Renate Riemeck und Pädagogik

Renate Riemecks Philosophie der Pädagogik: eine Art allgemeine Menschenkunde.


Um das positive Urteil vorwegzunehmen: Die eben im Wallstein-Verlag erschienene stattliche Biografie über Renate Riemeck von Albert Vinzens hat es in sich. Vinzens gelingt es über 400 Seiten, ein detailreiches, glaubwürdiges Bild von ihr zu skizzieren. Dem Autor stand – erstmalig einsehbar – Riemecks großer Nachlass zur Verfügung. Riemecks Meisterwerk (nach Kapitel 8), so Albert Vinzens, dem ich mich anschließe, seien ihre Vorlesungen in Marburg über Pioniere der Erziehung, die posthum mit Geldern der Software-AG-Stiftung herausgegeben worden sind. In diesem Werk werden die pädagogischen Ansätze Tolstois, der für die Kinder seiner Leibeigenen eine ganz besondere neuartige Schule gründete, die Ideen John Deweys, der in seiner Laborschule in Chicago den Projektunterricht erfand, sowie vieler anderer Pioniere der Pädagogik wie Comenius und ganz prominent die Ansätze Goethes, Pestalozzis und Steiners dargestellt und in Zusammenhang gebracht.

Diese im größten übervollen Hörsaal gehaltenen Vorlesungen Riemecks sind die reife Frucht einer langen theoretischen wie praktischen Arbeit. «Anders als viele Hochschuldozenten schreibt Riemeck ihre wissenschaftlichen Beiträge» – man müsste ergänzen: und hält ihre Vorlesungen – «mit existenzieller Wucht.» «Die Erfahrung des eigenen Innenlebens ist für sie ein wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis.» (Ebd. S. 164) Auf diese Weise hat Riemeck eine Philosophie der Pädagogik geschaffen, die Pädagogik mit den tiefsten Fragen menschlichen Seins verbindet. Ein anderer Name für das, was Waldorfpädagogen als ‹allgemeine Menschenkunde› ansprechen, von einer anderen Seite angegangen. Riemeck war immer dafür zu haben, über pädagogische Fragen vorzutragen und ins Gespräch zu kommen. Man musste sie nur anfragen. Sie erklärte Eltern, Lehrern und Lehrerinnen, was Waldorfpädagogik sei, indem sie ausgehend von den gegensätzlichen Ansätzen Tolstois und Deweys fragte, wie ein Mittelweg aussehen könnte. Sie weitete das oft enge Denken aus und machte es lebendig. Aus einem Vortrag wurde ein ganzer Zyklus mit wachsender Zuhörerschaft.

Aus dem Buch

Friedensappell

Am 26. Februar 1958 veröffentlichen 44 Hochschullehrer auf Initiative von Renate Riemeck einen Appell, in dem sie die Gewerkschaften auffordern, gegen die atomare Aufrüstung zu demonstrieren. Der später als ‹Appell der 44› in die Geschichte der Antiatombewegung eingehende Aufruf wird zusammen mit dem ‹Göttinger Appell› zur Initialzündung für eine breite außerparlamentarische Opposition. Für Renate Riemeck ist damit vergleichsweise spät der Einstieg in die Politik geebnet. Am 25. März 1958 beschließt eine Bundestagsmehrheit die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die möglichst ab dem Folgejahr erfolgen sollte. Umgehend bereitet die Opposition Volksbefragungen vor, und die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg sowie das Land Bremen unternehmen konkrete Schritte in Richtung Abstimmung. Zwei Tage später setzt das Bundesverfassungsgericht die Durchführung von Volksbefragungen aus, daraufhin mehren sich die Proteste. Die allgemeine Stimmung gegen die atomare Aufrüstung wird derart groß, dass die ‹Bild›-Zeitung drei Tage nach dem Beschluss titelt: «Atom-Bewaffnung? Bild-Leser sagen: nein!» Der von Riemeck initiierte Appell erhält große Zustimmung.

Der ‹Appell der 44› steht in der Tradition des ‹Göttinger Manifests›. Neu an Riemecks Initiative ist, dass Professoren mit Gewerkschaftern reden. Fast 50 gut situierte Beamte opponieren gegen den Staat und verbinden sich mit den Vertretern der Arbeiterschaft. Manche Unterzeichner, die bisher nur im Hörsaal gesprochen hatten, erklären sich bereit, als Sprecher auf Massenkundgebungen aufzutreten. «Das hat mich ergriffen», kommentiert Renate Riemeck die Aktion später. «Wenn ich mir vorstelle, 1920 hätte ein Professor sich vor die Arbeiter gestellt, der wäre ja selbst in seinen eigenen Zusammenhängen an der Universität erledigt gewesen. Aber sie wagten es.» Dass sie selbst bald vom Katheder verwiesen wird, kann sie da noch nicht wissen. Die politische Situation Ende der 1950er- Jahre ist eine andere als 1920, wenn auch ähnlich brisant. Riemecks Entschluss, in der Mitte ihres Lebens politisch aktiv zu werden, ist es ebenso. Keine Woche vergeht ohne Proteste irgendwo in Deutschland. Riemeck beobachtet mit Befremden das Treiben führender SPD -Politiker wie Carlo Schmid, Herbert Wehner und Fritz Erler, die die Partei auf einen Rechtskurs vorbereiten. Früh und entschieden wehrt sie sich gegen diese Weichenstellung innerhalb der Sozialisten. Während sich die SPD der CDU annähert, wachsen die Sympathien ehemaliger Kommunisten mit Aufrüstungsgegnern. Zwischen den sich neu gruppierenden Lagern bereitet Riemeck geduldig Unterschriftensammlungen gegen die Aufrüstung vor und hält Vorträge für den Frieden.

S. 176 f. Bild: Renate Riemeck in Alsbach, ca. 1989.

Riemeck war früh heimatlos geworden. Als sie mit ihren Eltern als Kind ihre Geburtsstadt Breslau verließ, wusste sie nicht, dass sie diese Stadt nie wiedersehen würde. Die von ihr herausgegebenen Schulatlanten lassen Deutschland an der Oder-Neiße-Linie enden. Sie nahm vorweg, was erst Willy Brandt viel später umsetzen konnte: eine Versöhnung mit den Nachbarländern, besonders mit Polen, durch eine Entschuldigung der durch das Dritte Reich begangenen Verbrechen und gleichzeitig eine Anerkennung der neuen Grenzen.

Trotz ihrem Scheitern – sie schaffte es nicht, ihre neue Friedenspartei DFU (Deutsche Friedens-Union) in den Bundestag zu führen – hatte sie große gesellschaftliche Wirkung. Gestützt auf die Unterlagen aus ihrem Nachlass liegt der Schluss nahe, dass es ihrem Kampf zu verdanken sei, dass die Bundesrepublik nicht atomar aufgerüstet wurde, was Konrad Adenauer und Franz Joseph Strauß zum festen Ziel erklärt hatten. In einem autoritären, willkürlichen Gegenschlag dieser Kreise wurde sie schon früh aus ihrem Professorenamt gedrängt. Kein Geringerer als der gewiefte Anwalt und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann wäre bereit gewesen, ihren Fall bis zum obersten Gericht durchzukämpfen, denn es ging um Meinungsfreiheit, die abgewürgt wurde. Aber Riemeck hielt die unablässigen Attacken nicht mehr aus. Leider kündigte sie von sich aus. Tragisch ist ihre nahe Verbindung zu Ulrike Meinhof, ihrer Pflegetochter, die sie bis zum bitteren Ende liebte. Die Liebe zu ihr wollte sie sich nicht nehmen lassen, auch oder gerade als klar wurde, dass Ulrike sich hoffnungslos verrannt hatte. Auch diese herzzerreißende Geschichte erzählt Albert Vinzens, gestützt auf bisher wenig oder gar nicht bekannte Akten, aus Riemecks Sicht. Schon als jugendliche Schülerin hatte Renate Riemeck bereits – inspiriert durch eine anthroposophische Lehrerin – trotz aller Hindernisse, die durch die Nazi-Herrschaft entstanden waren, den Weg nach Dornach gefunden, sich dort den ‹Faust› angeschaut und am Leben im Goetheanum teilgenommen.

Riemeck war eine weltoffene Anthroposophin, ihr Leben voller Herausforderungen und Prüfungen, die mit den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts eng verknüpft sind. Sie stellte sich den Forderungen ihres Lebens mit Mut, mit Zuversicht und einem nie versagenden Humor.

Aus dem Buch

Ein Opfer schweren Herzens

Am 13. Dezember 1960 meldet die Deutsche Presseagentur, dass Renate Riemeck tags zuvor ihre Hochschultätigkeit niedergelegt und den Kultusminister um ihre Entlassung gebeten habe. Als Begründung wird Riemecks Sorge um die politische Entwicklung in Deutschland angegeben, weshalb sie den Entschluss gefasst habe, ihre «ganze Kraft für eine Politik der Entspannung und der Verständigung einzusetzen» und sich «ohne Rücksicht auf persönliche Sicherung der Sache des Friedens» zu widmen. […] Drei Tage vor Heiligabend organisieren die Wuppertaler Studierenden einen Fackelzug für Renate Riemeck, nachdem bekannt geworden war, dass ihre Professorin die Hochschule verlassen wird. Im Namen der Umzugsteilnehmer liest der Student Hans Christoph Berg auf dem Gelände der Hochschule einen Brief an die scheidende Dozentin vor, den er gemeinsam mit der Studentenschaft verfasst hat. «Unser Dank gilt der hochgeschätzten Geschichtsdozentin, deren sachliches Wissen, deren Ernst und Hingabe wir stets bewunderten. Unser Dank gilt dem Menschen, der dieses wissenschaftliche Lehramt mit so viel Verständnis und Einsatzbereitschaft für die Studenten verband, dass die Studentenschaft durch Jahre hindurch stets Sie zur Vertrauensdozentin wählte. Unser Dank gilt nicht zuletzt der Dozentin für Politische Bildung, die nicht nur über Demokratie redet, sondern für sie lebt.» Berg, der selbst Professor wird und später als Erziehungswissenschaftler lange zusammen mit Wolfgang Klafki an der Marburger Philips-Universität lehren wird, holt Renate Riemeck später als Gastdozentin nach Marburg. In Wuppertal beendet er an diesem Tag den Brief mit bewegter Stimme: «Wir bedauern, dass Sie die Dozentin der Politikerin geopfert haben, aber wir wissen, dass Sie dieses Opfer nicht leichten Herzens gebracht haben, und wir verstehen, dass wir auf unsere hochverehrte Dozentin verzichten müssen, wenn sie glaubt, dass sie in größerem Aufgabenbereich gebraucht wird.»

S. 209/211, Bild: Studentenstreik vor dem Ministerium, Düsseldorf 1960


Alle Bilder stammen, wenn nicht anders angegeben, aus dem Renate-Riemeck-Nachlass, Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS)

Buch Albert Vinzens, Renate Riemeck. Historikerin, Pädagogin, Pazifistin. 1920–2003. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023, 408 S., ISBN 978-3-8353-5452-4, € 28,00.

Buch Renate Riemeck, Klassiker der Pädagogik von Comenius bis Reichwein. Marburger Sommervorlesungen 1981/1982/1983 mit Quellentexten. Tectum-Verlag, 2014.

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