Resultate eines wesenhaften Denkens

Waldorfpädagogik beruht auf einer umfassenden Anthropologie und braucht sich nicht scheuen, am Diskurs der wissenschaftlichen Pädagogik teilzunehmen. Im neu aufgelegten Buch von Ernst-Michael Kranich können sich Lesende davon überzeugen und sich darin schulen.


Die wissenschaftliche Pädagogik kennt durchaus anthropologische Studien, ebenso die philosophische Anthropologie. Diese berühren aber oft nur Teilaspekte und geben keinen verbindlichen Kanon für die Unterrichtspraxis ab. In der Waldorfpädagogik dagegen ist die Anthropologie fundamental für die gesamte Unterrichtspraxis. Weil in ihr von Leib, Seele und Geist, von den sieben Jahresschritten gesprochen wird, wird sie nicht selten als verkappte Anthroposophie und als nicht wissenschaftlich abgetan. Gerade dieser Kritik bietet Ernst-Michael Kranich die Stirn und scheut sich nicht, die geisteswissenschaftliche Anthropologie in ihren grundlegenden Erkenntnissen vorzustellen und sie im Kontext des wissenschaftlichen Diskurses zu verorten. So nennt er diese Schrift auch nicht die anthroposophische Anthropologie der Waldorfpädagogik, sondern einfach ‹anthropologische Grundlagen›, weil sie Allgemeingültigkeit beanspruchen.

Das Buch umfasst eine Sammlung von Aufsätzen, die einen Gesamtüberblick ergeben in die leibliche, seelische und geistige Entwicklung der ersten drei Jahrsiebte menschlicher Entwicklung. Da diese Entwicklungen ineinanderfließen, braucht es eine besondere Methode, um diese Prozesse in ihrer Komplexität zu erfassen. Ernst-Michael Kranich ist profunder Kenner geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, zudem geschulter Goetheanist, der mit seinem Denken in die gestaltenden Prozesse lebendiger Entwicklung eintauchen kann. Er zeigt hier auf, wie ein umfassendes Menschenbild gewonnen werden kann. Alle Bereiche, die der ‹Allgemeinen Menschenkunde› von Rudolf Steiner zugrunde liegen, werden bearbeitet und auch für Laien sehr gut nachvollziehbar erklärt. Kranichs Darstellungen beziehen immer den aktuellen wissenschaftlichen Stand der jeweiligen Thematik ein.

Im ersten Teil werden die allgemeinen Begriffe wie Leib, Seele, Geist sowie ihre Entfaltung in den Entwicklungsphasen betrachtet, wobei die Darstellungen zur ‹Seele als Organismus› und zur ‹Präexistenz und zum Leib-Seele-Problem› fundamental sind. An diese ‹Basics› der Anthropologie schließen sich grundlegende Betrachtungen zur menschlichen Entwicklung von der Kindheit bis zur Pubertät an. Der zweite Teil enthält spezifischere Aspekte der frühkindlichen Entwicklung und der Erziehung in dieser Phase. Daran schließen sich eingehende Betrachtungen zum Ätherleib an. Dessen Kräfte und Formbildungen und ihre Bedeutung in der Entwicklung der ersten sieben Jahre werden vom Autor außerordentlich erhellend beschrieben. Die anschließende Betrachtung zur ‹Ätherischen Durchkraftung des Denkens› gehört mit zum Besten, was es dazu gibt.

Nimmt man die vorhergehenden Darstellungen zum Ätherleib und liest auf dem Hintergrund, wie es gelingt, tote Begriffe in ein lebendiges, kraftvolles und wirklichkeitsnahes Denken zu bringen, versteht und fühlt man regelrecht diese Prozesse, weil sie selbst in einem solchen Denken urständen. Die Beschreibungen der Beziehungen zwischen Menschen- und Tierwelt, deren Formen und spezifischen Eigenschaften, sind einzigartig.

Wer an den Kursen von Kranich – der ja leider zu früh vor einigen Jahren gestorben ist – zur Tier- und Menschenkunde teilgenommen hat, vergisst sein Leben lang die besprochenen Tiere nicht.

Ein Artikel zur Entwicklung der Urteilskraft komplettiert die Darstellungen zum dritten Jahrsiebt. Der Autor zeigt an Beispielen auf, wie ‹lebenspraktisch› Menschenkunde ist. Ausgehend von der Formensprache des Ätherleibes, wird das Formenzeichnen der ersten drei Schuljahre erklärt sowie die Menschen- und Tierkundeepoche der vierten Klasse.

Abgerundet wird die Sammlung mit zwei Artikeln zum ‹richtigen Atmen› und zu Veränderungen des Wachens und Schlafens in Kindheit und Jugendalter. Erstere Thematik geht auf eine Bemerkung von Rudolf Steiner in der ‹Allgemeinen Menschenkunde› zurück, wo er darauf hinweist, dass es für den Klassenlehrer außerordentlich wichtig ist, das Kind zum richtigen ‹Atmen› zu bringen. Diese etwas kryptische Anmerkung greift der Autor auf und führt in diesen komplexen Zusammenhang ein.

Insgesamt beeindrucken die Artikel von Kranich nicht nur durch ihre lebendige goetheanistische Betrachtungsweise und Methode, sondern auch durch ihre gedankliche Stringenz und außerordentliche Klarheit. Bei solchen komplexen Themen, die mit einer solchen gedanklichen inneren Durchdringung der leiblich-seelischen und geistigen Phänomene und Werdestufen menschlicher Entwicklung erarbeitet sind, ist das eine große Leistung. Die Sammlung, die dankenswerterweise wieder aufgelegt wurde, führt vorbildlich in die geisteswissenschaftlich-anthropologische Menschenkunde ein. Sie ist für Studierende der Waldorfpädagogik, für Waldorfeltern wie für die Lehrenden eigentlich eine unverzichtbare Vertiefung.


Buch Ernst-Michael Kranich, Anthropologische Grundlagen der Waldorfpädagogik, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019.

Grafik: Fabian Roschka

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare