Schach zwischen Raum und Zeit

Das Schachbrett ist ein Raum für Begegnung, Intimität und Entwicklung. Eine Betrachtung über die Potenziale und Nuancen des Spiels der Könige und seine heutige Popularität in der digitalen Sphäre.


Am Morgen nach einem Nachtflug zur Konferenz der Jugendsektion in Georgien kam ich bei einer Schachpartie mit Mitgliedern der Jugendvereinigung Parzival ins Gespräch. Das Schachbrett war unter einem großen Vordach an der Rückseite des Schulgebäudes aufgestellt. Eine große Menschengruppe verbarg sich dort vor der Sonne, plauderte, trank Kaffee und beobachtete ein Spiel, das sich langsam entwickelte. Abgesehen von ein paar Smartphones hat sich eine ähnliche Szene möglicherweise schon seit Hunderten von Jahren immer wieder so abgespielt: über Kulturen hinweg sich durch ein einfaches Schachspiel verbinden. Die georgische Kultur ist mit vielen jahrhundertealten Traditionen verflochten. Es wird eine Form der Weinherstellung gepflegt, die älter ist als die heute normalerweise angewandte. Der Chorgesang ist Kunstform und Gemeinschaftspraxis. Die Begeisterung für das Schachspiel, das sich im 6. Jahrhundert zu seiner modernen Form entwickelte, könnte hier mit einbezogen werden. Nachdem mir ein neuer georgischer Freund erzählte, dass er Schachlehrer an seiner Waldorfschule ist, erfuhr ich, dass das Land 2022 Schach zum Pflichtfach für Erstklässler gemacht hat.

Schachbrett auf der Tagung in Georgien, Foto: Charles Cross

Altes Spiel und neue Welt

Ehrfurcht ergreift mich, wenn ich das Ausmaß an Raum und Zeit bedenke, welche dieses Spiel durchquert hat und dabei so viele kulturelle Grenzen überschritt. Selbst im digitalen Zeitalter gedeiht das Spiel. Fast wie eine Gegenströmung zu den vielen Computerspielen scheint die urbildliche Eleganz des Schachspiels eine starke Resonanz in unserer heutigen Welt gefunden zu haben. In den letzten drei Jahren hat seine Popularität sprunghaft zugenommen. Das mag teilweise auf den Covid-Lockdown zurückzuführen sein. Laut Google Trends gewann aber tatsächlich schon im Oktober 2020 Schach als Computerspiel parallel zur Veröffentlichung der Netflixserie ‹Das Damengambit› an Zuwachs. Die Popularität des Spiels ist seitdem weiter gestiegen, mit Spitzenwerten im Januar und August 2023.1 Die beliebteste Schachwebsite chess.com hatte im vergangenen Mai mehr als 57 Millionen aktive Nutzende, ein Anstieg von 550 Prozent seit Januar 2020, was sie auf Platz 114 der meistbesuchten Seiten im Internet bringt.2

Ist das Schachspiel mit dem geheimnisvollen Ringen der Menschheit mit den Technologien unserer Zeit verbunden? 1997 besiegte ein Supercomputer namens Deep Blue, der von IBM speziell für das Schachspiel entwickelt wurde, den damaligen Weltmeister Garri Kasparow in einer Serie von sechs Spielen. Computer sind inzwischen zu Tutoren und Sparringspartnern für Schachspielerinnen und Schachspieler auf der ganzen Welt geworden. Chess.com/de bietet eine Reihe von Bots für verschiedene Spielniveaus, die über die führenden Weltmeister hinausgehen. Nach einer Partie geht der Computer jeden einzelnen Zug durch und zeigt mir Fehler, gute Züge und verpasste Chancen auf. In diesem Bereich scheint die künstliche Intelligenz eine angemessene Rolle als Gegenspielerin gefunden zu haben: Sie hilft uns, gut zu spielen.

Die Geheimnisse des Denkens

In der Ankündigung des georgischen Bildungsministeriums, Schach als Pflichtfach einzuführen, heißt es: «Schach verbessert die vielfältigen Fähigkeiten der Schüler wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis, Analyse, Logik, Entscheidungsfindung, räumliche Orientierung und vieles mehr.»3 Obwohl ich nicht qualifiziert bin, mich zur Wirkung von Wettkampfspielen im Kindesalter zu äußern, schätze ich als Erwachsener die Bedeutung von Schachspielen für die Schulung des Denkvermögens und kann ihre Wirksamkeit selbst bestätigen. Das Spiel ist ein Spiegel für meine Kurzsichtigkeit oder Ungeduld. Gewinnen geht durch Konzentration und Vorstellungskraft. Ich habe festgestellt, dass sich das Spiel in meine Meditationspraxis einfügt, besonders in die Nebenübung der Gedankenkontrolle. Ich stelle fest, dass sich meine Scharfsinnigkeit im Schach bessert, wenn ich meditiere. Manche Menschen führt die intensive Konzentration auch in ein mysteriöses Gebiet. Ein Schachmeister verriet, wie ihn der kognitive Druck von bis zu acht Stunden dauernden Partien als Kind in einen unheimlichen Bewusstseinsraum führte: Lieder setzten sich in seinem Kopf fest und wurden so ‹laut›, dass sie ihn extrem ablenkten. Da es ihm nicht möglich war, diese Musik verschwinden zu machen, entdeckte er, dass er sein Denken auf der Musik in seinem Kopf ‹reiten› lassen konnte, was ihm zusätzliche Kreativität und Inspiration verlieh.4 Ein Freund von mir ging einen ähnlichen Weg vom Schach zu den Mysterien: Nachdem er als Kind ein Meister geworden war, erkannte sein Rabbi, dass er bereit sei, in der Kabbala unterrichtet zu werden.

Die gegenwärtige Faszination für das Schachspiel könnte auch mit dem Anerkennen des Wertes von Konzentration zusammenhängen. Durch die digitalen Medien verringert sich unsere Aufmerksamkeitsspanne, eine anhaltende, qualitativ hochwertige Aufmerksamkeit ist nicht mehr selbstverständlich. Vielleicht findet man heute Freude an Räumen, in die man voll eintauchen und sich ganz konzentrieren kann. Doch das Spiel in der digitalen Welt hat auch seine Schattenseiten. Meine Freundin muss mich mitunter ‹wecken›, wenn ich beim Schachspielen auf meinem Handy abgelenkt bin. Es besteht eine gewisse Impulsivität, wenn man das Handy in die Hand nimmt, um zu spielen. Das Licht des Bildschirms wirkt hypnotisierend – und zwar nicht auf eine Art, die zu konzentrierter Vorstellungskraft führt. In der Tat spiele ich besser gegen einen leibhaftigen Menschen. Digital ist es eine abgeflachte Version dessen. Digitale Partien waren jedoch eine gute Gelegenheit, mit Freunden in Kontakt zu bleiben, als ich anderswo lebte.

Die Schachspieler von Honoré Daumier, ca. 1863–1867, Öl auf Leinwand. Petit Palais, Paris. Quelle: Wikipedia.

Spielen ist menschlich

Das Schachspiel wurde für mich besonders wichtig, als meine 15-jährige Ultimate-Frisbee-Karriere ein jähes Ende fand, nachdem ich mir einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zugezogen hatte. Der Verlust dieser Quelle der Freude, Lebendigkeit und Verbundenheit war schwer für mich. Schach allerdings erfüllte schnell mein Bedürfnis nach einem Wettkampfspiel. Es ist, was James P. Carse ein ‹unendliches Spiel› nennt – etwas, das ich für den Rest meines Lebens weiter spielen und verbessern kann, im Gegensatz zu Frisbee, wo ich an die Grenzen meines Körpers stieß. Diese unendliche Eigenschaft des Schachs ist Teil der Eleganz des Spiels. Obwohl es nur 32 Steine auf einem Brett mit 64 Feldern gibt, ist die Zahl der möglichen Kombinationen unvorstellbar groß. Trotz Jahrhunderten von gelehrten Analysen der verschiedenen Strukturen des Spiels kommen die meisten Partien nach nur 10 oder 15 Zügen in völlig neues Terrain. Auch wenn dieselben Eröffnungszüge immer wieder gespielt werden, kann man mit dem Auswendiglernen von Zugfolgen nicht sehr weit kommen, vor allem, weil die Züge des Gegners den Plan immer wieder ändern. Rudolf Steiner sprach über dieses Prinzip als eine Metapher dafür, wie die Menschen an die Geisteswissenschaft herangehen sollten: nicht als Masterplan, der starr umgesetzt werden soll, sondern als etwas, das in Anpassung an das, was uns im Alltag begegnet, angegangen werden muss. «Es hilft einem sehr viel, richtig Schach spielen zu können», sagte er.5 Und doch empfinde ich spielen zu können als ein Geschenk an sich: eine der größten Freuden des Menschseins, besonders wenn man sie mit anderen teilt. Schiller sagte: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»6

In den fünf Tagen, die ich auf der Konferenz in Georgien verbrachte, entdeckte ich das Schachspiel als einen intimen Raum der Begegnung über Grenzen hinweg, eine Gelegenheit, an einem menschlichen Geist teilzuhaben. Zwischen den Veranstaltungen versammelte sich eine Gruppe von uns um das Schachbrett, das zugleich einer der kontemplativsten und lebhaftesten Orte war. Obwohl jeder aus verschiedenen Kontinenten kam, war das Schachbrett für alle ein vertrautes Terrain. Auch ohne eine gemeinsame Sprache konnte man in den Gesichtern, Entscheidungen und Ausrufen der anderen die Lebendigkeit ihrer Seele erkennen. Auch nach 15 Jahrhunderten des Spiels entfaltet sich der Tanz der Figuren immer wieder aufs Neue und fordert Aufmerksamkeit und Präsenz. In solchen Momenten erlebe ich Schach nicht nur als ein Spiel, sondern als eine Kommunion, die die Verwandtschaft im Menschsein feiert.


Übersetzung Christian von Arnim

Titelbild Alexei Maridashvili

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Footnotes

  1. Google Trends.
  2. Chess.com Named In Prestigious 100 Most Influential Companies List.
  3. International Chess Federation.
  4. Josh Waitzkin, The Art of Learning: An Inner Journey to Optimal Performance. Simon and Shuster 2007.
  5. Rudolf Steiner, Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen. GA 178, Vortrag vom 13. November 1917, Dornach 1992.
  6. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief.

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