Sand der Ewigkeit

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An einem Strand liegen die Steine verstreut im Sand. Ich greife einen heraus, betrachte ihn in meiner Hand und der Sand rinnt hindurch zwischen meinen Fingern und hört nicht auf zu rinnen. Ein ganzes Leben gleitet hindurch zwischen meinen Fingern, die sich sanft bewegen, als ob sie ein Saitenspiel bewegen wollten, das nicht da ist. Ein ganzes Leben entgleitet meiner Hand. In ihr liegt schwer der Stein, und der Sand hört nicht zu rinnen auf. Er fällt und fällt und rieselt und rieselt auf den Strand. Ein Leben, das verschwindet, ehe es da gewesen ist, – es entgleitet meinen Händen, meinem Zugriff, meinem ganzen Zutun und entflieht in eine ferne Wirklichkeit, die wir Lebenden nur ahnen und in die wir nicht folgen können, vor der wir nur wartend stehen können wie vor einem großen Tor, das für uns geschlossen ist. 

Eine Wirklichkeit verbirgt dies Tor. Ein weites, schwarzes Tuch, teils mit kaum sichtbaren Sternen versehen, weht hinter diesem Tor. Auf seinem Rahmen steht ‹Zeit›. Dies Tor steht am Rande der Zeit, ist an ihre Grenze als Wächter, als Hüter gestellt. Sand fließt durch das Tor, das geschlossen ist. Ein Leben wird entlassen, das noch nicht da war, das nicht sein durfte, für das ein Tor aufging und sich wieder schloss. Ein Durchgang durch eine Hand, ein Leben, das Sand geworden ist und unendlich zwischen meinen Fingern zerrinnt an einem Strand, auf dem ich alleine wandle, selbst in eine Zwischenwelt versetzt, selbst dort, wo die Geste zum Leben gegeben, dort, wo zu den Sternen, den uralten Tröstern, verwiesen wird. 

Sand rinnt zwischen meinen Fingern. Ein Leben, das nicht gewesen ist, ein Atem, die Empfindung von Sonnenstrahlen auf der Haut – ein ganzes Leben zieht an mir vorüber durch den Sand, der unaufhörlich aus meiner Hand zu Boden rieselt, sich verstreut und verteilt und gerne gelebt hätte. Sand, der von einer höheren Macht berührt wurde, die ihn sorgsam trägt, ihn aus meiner Hand zurückträgt in den ureigenen Schoß. Es ist dies die Unschuld allen Lebens, das nicht sein durfte. Wollen – Leben will sein. Es ist dies die bedingungslose Liebe, die ist, ein Leben, das sein will, das zu uns gekommen ist und verblasste, bevor es begann. 

Es ist ein Sand der Ewigkeit unter einem schwarzen Himmelszelt, der vorwurfslos zwischen meinen Fingern zerrinnt, zeigend, was er ist, wenn er gewesen wäre; nicht schrecklich, nicht beunruhigend, ohne Vorwurf, aber mit einer Klar- und Entschiedenheit, wie sie nur der sichere Lauf der Dinge in sich trägt. 

Ich fiel selbst durch meine Hand zwischen meine Finger, wurde selbst zu Sand und zerrann selbst in die Luft, den Wind. Ich war hier und berührte die Zeit mit meinen Fingerkuppen und hätte die Zeit fast gegriffen, mich an ihr wie an einem Seil hinabgezogen und wäre gelandet auf der Erde. Ich blieb aber an einem Strand zwischen Welten und rann aus einer Hand weg, weit weg. Verstreut und aufgefangen rann ich wieder zurück in die Heimat – ohne Furcht, ohne Bitterkeit, ohne Vorwurf, wissend, wissend, wissend.


Foto Jim Gade

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