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Selbst-bestimmtes Füreinander

Multipolares Chaos oder Übergang in neues Denken? Unipolar, bipolar, multipolar – wohin treibt dieses Karussell? Es könnte einen der Schwindel erfassen angesichts der Geschwindigkeit, mit der heute immer zahlreichere Konflikte aufbrechen, die das Zeug haben, Krieg zum Normalzustand rund um den Globus werden zu lassen. Ein Plädoyer für eine globale wirtschaftliche Brüderlichkeit.


Müssen wir uns an eine Welt gewöhnen, in der Lebensqualität nur erhalten werden kann, wenn ‹Abschreckung› praktiziert wird? Unter solchen Umständen hieße Multipolarität nur Multiplizierung der nationalen Konkurrenz unter Stichworten wie ‹America first›, größeres Europa, Russland, China, Iran usw. bis hinab zu den kleinsten neuen Nationalstaaten oder autonomen Regionen.

Multipolarität kann aber auch das Stichwort für einen Übergang in eine Zukunft sein, welche die Konkurrenzgesellschaft hinter sich lässt – wenn die Bedingungen, die heute herangereift sind, wahrgenommen werden. Dies mag angesichts der real zunehmenden Spannungen in der Welt jetzt als unmöglicher Sprung erscheinen. Tatsächlich findet der Sprung seine Dynamik gerade in der widersprüchlichen Realität unserer Gegenwart, in welcher die drohende Katastrophe sich in den unabweisbaren Imperativ verwandelt, die lange herangereiften Bedingungen, die einen sozial förderlichen Umgang der Menschen miteinander ermöglichen können, aktiv zu ergreifen – geistig, sozial und kulturell.

Einfach gefasst sind dies:

· In der arbeitsteiligen Weltwirtschaft von heute arbeitet die Mehrheit der Menschen immer weniger nur für sich selbst, soweit es die Herstellung der Produkte betrifft. Wir arbeiten in zunehmendem Maße für andere, generell gesprochen, für eine gegenseitige Versorgung, die den einzelnen Menschen trägt. Niemand müsste ‹überflüssig› sein, wenn dies verstanden und gefördert würde.

· Die weltweite Verflechtung der Wirtschaft hat den ‹einheitlichen Nationalstaat› schon längst überholt. Im Zuge technischer Vernetzung ermöglicht sie zugleich neue Verbindungen mit wirtschaftlichen Kreisläufen vor Ort, wenn nationalistische Interessen nicht störend dazwischengehen.

· Die kulturelle Entwicklung der Welt weist, allen noch bestehenden Rückbindungen zum Trotz, auf einen Zugewinn an Freiheit für den einzelnen Menschen bei gleichzeitig wachsendem Bedürfnis nach Empathie und spiritueller Sinnfindung hin.

Wir schaffen schon längst tagtäglich ein gemeinsames Kapital, aus dem das Einkommen für die einzelnen Menschen nicht mehr im Stücklohnverfahren, sondern pauschal generiert werden könnte. Arbeit wird von einer individuellen Lebensvorsorge tendenziell zur Dienstleistung an der Gesellschaft. Je bewusster dies geschieht, desto mehr kann sie sogar zur Liebestat für die Mitmenschen werden. Das ist natürlich nicht erst seit heute so, aber der Stand der Produktivkräfte erlaubt diese Entwicklung auf einem neuen, erhöhten Niveau.

Überwindung des natürlichen Egoismus ist unter solchen Bedingungen nicht mehr nur eine moralische Forderung, mit der die Realität der gegenseitigen Ausbeutung bisher immer wieder von ihrer Rückseite her aufrechterhalten wurde, sondern kann zum Lebensalltag werden, der aus dem realen Grad unseres heutigen Entwicklungsstandes erwächst.

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Wir haben die Chance, von der Konkurrenzgesellschaft auf die nächste Stufe einer Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe auf der Basis des füreinander erarbeiteten Kapitals überzugehen.

Es bedarf keiner moralischen Zeigefinger, keiner ausgedachten Utopien, keiner blutigen Umstürze des Bestehenden. Es geht ‹nur› darum, die Tatsache, dass wir alle bereits in hohem Maße füreinander tätig sind, bewusst wahrzunehmen – und Verhaltensweisen und Strukturen im sozialen und politischen Umgang miteinander auf den Weg zu bringen, die der bereits herangereiften Realität der entstehenden Dienstleistungsgesellschaft entsprechen und ihre weitere Entwicklung fördern, lokal wie global.

Soll keine(r) sagen, dass das nicht möglich sei – es wird ja in Teilen der Gesellschaft, wo öffentliche Dienste geleistet werden, schon lange praktiziert – allerdings bisher sozusagen zwangsweise durch den Staat, der etwa Lehrern und anderen öffentlich tätigen Menschen ein Einkommen für ihre Dienste unabhängig von ihrer Stunden- oder Stückleistung zukommen lässt. Ähnliches gilt, vom Staat unabhängig, für große übernationale Korporationen, wo der Einzelne im kooperativen Netz tätig ist. In unzähligen kleineren Unternehmen und Basisinitiativen werden solche Lebensformen heute, häufig spirituell getragen, zudem rund um den Globus in zunehmendem Maße erprobt.

Wir haben die Chance, von der Konkurrenzgesellschaft auf die nächste Stufe einer Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe auf der Basis des füreinander erarbeiteten Kapitals überzugehen, wenn wir diese Ausgangsbedingungen nutzen und auch bereit sind, Widerstände in Kauf zu nehmen. Eine multipolare Welt, eine multikulturelle Gesellschaft kann dann ein Zukunftsentwurf werden, wenn sie sich um diese Achse des selbstbestimmten Füreinanders statt eines Gegeneinanders dreht.


Dazu das Buch: Kai Ehlers, ‹Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen›, BOD, zu bestellen über www.kai-ehlers.de

Bild: Lena Bell

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