Im Januar zeigte die Goetheanum-Bühne an sechs Abenden ‹King Lear›. Jetzt kommt die Inszenierung von Andrea Pfaehler erneut auf die Bühne der Schreinerei des Goetheanum. Zwei Rezensionen stimmen ein.
Herzog Albany sagt am Schluss von ‹King Lear› zu Edgar und Kent, denen er das Reich überträgt: «Herrscht, ihr beiden geliebten Freunde, heilt des Staates Leiden.» Diese Leiden der führenden Menschen des Staates erleben wir erschütternd in der Aufführung von ‹King Lear› am Goetheanum. Regisseurin Andrea Pfaehler und ihr Ensemble ziehen die Zuschauer durch eine hufeisenförmige Sitzordnung in die tragische Handlung mitten hinein. Es ist ein Schauspiel im Stile Cordelias:
Ermangl‘ ich auch der schlüpfrig glatten Kunst,
Zu reden nur zum Schein; denn was ich ernstlich will,
Vollbring ich, eh ich’s sage. (I/1)
Die Spielenden vollbringen das Spiel, und ihr Spiel wird Sprache. Jede Einzelne vollbringt in jedem Moment den eigenen Charakter. Der wiederum bestimmt die Beziehungen und beide zusammen formen die Haltungen, Gebärden und Taten. Aus ihnen entsteht die mitreißende Rede. Alles ist echt, so wahr wie echt und so schön wie wahr. Dramaturg Wolfgang Held sagt: «Es ist das Geheimnis solcher Bühnenstücke, dass sie immer von Neuem etwas sagen, sich nie erschöpfen …» Andrea Pfaehler antwortet: «Es kommt darauf an, keine Blume zu zertreten.» Und die Blumen blühen auf. Wir erleben einen Shakespeare, wie er selbst sich in seinem 18. Sonett besingt:
In ewigen Reimen ragst du in die Zeit
So lang als Menschen atmen, Augen sehn
Wird dies und du der darin lebt bestehn.
Es ist ein ‹gegenwärtiger› Shakespeare, eine Quelle von Schönheit, Weisheit und Kraft. Wer wie ich Aufführungen der Goetheanum-Bühne von der Mitte der 70er-Jahre an wahrgenommen und Christopher Marcus‘ ‹Hamlet› (ja, auch damals ein ‹Shakespeare›) Ende der 80er als großen Paukenschlag erlebt hat, der nach Wolfgang Held «das Theaterleben am Goetheanum in eine neue Zeit führte», der mag von Dankbarkeit erfüllt diese Inszenierung genießen. Es nimmt nicht wunder, dass gerade Christopher Marcus geholt wurde, um zur inneren Arbeit des Ensembles beizutragen.
Gesteigert bewusst im Zusammenwirken, in einem gereinigten Fühlen, gebiert dieses Ensemble sein Spiel aus der inneren Korrespondenz miteinander. «Sagt, was ihr fühlt, und nicht, was sich gehört» – dieser letzte Satz der Aufführung war Kern der Inszenierung, und so ist ihre Wirkung. Für Cordelia jedoch liegt genau in diesem Punkt der Keim ihrer Lebenstragik. Zu Beginn der Handlung sagt sie, was sie fühlt, nicht, was sich gehört, also nicht, was ihr Vater Lear von ihr erwartet. Doch diese Ehrlichkeit hindert sie, auf ihn einzugehen und so zu ihm zu sprechen, dass er ihre Liebe zu ihm empfinden kann. Sie bekennt:
Ich Unglücksel’ge, ich kann nicht mein Herz
Auf meine Lippen heben … (I/1)
Cordelia, die etwas sagen will und nicht die Worte findet; Lear, der bestimmte Worte hören will und nicht hinter das Schweigen seiner Tochter blicken kann. Hätte Cordelia anders gesprochen, wenn sie die Folgen ihres Schweigens vorhergesehen hätte? Sie ‹tat› es nicht, sie ‹konnte› es nicht. An ihrer Ehrlichkeit, strahlend schön wie ein Bergkristall, verletzt sich ihr Vater und verfällt in Trauer und Wut. Wie ein Orakelspruch erscheint sein Satz: «Aus Nichts wird Nichts.» Lear kennt, im hegelschen Sinne, nur das Etwas und seinen Gegensatz, das Nicht-Etwas: kein Liebesbeweis – keine Gegengabe. Er kennt nicht das schöpferische Nichts, das zwischen Menschen auftaucht, wenn das Etwas schweigt. Im tastenden Aufeinander-Zugehen entstünde neue Verbundenheit: Das Nichts verschwindet durch das Werden im Sein.1 Doch aus dem Nicht-Etwas gehen Trennung und Vertreibung hervor, die Tragik nimmt ihren Lauf.
Lear rechnet: drei Töchter – drei Teile des Reichs. Als er Cordelia den für sie vorgesehenen dritten Teil in seinem Zorn nicht mehr geben will, fordert er ihre Schwestern auf, ihn zu halbieren. So wie er das Reich räumlich dividiert, macht er es auch mit der Zeit: Je einen Monat will er bei Goneril bleiben und einen bei Regan. Und er behält 100 Soldaten für sich. Jedes Mal verkennt er die beteiligten Menschen und verrechnet sich dreifach.
«Der Weg vom Kopf zum Herzen führt durch den langen schmalen Hals», formulierte Wolfgang Held. Dieser Weg geht durch den Kehlkopf: dort entspringen Reden, Stammeln und Schweigen, dort entsteht der Ton, der die Musik macht. In klarer, ausdrucksvoller Sprachgestaltung drücken die Spielenden den Reichtum der Gefühle aus. Klaus Suppan entwarf eine Bühne mit Spielflächen, die die Wege der Persönlichkeiten im Haus und vom Haus ins Freie und wieder hinein ermöglichen. Er setzte alles in ein klares, stimmungsvolles, das Miterleben öffnendes Licht. Julia Strahl schuf stilvolle, charakteristische Kostüme. Dies alles ist in Andrea Pfaehlers Regie des Zuhörens geschmackvoll aufeinander abgestimmt und so wird das zu Vollbringende sichtbar.
Die Handlungslinien verschlingen sich tragisch und wecken Mitgefühl mit den Personen. Urs Bihler als Protagonist spielt virtuos, wie sich King Lear vom Kopf-Macht-Menschen zum Ausgestoßenen, Irrsinnigen wandelt und wie er im Leid lieben lernt, um seiner wiedergefundenen Tochter Cordelia schließlich nachzusterben. Yamila Klingler verkörpert die wahrhaftige, realistisch liebende, unerschütterlich treue Tochter Cordelia. Sangita Singh blickt als geistsprühender Narr in die Tiefe der Tragik und inspiriert mit lebhaft weisenden Worten die Wandlung.
Anna Sarah Waterstradt treibt als Goneril selbstherrlich und machtbewusst das Geschehen an und setzt verführerische Weiblichkeit politisch wirksam ein. Ludowika Held verkörpert ihre Schwester Regan überzeugend wie eine Antithese zu ihrem Gretchen im ‹Faust›. Dort war sie das durch Liebe wissend gewordene Opfer, hier ist sie die scharfsinnig beobachtende, rücksichtslos handelnde Herrscherin: «Es muss etwas geschehn, und in der ersten Hitze» (I/1). Dieses verhaltene Feuer bricht später in unheilvolle Eifersucht aus. Großartig ist entwickelt, wie beide Schwestern in ihrem Pakt dahin gelangen, sich gegenseitig umzubringen. Die in Körperhaltung und Diktion stark geformten Charaktere treten besonders markant hervor, wenn sie ihre Kernpositionen in den vorderen Ecken einnehmen – ein Glanzpunkt in Andrea Pfaehlers gekonnter Raumregie.
Lou Bihler als Cornwall überzeugt durch sein zielstrebiges opportunistisches Handeln, bis er den Tod im Degenkampf erleidet. Hugo Buser spielt Gonerils Haushofmeister Oswald (den «dienstbeflissenen Schurken», wie Edgar ihn nennt) als leichtgängiges Kugellager der tragischen Entwicklung.
Anstand und Fairness verkörpert Orell Semmelroggen als Herzog Albany. Am Ende der Tragödie leitet er glaubhaft in die Zukunft über. Mächtig konstruktive Kräfte bringt Isabelle Fortagne als Mylady Kent ein. Sie verkörpert die furchtlos ihrem Gewissen Folgende, die als Diener verkleidet King Lear, der sie verstoßen hat, die Treue hält.
Thorsten Blanke gibt den leichtgläubigen Vater von Edgar und Edmund, den politisch rechtschaffenen ‹Verräter› an Goneril und Regan. Es ist packend zu erleben, wie er durch schwerstes Leid lernt, sich mit dem Herzen zu sehen. Jonathan Bötticher überzeugt als Edmund, der Protagonist der zweiten Handlungslinie, mit seinen raffinierten Intrigen, mit denen er Gleichstellung in Macht, Besitz und Liebe zu erlangen sucht, daran scheitert und zugrunde geht. Rowan Blockey spielt seinen Bruder Edgar und wird wie der Vater Opfer der Intrige. Er fasziniert im Verkleidungsspiel als wahnsinniger Bettler, der Lear begleitet, nachdem er von Edmund zur Flucht genötigt worden ist. Ein realistisches Drama der Neuzeit, eine aktuelle Tragödie, ein prophetisches Stück – stilvoll inszeniert und aufgeführt!
Foto François Croissant