Rudolf Steiner hat die Mysterienschule am Goetheanum «esoterisch» genannt, und er hat dementsprechend das Leitungsgremium der Anthroposophischen Gesellschaft, als den ‹esoterischen Vorstand› bezeichnet. Dieser Tatbestand wirft Fragen auf, die heute, unter veränderten Zeitumständen, ganz anders zu beantworten sind als zur Zeit der Gründung im Jahre 1923/24.
Wohin entwickelt sich heute das Leitbild vom ‹esoterischen Vorstand›? Als Rudolf Steiner starb, erhob sich sogleich die Frage nach dem Fortbestehen des von ihm eingesetzten Lenkungsorgans, verknüpft mit der Frage, wie die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft als esoterische Institution ohne die Kompetenz ihres überragenden Gründers weiter zu führen sei. Auf beide Fragen gab es damals nur provisorische Antworten. Eine offene Diskussion der zu bewältigenden Probleme fand nicht statt. Marie Steiners nüchternes Urteil, der bestehende Vorstand sei «verwaist in seiner Kindheitsstufe», sei «ein Nichts», widersprach in eklatanter Weise den Erwartungen in der Mitgliedschaft, die von der Sorge um die Fortführung des begonnenen Werkes bestimmt waren.(1) Ihr Vorschlag, die Leitung von Gesellschaft und Hochschule gemäß der völlig veränderten Lage neu zu ordnen, konnte von den anderen Mitgliedern des Gründungsvorstands nur einhellig abgelehnt werden. Niemand nahm das irritierende Faktum ernst, dass Steiner die in den ‹Statuten› von 1923 vorgesehene Möglichkeit, einen Nachfolger einzusetzen, nicht wahrgenommen hatte. Wäre nicht Marie Steiner, die langjährige, bewährte und mit allen Vorgängen in der Anthroposophischen Gesellschaft aufs Engste vertraute Mitarbeiterin, hierfür prädestiniert gewesen? Oder Ita Wegman, die mit ihrer berühmten Frage nach einer erneuerten Mysterien-Medizin im Sommer 1923 den entscheidenden Anstoß gegeben hatte und die Rudolf Steiner im Herbst des Jahres 1924 immer wieder betont als ‹Mitleiterin› der Hochschule bezeichnet hatte? Oder Albert Steffen, der enge Freund und Gesprächspartner besonders der letzten Monate auf dem Krankenlager? Für keine dieser drei hervorragenden Persönlichkeiten hatte er sich entschieden. Und das natürlich nicht aus Schwäche oder Lässigkeit, sondern aus guten Gründen. Es gab also keinen offiziell eingesetzten Nachfolger. Und es wurde völlig übersehen, dass in diesem überraschenden, rätselhaften Faktum womöglich eine Botschaft versteckt war: der Auftrag, aus eigener Einsicht in die unerwartet eingetretene neue Lage und aus unbefangener Wahrnehmung des besonderen individuellen Strebens eines jeden Beteiligten gemeinsam, ohne Weisung von oben, die nächsten Schritte zu tun.
Weisheitsstrom statt Herzklang
Bestimmend war jetzt vor allem die Besorgnis, das durch die Zeitumstände bedrohte gemeinsame Werk könne durch allzu kühne Neuerungen auch von innen gefährdet werden und der einzigartige dynamische Aufbruch des Jahres 1924 in Streitigkeiten untergehen. So kam es, nach einer Auseinandersetzung hinter den Kulissen, zu einer beruhigenden Erklärung des Vorstands im Nachrichtenblatt, mit der die anstehende Neubesinnung eher verdeckt als gefördert wurde.(2)
Ein weiteres gravierendes Faktum kam hinzu. Steiner hatte sich schon in der Esoterischen Schule der theosophischen Zeit auf die ehrwürdige alte Formel von den «Meistern der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen» berufen. Auf der Weihnachtstagung von 1923/24 hatte er betont, es sei für die angestrebte «wahre Esoterik» nötig, «dass die Herzen zusammenklingen können». Als er starb, stand ganz im Vordergrund der Aufmerksamkeit das Weiterfließen des Weisheitsstroms. Die Mitglieder des Gründungsvorstands, in der feierlichen Ergebenheitsadresse einer Gruppe prominenter Mitglieder individuell gewürdigt, verkörperten offensichtlich ‹Weisheit›‚ oder in heute geläufiger Sprache gesagt: überragende intellektuelle und im Leben bewährte Kompetenz. Vom ‹Zusammenklang der Herzen› hingegen waren sie weit entfernt. Und dass damit der von Steiner eingesetzte ‹Gründungsvorstand› sogleich alles andere als ‹esoterisch› war, wurde übersehen oder verdrängt.
Schon unmittelbar nach dem Tode Steiners orientierte sich deshalb die anthroposophische Bewegung an einer inhaltsleeren Fiktion. Das Reden vom ‹esoterischen Vorstand› entfaltete ein gespenstisches Eigenleben mit fatalen Folgen. Vorstellungen von einer Art apostolischer Sukzession mischten sich ein, Vorstellungen von aus der geistigen Welt legitimierten Ämtern und Würden, schließlich Ansprüche auf Weisungsbefugnis in allen Dingen des anthroposophischen Lebens, Streit und Zank. Bitter schreibt ein nüchterner Beobachter wie Emil Leinhas im Jahre 1947: «Wir haben einen ‹esoterischen Vorstand›. Er besteht glücklich noch aus drei Persönlichkeiten, von denen der Vorsitzende öffentlich erklärt, er könne mit einer dieser Persönlichkeiten nicht mehr zusammenarbeiten. Am 24. Juni dieses Jahres waren es 4, in Worten: vier Jahre, seitdem dieser ‹esoterische Vorstand› seine letzte Sitzung abgehalten hat.»(3) Zumindest bis zum Tode Albert Steffens und Guenther Wachsmuths im Jahre 1963 berief man sich in weiten Teilen unserer Bewegung auf die längst absurd gewordene Vorstellung von der geistigen Autorität des ‹esoterischen Vorstands›.
Niemand nahm das irritierende Faktum ernst, dass Steiner die vorgesehene Möglichkeit, einen Nachfolger einzusetzen, nicht wahrgenommen hatte. Es wurde völlig übersehen, dass in diesem überraschenden, rätselhaften Faktum eine Botschaft versteckt war.
Höchste Zeit für einen Gedankenaustausch
Mit der Rückkehr der 1935 ausgeschlossenen Mitglieder in die Anthroposophische Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Abflauen des unseligen Nachlassstreits verlor das Reden vom ‹esoterischen Vorstand› an Strahlkraft. Manfred Schmidt-Brabant schreibt im Februar 1997, dass «schon vor Jahren» Mitglieder des Vorstandes «zum Teil auf Generalversammlungen» erklärt hätten, «dass weder der Vorstand als Ganzer noch Einzelne eine irgendwie geartete spirituelle Sukzession von Rudolf Steiner her beanspruchen oder annehmen oder auch nur irgendwie empfinden».(4) Der alte Anspruch war damit in aller Form aufgegeben, aber bis heute ist von dieser verdienstvollen Feststellung nicht viel die Rede. Immer noch gibt es Mitglieder, denen es sympathisch ist, sich von einem ‹esoterischen› Gremium getragen und geführt zu fühlen, manchmal auch solche, die dadurch ihre eigene Würde als gestärkt empfinden. Wie aber, wenn es in der Anthroposophischen Gesellschaft einen ‹esoterischen Vorstand› ganz offiziell nicht mehr gibt und seit Steiners Tod faktisch nie gegeben hat, legitimiert sich dann die Leitung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft als einer ‹esoterischen› Institution? Dass diese Hochschule sich als ‹esoterisch› versteht, beruht ja nicht auf der Exklusivität ihrer Lehrinhalte oder irgendwelchen Geheimhaltungsansprüchen. «Sie wird dafür sorgen, dass man immer wissen wird im weitesten Umfange, was sie tut», sagt Steiner über diese Einrichtung.(5) Womit also begründet heute die Hochschulleitung ihr Selbstverständnis als maßgebliches Organ einer ‹esoterischen› Schule? Es ist höchste Zeit, über diese Frage in einen öffentlichen Gedankenaustausch einzutreten.
Zunächst einmal ist dabei das grandiose Leitbild ins Auge zu fassen, das Steiner den Mitgliedern der neu begründeten Anthroposophischen Gesellschaft auf den Weg ihres weiteren gemeinsamen Strebens mitgegeben hat: das Goetheanum als ‹Herz› im Organismus der anthroposophischen Bewegung, als Organ des Wahrnehmens und des Ausgleichens zwischen Peripherie und Zentrum.(6) Betont spricht Steiner auf der Weihnachtstagung von dem Kreis der «Korrespondenten» des Goetheanum in aller Welt als dem «ganz gleichwertigen äußeren Kräftevorstand», mit dem der Vorstand in Dornach zusammenarbeiten wolle. Im Hin und Her der ‹zentrifugalen› und der ‹zentripetalen› Impulse werde sich das Leben der Gesellschaft fruchtbar entfalten. Dementsprechend setzt er ab Februar 1924 als ‹Vermittler› des esoterischen Lehrguts der Freien Hochschule bewährte Leute seines Vertrauens ein, von denen er erwartet, dass sie die Mitglieder der ‹Ersten Klasse› an der Peripherie an die mantrischen Inhalte der Lehrstunden aus individueller Verantwortung und Kompetenz, gemäß den jeweiligen menschlichen Umständen, heranführen sollten, ohne die Nachschriften der von ihm selbst in Dornach und anderen Orten gehaltenen Stunden zu kennen.(7) Offensichtlich vertraute er darauf, dass diese ‹Vermittler› über eine hinreichende Intuitionskraft verfügten, ihre individuell gehaltenen Lehrstunden als authentische Neuschöpfungen aus lebendiger Geisterfahrung gestalten zu können, dazu befähigt durch den eigenen meditativen Umgang mit den ihnen anvertrauten Mantren und ihre Kenntnis der lokalen Umstände. «Diese Institution», schreibt er im April 1924 im Nachrichtenblatt, «kann nicht aus abstrakten Überlegungen von ‹oben her› zustande kommen. Sie muss aus den Bedürfnissen unserer Mitgliedschaft von ‹unten her› entstehen.» (8)
Kompetenz aus stiller Arbeit
Natürlich war damit nicht gemeint, dass die gewaltigen Inhalte der esoterischen Lehrstunden ‹von unten her› zu entwickeln seien. Diese waren ihm als Offenbarungen ‹von oben› geschenkt worden, er hatte sie in die Form unantastbarer Mantren geprägt und als selbstverantwortlicher Leiter an die Mitglieder der Hochschule weitergegeben. Wohl aber erwartete er individuell verantwortete Hinführungen, nach dem Vorbild der von ihm selbst gehaltenen Stunden, aus den je besonderen Bedürfnissen der Mitgliedschaft durch die persönliche Intuitionskraft der ‹Vermittler› an ihren besonderen Orten in aller Welt. «Diejenige Persönlichkeit, die die Mantren sprach», schreibt Marie Steiner, «sollte sich erarbeiten dasjenige, was sie als Verbindendes zu diesen Sprüchen zu sagen hatte. Er wollte also eine Art selbständiger Arbeit an den Sprüchen, natürlich auf Grund des erhaltenen Weisheitsgutes.» (9) Mit Recht hat deshalb Hans Broder von Laue darauf hingewiesen, dass Steiners in der Klassenstunde vom 12. Juli 1924 mehrfach auftretende Rede von den «esoterischen Schulen» nicht etwa als Hinweis auf andere Weisheitsschulen aufzufassen ist, sondern dass damit die individuell zu entwickelnden Einrichtungen an der ‹Peripherie› der anthroposophischen Bewegung gemeint waren, für die er die ersten ‹Vermittler› eingesetzt hatte. (10)
Blicken wir angesichts dieses Tatbestandes auf die aktuelle Situation der Hochschule in unserer Gegenwart, so fällt zunächst ins Auge, wie sich die Arbeitsformen differenziert haben. Noch im Jahre 1951 schrieb Hermann Poppelbaum im Namen des Dornacher Vorstands auf eine entsprechende Anfrage hin: «Der Vorstand ist der Ansicht, dass die Besprechung der Mantren in Gruppen nicht das Richtige ist, da es Verantwortungen mit sich bringt, die niemand heute erfüllen kann.» (11) Zur gleichen Zeit war eben diese Form der esoterischen Arbeit in Norwegen bereits im Gang. Jörgen Smit, als er später in Dornach tätig war, sorgte aus der Vollmacht der bei dieser stillen Arbeit erworbenen Kompetenz dafür, dass Versuche mit ‹frei› gehaltenen Klassenstunden in Gang kamen, daneben auch Versuche in der Form freier Gespräche über die Inhalte. Heinz Zimmermann hat in einer wegweisenden Studie die Möglichkeiten solcher Arbeitsformen im Einzelnen beschrieben. (12) Seit der Veröffentlichung der Textnachschriften im Jahre 1992 sind an vielen Orten Arbeitsgruppen entstanden, die in ganz eigener Form, ohne Beziehung zum Goetheanum, ihren besonderen Zugang zu den esoterischen Inhalten der Hochschule suchen. Wie ist es möglich, unter diesen Umständen an eine zentrale ‹esoterische› Hochschulleitung im Sinne Steiners zu denken?
Halten wir uns doch an die Lebenstatsache, dass alle Menschen im Sinne der Anthroposophie ‹lntuitionen› haben. Gewöhnlich bleiben diese lntuitionen unbewusst. Sie lenken unser Handeln, ohne dass wir davon wissen, oft in ganz erstaunlicher Weise. Steiner vergleicht sie mit «Perlen», die wir achtlos am Wege liegen lassen. (13) Auf den Übungswegen der Anthroposophie werden sie mit der Zeit bewusster wahrgenommen. Wer hierauf aufmerksam wird, kann bemerken, dass es einen überraschenden Zusammenklang der Intuitionen von Menschen geben kann, die miteinander arbeiten. lm alltäglichen Betrieb spricht man dann vom ‹Teamgeist› oder von ‹Corporate Identity›. Wer etwas Derartiges beobachtet, wird Steiners große ldee vom ‹Herzen› als Organ des ‹Blutkreislaufs› so verstehen und auf die Funktion des Goetheanum anwenden können, dass er sich sagt: Steiner scheint doch erwartet zu haben, dass Intuitionen im ‹Zentrum› der anthroposophischen Bewegung mit lntuitionen an der ‹Peripherie› in ein produktives Zusammenwirken gebracht werden können. Die Frage, ob der Vorstand in Dornach ‹esoterisch› sei, ex officio sozusagen, stellt sich heute gar nicht mehr. Jede Berufung auf eine geheiligte Sukzession nach dem Tod des großen Lehrers hat sich durch den Gang der Ereignisse als absurd erwiesen. Der Dornacher Vorstand hat das nach jahrzehntelangem Festhalten an der Fiktion von 1925 eingesehen und sich dementsprechend korrigiert. Aber genau so, wie ich mich durch anthroposophisches Üben davon überzeugen kann, dass ich selbst Intuitionen habe, kann ich doch auch, zumindest gelegentlich, bemerken, dass lntuitionen im ‹Zentrum› auftreten. Der Geist weht, wo er will. Er spricht heute nicht mehr von Amts wegen, wie das in alten Kulturen der Fall war. Die Frage, ob der Vorstand in Dornach ‹esoterisch› sei, lässt sich nicht durch Tradition und Logik beantworten. Sie findet ihre Antwort – wenn es gut geht – durch selbstlose Aufmerksamkeit und durch Erfahrung. Und durch den guten Willen zur Zusammenarbeit.
Dieser Text erscheint in der dritten Auflage des Buches: In ‹okkulter Gefangenschaft›? Von der gewordenen zur werdenden Anthroposophie. Info3-Verlag, Frankfurt 2018.
Zeichnungen: Philipp Tok, Spuren der Aufmerksamkeit, Vektorisierte Tinte, 2019
(1) Zu den Einzelheiten hier und im Folgenden siehe Johannes Kiersch: Steiners individualisierte Esoterik einst und jetzt. Dornach 2012, S. 79 ff.
(2) Nachrichtenblatt vom 3.5.1925.
(3) Emil Leinhas, Aus meinem Dornacher Tagebuch. Manuskriptdruck. Archiv am Goetheanum, Frühjahr 1947.
(4) Nachrichtenblatt Nr. 47, 23.2.1997, S. 281.
(5) Vortrag vom 30.1.1924, GA 260a, S. 128
(6) Siehe dazu Hans Christoph Kümmell, Herz-Kreislauf-System und soziale Gestaltungen. Das Goetheanum Nr. 42, 13.10.2006.
(7) Dies betrifft auch Lili Kolisko, die ihre eigenen Notizen aus den Dornacher Stunden in Stuttgart vorlesen durfte. Sie erhielt die professionellen Nachschriften von Helene Finckh erst lange nach Steiners Tod.
(8) Nachrichtenblatt vom 6.4.1924.
(9) Notizbuch Nr. 20, Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach.
(10) Hans Broder von Laue, Die Frage der Berufung. Nachrichtenblatt 26/2009, S. 3 f.
(11) Poppelbaum an Frau Ludwig, 4.4.1951. Archiv am Goetheanum.
(12) Heinz Zimmermann, Die Lebensbedingungen der Anthroposophie heute. Ziele und Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Dornach 2007.
(13) Vortrag vom 29.5.1913, GA 146.