Schweigen für die Kultur

Am Montag vor zwei Wochen zog sich durch Basel eine Lichterkette. Im Corona-Abstand mit Mundschutz und Kerze in der Hand standen 1000 Kulturschaffende quer durch die Innenstadt.


‹Kulturschweigen› hatten die Organisatorinnen und Organisatoren vom Sinfonie-Orchester Basel und Andreas Böttiger für die freie Szene die stille Demonstration genannt. Man solle sein Instrument, sein kulturelles Arbeitsgerät mitbringen, so lautete der Hinweis. Also reihten zur besten Einkaufszeit der Kulturmetropole Basel sich Geiger und Sängerinnen, Schauspielerinnen und Tänzer ein. Der Protest, an dem auch Mitarbeitende des Goetheanum teilnahmen, richtet sich gegen die neuen Regeln zur Eindämmung des Virus. Man sehe doch, so erklärten die vielen Ordner und Ordnerinnen den vorbeilaufenden Passanten, dass sich Veranstaltungen mit Schutzkonzept gefahrlos durchführen lassen. Keine einzige Infektion sei selbst bei dem Konzert im Stadtcasino mit 1000 Zuschauenden gemeldet worden. Auch am Goetheanum fand im September die Jahreskonferenz der Medizin mit 800 und Ende Oktober die ‹Faust›-Aufführung mit 700 Zuschauern statt, ohne dass dabei eine Ansteckung gemeldet wurde.

Was ist Kultur?

Ein anderes Beispiel: Die Wiener Philharmoniker haben sogar eine Japan-Tournee im Oktober möglich gemacht. Von Behörden wird das nicht bestritten, aber geltend gemacht, dass auf dem Weg zum und vom Veranstaltungsort es zu Ansammlungen kommen könne, die man nicht im Griff habe. Jetzt liegt das erlaubte Limit bei Veranstaltungen bei 50, im Kanton Solothurn bei 30 Personen. In einem offenen Brief fordern die Musikschaffenden den Bundesrat und die politischen Verantwortlichen in Basel auf, «eine stärkere Differenzierung bei der Bewertung des Sicherheitsrisikos bezüglich Veranstaltungen vorzunehmen». Auch Finanzhilfen und Ausfallentschädigungen für geplante Konzerte seien nötig.

Dass man die Kultur als nicht systemrelevant verstehe, sondern sie der Freizeit und Zerstreuung zuschlage, das vermuten nicht wenige hinter den Entscheidungen. Sie sei vielleicht nicht ‹systemrelevant›, aber die Kultur sei ‹humanrelevant›, antwortet der Soziologe Andreas Reckwitz. Tatsächlich lässt der erneute kulturelle Lockdown fragen, was Kultur ist und wofür man Kultur braucht.

Was wir mit Kultur meinen, hat sich verändert, beschreibt Dirk Baecker, Soziologe und Kulturtheoretiker in Witten Herdecke. Vom lateinischen ‹cultura›, dem Landbau, und ‹colere› für bebauen, pflegen stammt die Idee, dass sich Kultur wie beim Acker pflegen lässt, sodass sie Früchte schenkt, auch der Seele. «Cultura animi» ist die kultivierte Seele. Wie beim Acker, wo im Boden, sobald er umgegraben, gesät und gewässert ist, die Pflanzen gemäss ihrer Art wachsen, bedeute Kultur einen Umgang mit dem Unverfügbaren, mit dem, was man nicht ändern kann. Zu diesem klassischen Kultivieren, bei dem man die Umgebung mit menschlicher Hand und Verstand ordnet und pflegt, fügt sich, je mehr wir die Vielfalt menschlichen Lebens entdeckt und schätzen gelernt haben, seit 200 Jahren ein neuer Kulturbegriff.

Kultur bedeutet, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was die Umgebung von uns erwartet, will und bietet, und dem, was als inneres Leben durch die Seele zieht, was man denkt, fühlt und hofft.

Die Unternehmerin Kerstin Eisenschmidt gibt zur Frage, was Kultur heute bedeute, ein Beispiel: Man sei mit viel Arbeit im Büro beschäftigt und komme am Kopierer vorbei, wo zwei Mitarbeitende sich ausgelassen unterhalten. Was denkt, was fühlt man jetzt? Die Skala reicht von: «Die nehmen ihre Arbeit nicht ernst» bis zu «Die wissen sich auszutauschen und zu entspannen, da stell ich mich dazu». Was wir über das Gesehene denken und fühlen, das bestimmt unsere kulturelle Identität. Kultur bedeutet, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was die Umgebung von uns erwartet, will und bietet, und dem, was als inneres Leben durch die Seele zieht, was man denkt, fühlt und hofft. Die Liste der verschiedenen Kulturen ist deshalb lang, von östlicher und westlicher Kultur über Tisch- und Arbeitskultur bis zu Leit- und Subkultur. Wir lernen, dass es fragwürdig ist, von einer höheren und niederen Kultur zu sprechen, es vielmehr um die gegenseitige Bereicherungverschiedener Kulturen geht.

Schöpfer und Geschöpf von Kultur

Hubertus Busche, Uni Hagen, nennt in der Zeitschrift ‹Dialektik› unter ‹Was ist Kultur› vier Grundbedeutungen von Kultur. Die Gesellschaft und der oder die einzelne betreiben Kultur, das ist die Pflege der Natur durch uns Menschen. Man hat Kultur, das sind die Fähigkeiten, Gewohnheiten und Sitten, die eine Gemeinschaft zusammenhalten. Man lebt in einer Kultur, das ist die gemeinschaftliche Sphäre, in der man lebt, der typische Traditionszusammenhang von Lebens- und Geistesformen, durch die sich die Völker und Epochen unterscheiden. Schließlich schafft man Kultur, das sind die Werke und Werte der Kunst und Philosophie, die Empfindungen von Moral, Schönheit und Freiheit wachsen lassen. Das zeigt die Widersprüchlichkeit: Wir sind Geschöpf und Schöpfer der Kultur.

Wenn nun Kultur bestimmt, wie man über etwas denkt, dann wird sie umso wichtiger, je schwieriger es ist, über die Welt und sich die angemessenen Gefühle und Gedanken zu finden. Heute ist das Leben widersprüchlich. Es ist kompliziert und einfach zugleich, es ist so frei und doch reguliert, es ist spirituell bis in die Werbung und zugleich materialistisch und ökonomisch bis in die Familie hinein. Mit diesen Widersprüchen umgehen zu können, sodass man sie nicht als Ärgernis erträgt, sondern als Lebendigkeit unserer Gesellschaft willkommen heißt, das lernt man durch Kultur. Ein Klavierkonzert von Beethoven zu hören, live, das bedeutet, zu verfolgen, wie sich eine Seele rüttelt und aufbäumt und dann in sich ihren Halt finden kann. Ein Theaterstück, vielleicht den ‹Faust› zu sehen, bedeutet, verstehen zu lernen, wie Irrtum und Entwicklung oft zwei Seiten einer Medaille sind. «Die Tür zum Himmel und zur Hölle ist die gleiche», schrieb Martin Kollewijn hier im Goetheanum. Wenn Kultur uns möglich macht, uns in dieser Welt und in uns zurechtzufinden, dann gehört es zum Krisenmanagement, gerade dann, wenn dieser Stresstest menschlichen Verhaltens läuft, die Kultur doppelt zu fördern. Neben den Virologen sollten dann die Maler, Musikerinnen und Schauspieler sitzen.


Foto: Wolfgang Held

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