf ein Zukünftiges, nicht das Vorstellen oder Erzwingen von dessen Gestalt, und auch Moralität entsteht aus schöpferischen Prozessen, in denen oftmals Selbstbilder geopfert werden müssen. Es hilft daher auch kein appellativer Moralismus, der sich etwa ‹gegen den Hass› wendet und sagt, dass der Hass ‹keinen Platz habe› in unserer Gesellschaft. Denn wo geht er dann eigentlich hin, der Hass, wenn wir ihn weit von uns weisen?

Vermutlich werden Michaelifeiern in diesem Herbst entweder nur rudimentär, vielleicht auch kreativ, jedenfalls anders stattfinden als sonst. Vielleicht werden sie auch abgesagt werden, wie bereits an manchen Schulen die Adventsbasare. Und werden wir Weihnachtslieder singen? Was kommt da auf uns zu, in diesem ‹Advent›, in dem sowohl die Ankunft steckt als auch adventure, das Abenteuer? Anthroposophie und Waldorfpädagogik müssen sich abenteuerlich mutig in die Kommunikation mit der Öffentlichkeit begeben, dem Drachen der Verzerrungen und Verkürzungen entgegentreten und den Schlagworten, Etiketten und Pauschalisierungen überraschende und vitale Begriffe gegenüberstellen, liebevolles Erkenntnisinteresse, anstatt den Grad des eigenen geistigen Mutes von möglichen Imageschäden abhängig zu machen und deshalb phrasenhafte Vokabeln, sei es eilfertig, sei es aus Kalkül oder sei es aus Verunsicherung, zu übernehmen.

Michaelisches Handeln wäre jetzt eigentlich ‹angesagt›, und anstatt dass Unmut herrscht, bräuchte es überall Mut. Aber Mut nicht zu ‹altem›, sich selbst feierndem Protest. Sondern es braucht den Mut, Schwäche zu zeigen und dadurch Brücken zu bauen – und anzuerkennen: Der Hang zur Bösartigkeit, zu Einseitigkeiten, ist immer auch in mir selbst.

Der heilige Georg tötet den Drachen nicht, sondern er hält ihn in Schach. Er ist in Beziehung zu ihm. Sprechen wir miteinander. Wenigstens das. Tabuisieren wir weder die Fragen der einen noch die Antworten der anderen. Das sind wir uns schuldig, wenn wir im Namen der Anthroposophie, einer die Realität des Geistigen konsequent ernst nehmenden Weltanschauung, eine Schule führen, Sakramente verwalten, Mediziner oder Künstlerinnen sind.

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