Vor hundert Jahren entwickelte Rudolf Steiner seine ‹Geschichtliche Symptomatologie› – ein Weg, um an der Erkenntnis der inneren Kräfte der menschlichen Geschichte zur Selbsterkenntnis aufzuwachen.
Zudem fragten wir den Historiker Johannes Kiersch: Was hat Sie in den Vorträgen Rudolf Steiners zur geschichtlichen Symptomatologie beschäftigt oder inspiriert und wie hat es Ihre Anthroposophie geprägt?
Der Beitrag von Andre Bartoniczek zur gleichen Frage kann hier gelesen werden.
Der Beitrag von Christiane Haid zu den 100 Jahre Geschichtliche Symptomatologie kann hier gelesen werden.
Die Wirklichkeit erscheint uns widersprüchlich. Und so finden sich auch im Weltbild der Anthroposophie immer wieder Dinge, die auf den ersten Blick wie Paradoxien anmuten. Rudolf Steiner schreibt im November 1903 für seine theosophischen Leser, in Anknüpfung an die Kosmologie der Helena Petrovna Blavatsky, von einem «göttlichen Weltenplan», der alle zukünftigen Ereignisse festzulegen scheint. (1) Zielsicher gab demgemäß im Jahre 1984 das Magazin ‹Der Spiegel›, einen prominenten Gewährsmann zitierend, seiner großen Reportage über die Anthroposophen die Überschrift: «Der Weltenplan vollzieht sich unerbittlich.» (2) Da blieb dann wenig Platz für Steiners ‹Philosophie der Freiheit›. Auch das ernste Wort im Mysteriendrama: «Es wird geschehen, was geschehen muss» scheint in diese Richtung zu gehen. Je nach Geschmack kann man das bedrückend finden oder beruhigend, vielleicht sogar tröstlich.
Ein ganz anderes Bild vom Geschichtsverlauf zeigt sich dann während der Umbruchzeit des Ersten Weltkriegs. Erst jetzt erscheint der Begriff der ‹geschichtlichen Symptomatologie› als Schlüsselwort für eine gänzlich neue Methode des historischen Erkennens. Vorher schon und auch später verwendet Steiner das Wort ‹symptomatisch›, wie wir es im Alltag verwenden und wie es unter Historikern schon längst im Sinne von ‹charakteristisch›, kennzeichnend für das Besondere einer Situation im Gebrauch war und ist. Stellenweise aber gibt Steiner jetzt dem Wort eine irritierende, völlig andere Bedeutung. Im Januar 1917 erzählt er von einem Besuch in Rom, wo ihm in der Eingangshalle eines vornehmen Hauses zwei besondere Porträts aufgefallen sind. Darin sei eine politische Botschaft versteckt gewesen. Erstaunlich ist nun, wie Rudolf Steiner diese kleine Beobachtung kommentiert. Wenn jemand ihn fragen würde, fährt er fort, wie er dazu komme, so etwas «im Leben so aufgesammelt [!] zu haben», würde er antworten: «Man erlangt im Verlaufe seines Lebens Kenntnis von solchen Dingen, wenn es das Karma so mit sich bringt, und wenn man dem Karma einen wirklich aufrichtigen, wahrheitsgemäßen Lauf lässt.» Dann trage einem «der Strom der Welt das zu, was zum Verständnis notwendig ist». (3) Jetzt orientiert sich also der historisch Erkennende nicht mehr an einem vorgegebenen Weltenplan. Mit aufmerksamer Gelassenheit geht er seinen Lebensweg. Wie am Wegrand aufblitzend, zeigen sich dabei «Symptome», die sich zu sprechenden Bildern zusammenfügen, imaginativ, nicht durch logisches Schließen. Die verstreuten Hinweise Rudolf Steiners münden dann im Jahre 1918 ein in die Vortragsreihe, deren Jubiläum wir jetzt feiern. Dort tritt eine sonderbare Gestalt paradigmatisch auf die Bühne: der englische König Jakob I., eine bedeutende Persönlichkeit, aber zugleich ein Mensch in Widersprüchen mit sich selbst, eine «Rätselgestalt», ein Mensch, «der in einem Gewande drinnensteckt, von dem ihm aber auch gar nichts passt». (4) Das alles hat viel zu tun mit unserer eigenen modernen Seelen- und Lebenslage im Zeitalter der Bewussstseinsseele. Wir müssen darüber nachdenken.
Walter Johannes Stein, der erste Geschichtslehrer der Waldorfschule, hat von den Ratschlägen berichtet, die Steiner ihm im Sinne solcher Ideen für seine Forschungen gegeben hat. (5) Ich bin dem neuen Ansatz von 1917 weiter nachgegangen (6) und habe davon nicht nur für den Unterricht in meiner Waldorfschule profitiert, sondern auch für eine umfassende Revision meines anthroposophischen Weltbilds. Dass die «geistige Welt», von der Rudolf Steiner erzählt, mich auf meinem Schicksalsweg von Tag zu Tag führt, dass ich in besinnlichem Rückblick die Weisheit dieser Führung staunend bewundern kann, dass mir dabei ein neues Daseinsvertrauen, ein optimistisches Grundgefühl zugewachsen ist, mit dem ich mich in einer verworrenen Gegenwart zuversichtlich zurechtfinden kann, verdanke ich der großen Entdeckung des Geisteslehrers von 1917. Vertieft wurde diese Erfahrung dann besonders durch die Hierarchienlehre Rudolf Steiners und durch die Übungsanleitungen der 14. bis 19. Lehrstunde seiner Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.
(1) GA 34, S. 537.
(2) Zusammengefasst in Peter Brügge: Die Anthroposophen. Reinbek bei Hamburg 1984.
(3) Vortrag vom 13.1.1917. GA 173c.
(4) Vortrag vom 19. Oktober 1918. GA 185, S. 35 ff.
(5) Johannes Tautz: Walter Johannes Stein. Eine Biographie. Dornach 1989.
(6) Vgl. meine Skizze von 1982, jetzt in Johannes Kiersch: In «okkulter Gefangenschaft»? Von der gewordenen zur werdenden Anthroposophie. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2018, S. 127–132.
Foto: Notizbuch Rudolf Steiners von 1918 mit Notizen zu den Vorträgen zu Geschichtlicher Symptomatologie, Rudolf Steiner Archiv, NB 67
Korrigendum (30.11.2018): In der früheren Version wurde als 3. Fußnote einen Vortrag vom 31. (und nicht vom 13.) Januar 1917 aus dem Band GA 174 (jetzigen GA 173c) genannt. Dies wurde oben angepasst.