An den Schweizer National- und Ständeratswahlen erreichten die grünen Parteien 20 Prozent. Es ist eine grüne Welle, die an das ökologische Erwachen in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts erinnert. Die Frage, was nun ein nächster Schritt wäre, führt Hans-Christian Zehnter zu einem Notizbucheintrag von Rudolf Steiner.
Am 20. Oktober wurde in der Schweiz gewählt. «Die ‹Greta-Welle› habe die Schweiz erreicht.» Durch solche Schlagzeilen darf sich die sechzehnjährige Schwedin nicht zu Unrecht geehrt fühlen! Was ist das für eine grüne Welle, die da nicht allein über Europa, sondern über die Menschheit kommt? Was drängt durch all die Schlagzeilen um Fridays for future, um Klima, um Insekten- und Vogelsterben ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit, nicht nur in deren medialen Aufmachung, sondern auch ins Bewusstsein der Menschheit? Wer hat da eigentlich in der Schweiz gewählt?
Klar, es sind Menschen, die gewählt haben! Und klar, die Zeit drängt, die Gletscher schmelzen, das Klima verschiebt sich. Aber wieso wird dieses Drängen gerade heute so stark gehört? Man könnte sich auch genügend anderes denken, was mindestens ebenso drängend wäre, was ebenso not-wendig nach einer Lösung, nach einer Wende ruft! Was also wirkt da gerade jetzt in unsere Zeit und damit in unsere Seelen hinein?
Gesellschaft statt Ökonomie
Dass sich das Thema ‹Umwelt› Gehör bei den Menschen verschafft, ist nicht zum ersten Mal. Vor vierzig Jahren hielt ich damals im Alter von 16 Jahren meine ersten ‹Aufklärungsreferate› in Sachen ‹Waldsterben und saurer Regen›. Wenig später hätte die Welt am Umweltbericht ‹Global 2000› erwachen können. Gleichzeitig kam die ökologische Bewegung in Fahrt: Bioläden kamen auf – und damit auch die verhängnisvolle Ökonomisierung des grünen Schwungs und dessen Verschlucktwerden durch Gewinnorientierung und Konsummentalität.
Nun, dreißig, vierzig Jahre später, erfasst erneut eine grüne Welle die Menschheit – und dieses Mal noch grundlegender, vielleicht eindringlicher. In meinen Ohren spricht hier eine Stimme, die sagt, was eine Menschheit will, und nicht, was ein (Wirtschafts-)System aufzwängt. Ein Freund sagte kürzlich zu mir: Wir leben in einer Gesellschaft und nicht in einer Ökonomie. Wir müssen unser Zusammenleben so aufstellen lernen, wie es unseren menschheitlichen Idealen und unserem Willen gemäß ist. Die nun erneut aufflammende Sorge um die Um- und Mitwelt geht aber noch einen Schritt weiter, geht über das menschliche Zusammenleben als Gesellschaft hinaus. Sie wendet sich der Schöpfung, dem Respekt vor der Natur zu. Damit fragt sie den Menschen an, über sich hinauszukommen. Das Schlagwort ‹Aufmerksamkeitskultur› ist hier am Platz. Das Interesse am Wesen des anderen besteht in diesem Schritt über das selbstbezogene Verbleiben in der Verstandesseele hinaus in die umkreisoffene Bewusstseinsseele hinein.
Wahrgenommen werden wollen
Mit seiner sinnlichen und seelisch-geistigen Organisation stellt der Mensch der Welt eine einzigartige Erscheinungsplattform zur Verfügung. Je mehr wir in unserer sinnlichen Fassungsgabe verarmen, je schwächer die seelisch-geistige Auffassungsgabe, desto weniger kann sich die Welt in ihrer ganzen Facettenvielfalt mitteilen. Je mehr wir uns aber aufmerksam der Welt zuwenden, desto differenzierter und reicher kann sie von sich reden machen. Wenn ich in meinen Bemühungen, die Welt zu erkennen, alles über einen materialistischen Kamm schere, dann werde ich der Wesensunterschiede der Naturreiche nicht gerecht. Ein Kristall offenbart eine abgeschlossene Gestalt. Eine Pflanze dagegen ist ein Verwandlungsprozess und ein Tier nimmt seelischen Bezug zu seiner Umgebung auf. Eine Erklärungsweise aber, die allein auf den evolutiven Vorteil einer Erscheinung fokussiert ist, hat für die Vielfalt der Naturerscheinungen immer nur diese eine Erklärungsweise zur Hand. Natur und Mensch verarmen.
Bereits eine gegenständliche Auffassung der Welterscheinungen hat Folgen für die Existenz der sich sinnlich vermittelnden geistigen Wesen. Einen Baum als Gegenstand aufzufassen, bannt das in seiner Erscheinung anwesende Geistige in ein räumlich-körperlich vorgestelltes Objekt. Das Baumwesen ist dadurch gefangen – und bleibt in seinem Wesen unerkannt.
Wenn wir die Erdenwirklichkeit als Erscheinung für unsere sinnliche und seelisch-geistige Organisation auffassen, dann befreien wir solch ein Wesen aus dieser Verbannung. Das Wesen kann dann wieder im seelisch-geistigen Beobachtungsfeld aufgesucht werden, dort, wo seine Heimat ist. Es kann wieder ins Geistige aufsteigen. Wie sehr sehnen wir selbst uns danach, erkannt zu werden; welch ein Glück, wenn sich solches auch nur in ersten Ansätzen anzubahnen beginnt!
«Sobald man ausgeht von atomistischen Vorstellungen, steckt man schon in einem in den Untergang hineinführenden Materialismus darinnen. Zurecht kommt man mit der Wahrnehmungswelt nur, wenn man sie als Phänomen, als Erscheinungswelt auffasst. Was uns durch die Sinne entgegentritt, ist etwas, worinnen die Materie gar nicht ist. […] Dahinter steckt keine Materie! […] Also was wir als ‹materielle› Erscheinungen vorfinden, sind gar keine materiellen Erscheinungen, ist gar keine Materie in Wirklichkeit. Das sind eben nur Erscheinungen; sie sind das, was kommt und geht aus einer andern Wirklichkeit heraus, die wir nicht fassen, wenn wir sie uns nicht geistig denken können», so pointiert formuliert es Rudolf Steiner am 25. Juli 1920 (GA 197).
Geist-Reich
Mit der Bewusstseinsseele beginnt der Schritt in den geistigen Umkreis der Menschheit, in den Weltengeist. Die neue grüne Welle sollte diesen Schritt ins Geist-Reich nicht verpassen, damit sie nicht noch einmal verschluckt wird – sei es von einer materialistisch fundierten Ökodiktatur, sei es abermals von der Übermacht von gewinn- und wachstumsorientierten Wirtschaftszwängen, sei es vom Verführtwerden vom virtuellen Komfort und der Cyber-Eleganz von Handys und Tabletts. Andernfalls zeichnet sich die Tragik ab, dass sich Mensch und Welt, das sich Menschengeist und Weltengeist verpassen und die Erde ihr Ziel der Verwandlung durch den Menschen hindurch in ihre nächste Daseinsform nicht erreicht: «Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?», so hat es Rilke am Ende seiner neunten ‹Duineser Elegie› formuliert.
Um noch einmal zu fragen: Wer klopft mit der neuen grünen Welle an? In einem Notizbucheintrag (NB 141) Rudolf Steiners vom 12. August 1923 heißt es, dass der Mensch in alten Zeiten unter den Völkergöttern noch ein Volksglied war. «In Chr.[istus] haben die Götter den Tod mitgemacht. Der Chr.[istus] führt den Menschen in die Menschheit ein.» Der Gott dieser Zeit ist im Notat Rudolf Steiners der «Menschengott». «Im h[ei]l.[igen] Geist», heißt es in dem Eintrag weiter, «wird die Welt so erkannt, dass der Mensch zur Natur geführt wird.» Daneben notiert Rudolf Steiner: «Weltgott».
Titelbild: Gabriel Jimenez
Korrigendum (22.11.2019):
Irrtümlich wurde vorher in der von der Redaktion verfasste Einführung von der Schweizer Bundesratswahl gesprochen, obwohl es sich um die Wahlen für den National- und Ständerat handelte. Wir entschuldigen uns beim Autor für diese Verwechslung und bedanken uns bei den Lesern, die uns darauf aufmerksam gemacht haben.