Renate Riemeck (1920–2003) ist heute allenfalls noch bekannt als Ziehmutter von Ulrike Meinhof und vielleicht als Autorin anthroposophisch orientierter Geschichtsbücher. Dass ihr Name heute weitgehend vergessen ist, ist wie eine Signatur für ihr Leben, das ein Spiegel der tragischen deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert mit all ihren Brüchen ist. Der Schriftsteller Albert Vinzens hat sich mit beachtlichem Mut und Engagement der Biografie dieser streitbaren Historikerin und Pazifistin angenommen, die für viele Anthroposophen zu materialistisch, für Marxisten zu christlich, für Christen zu anthroposophisch, für Rechte zu links und für Linke zu rechts und zu stark mit brauner Vergangenheit belastet war.
Renate Riemeck hat nach Geschichtsstudium und Promotion in Jena in den Nachkriegsjahren eine beachtliche Karriere an Pädagogischen Hochschulen der jungen Bundesrepublik gemacht, wo sie als charismatische und beliebte Dozentin Generationen angehender Lehrkräfte geprägt hat. Bald wurde sie Beamtin auf Lebenszeit, was ihr zwar soziale Sicherheit, aber zugleich eine zweifelhafte Verbürgerlichung bedeutete. Als jüngste Professorin in der deutschen Nachkriegszeit begegnete sie an den Hochschulen bei ihren Kollegen einer unangenehmen Mischung aus Überheblichkeit und Reserviertheit. An ihrem 35. Geburtstag trat die Professorin an der Wuppertaler Hochschule bereits ihre vierte Stelle an, sie lehrte Geschichte und politische Bildung. Albert Vinzens beschreibt, es sei ihr darum gegangen, die Aufmerksamkeit nicht nur auf den äußeren Forschungsgegenstand zu richten, sondern gleichzeitig sich selbst und das eigene Bewusstsein zu erforschen. Die Erfahrung des eigenen Innenlebens sei für sie ein wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis gewesen und sie habe wissenschaftlich gesicherte Fakten mit engagierten persönlichen Stellungnahmen verbunden, die nicht selten mit einem Handlungsaufruf endeten. So wirkte Riemeck nicht nur als akademische Dozentin, sondern auch durch ihre Persönlichkeit als vorbildliche, engagierte Zeitgenossin, wie viele Zeugnisse ihrer früheren Studentinnen belegen.
Riemeck war seit Kriegsende SPD-Mitglied, entfernte sich aber immer mehr von der Parteilinie. Sie stellte sich gegen die atomare Aufrüstung, trat öffentlich für die Anerkennung der umstrittenen deutsch-polnischen Oder-Neiße-Grenze ein und forderte unbeirrbar Frieden und Verständigung mit Ostdeutschland und dem Kreml. Damals, mitten im Kalten Krieg, galten solche Auffassungen als defätistisch und verfassungsgefährdend. Es begann eine regelrechte Hexenjagd gegen die ‹kommunistische› Professorin, die den deutschen Lehrernachwuchs indoktriniere. 1960 erteilte das nordrhein-westfälische Kultusministerium der streitbaren Hochschullehrerin ein Prüfungsverbot (was zu den ersten studentischen Sitzstreiks überhaupt führte), und kurz darauf machte sie der Schlammschlacht ein Ende und reichte ihren Rücktritt als Hochschulprofessorin ein.
Ein nicht aufgearbeitetes Kapitel war bisher Riemecks Position in der NS-Zeit, in das nun Vinzens unpolemisch Licht bringt: Riemeck war 1941 bis 1943 Mitglied der NSDAP, allem Anschein nach aus rein opportunistischen Karrieregründen, nämlich um promovieren zu können (Titel der Dissertation: ‹Die spätmittelalterlichen Flagellanten Thüringens und die deutschen Geißlerbewegungen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Ketzertums›). Für eine strategisch motivierte Parteimitgliedschaft spricht auch, dass sie mit der Aushändigung ihres Doktordiploms aus der Partei wieder ausgetreten ist. Belastend für ihre Biografie ist nun nicht etwa ihre NSDAP-Mitgliedschaft, sondern die spätere beharrliche und proaktive Leugnung dieser Mitgliedschaft (S. 82, 90, 378). Vinzens hält unbestechlich fest, «eine Parteiaufnahme ohne eigenes Wissen und ohne eigenhändig unterzeichneten Antrag lässt sich ausschließen». Und ein Vergessenhaben oder eine Verdrängung ist angesichts des so kalkulierten Parteiaustritts genau nach der Promotion wenig wahrscheinlich. So ist dieses Vergessen oder eben Leugnen bei einer intellektuellen und moralischen Autorität wie Riemeck ziemlich irritierend (vergleichbar mit den Fällen des Priesterseminarleiters Friedrich Benesch, des Schriftstellers Günter Grass oder des Germanisten Wilhelm Emrich). Zu dieser Irritation trägt auch bei, dass Riemeck mit einer erstaunlich naiven politischen Unbekümmertheit nach dem Krieg den früheren Jenaer Professor und SS-Hauptsturmführer Günther Franz zur Mitarbeit an ihren geschichtswissenschaftlichen Publikationen aufforderte und ihn 1950 gar für eine Stellvertretung während ihres Auslandsemesters als Dozentin in England anfragte. Wohlwollend sieht Vinzens Riemecks Handeln nach dem Krieg bestimmt «von einer Art hemdsärmeligem Machertum und einem durch keine Zweifel oder kritische Fragen beirrbaren Blick».
Aus dem Buch
Alles passte in einen Koffer
Familie Meinhof wohnte 1940 in Fußnähe von Renate Riemeck, hoch über dem Kessel von Jena. Fast täglich machte Ulrike einen Besuch in der Schillbachstraße. Renate Riemeck erwähnte immer wieder, dass der Kontakt zu den Meinhofs durch die kleine Ulrike zustande gekommen sei: «Meine Beziehung zur Meinhof-Familie hat sie gestiftet, und was man auch immer von Ulrike sagen mag, meine herzliche Liebe zu ihr lasse ich durch niemanden und nichts antasten.» In diesen Zeilen klingt der Schmerz der späten Jahre durch, als Ulrike längst tot war und Renate Riemeck über diese als Schicksalsgemeinschaft empfundene Beziehung zu keinem Menschen mehr sprach. Die aufgeweckte Ulrike hatte gern von ihren Streichen und Abenteuern in der Beethovenstraße erzählt und Renate, wann immer sie konnte, bekniet, mit ihr loszuziehen und Ausflüge zu unternehmen. Später sollte Renate Riemeck als Lehrerin noch viele Kinder kennenlernen, aber keines sei so anziehend, einfühlsam, draufgängerisch und gleichzeitig andächtig gewesen wie Ulrike Meinhof.
Ingeborg Meinhof hatte im Februar 1940 nach dem Tod ihres Mannes Werner – er war Leiter des Jenaer Stadtmuseums gewesen, engagiertes NSDAP-Mitglied und maßgeblich an der Ausstellung ‹Entartete Kunst› 1937 beteiligt – mit Unterstützung der Stadt Jena ihr kunstwissenschaftliches Studium begonnen. Seit einigen Monaten Witwe, musste sie ihre Töchter allein durch die Kriegsjahre bringen. Ihr Ziel war, später einmal als Lehrerin zu arbeiten. Also legte sie beim Studium, ähnlich wie Renate, Tempo an den Tag und promovierte nach nur drei Jahren. Eines Tages bot Ingeborg der elf Jahre jüngeren Kommilitonin ein Zimmer in ihrer Mietwohnung an. Der Umzug war schnell erledigt, Renates Hab und Gut passte in einen Koffer. Im Sommer 1940 wurde sie Untermieterin bei Familie Meinhof und lebte fortan nicht mehr allein.
Aus dem Buch Albert Vinzens, Renate Riemeck. Historikerin, Pädagogin, Pazifistin. 1920–2003. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023, S. 58 f. Bild: Renate Riemeck auf Juist, 1949
Von der Politik zur Anthroposophie
Ähnlich blind war Riemeck fast zeitlebens auch auf dem ‹linken Auge›. Die von ihr 1960 wenige Tage nach ihrem Rücktritt mitbegründete Deutsche Friedens-Union (DFU) wurde von der angepassten SPD, die um ihre Anhängerschaft fürchtete, als ‹kommunistische Tarnorganisation› bezeichnet (und wurde tatsächlich von der DDR mit Millionenbeträgen unterstützt, wie sich später zeigte). Riemeck wurde schnell zur Galionsfigur der außerparlamentarischen Opposition und korrespondierte mit Albert Schweitzer, Bertrand Russel und Linus Pauling. Mit dem Bau der Berliner Mauer (1961) fiel Riemecks Anliegen der West-Ost-Verständigung in sich zusammen – ein schlimmer Wendepunkt in ihrem Leben. Riemeck übersiedelte in die Nähe von Freiburg, verlegte ihre Tätigkeit aufs Schreiben und zog sich bald aus der aktiven Politik zurück. Sie pflegte Kontakt zu anthroposophischen Kreisen in Freiburg und Dornach, zu Gerhard Wehr, zur Heileurythmistin Daniela Armstrong und zum Verleger Herbert Hillringhaus, dem Ehemann ihrer Ärztin Ruth Jensen. In Hillringhaus’ Zeitschrift ‹Die Kommenden› publizierte sie 1964 ihren ersten Essay über Mitteleuropa, ein Jahr später folgten die gesammelten Aufsätze als erfolgreiches Buch ‹Mitteleuropa. Bilanz eines Jahrhunderts›, in dem sie Steiners Begriff von Mitteleuropa, dem idealistischen Deutschtum und der Mission des deutschen Geistes ziemlich ungefiltert übernommen hatte. Das hat die Historikerzunft, bei der sie doch einigermaßen anerkannt war, irritiert. Zahlreiche weitere Publikationen folgten, über Jan Hus (1966) und den Pädagogen Amos Comenius (1970), über Konziliengeschichte (1985), über Ketzerschicksale (1986) und über die Französische Revolution (1988), ferner Editionen der frühen Goetheanisten (1980/81) und schließlich die späte Marburger Vorlesungsreihe ‹Klassiker der Pädagogik› (posthum 2014).
Aus dem Buch
Beim Lesen des Johannesevangeliums
Am 2. März 1949 stirbt Ingeborg Meinhof, ihre langjährige Lebensgefährtin, in der gemeinsamen Wohnung. Der Tod kommt schnell und unerwartet. Ingeborg Meinhof war krebskrank in Oldenburg angekommen und hatte sich einer Operation unterziehen müssen, doch sie starb nicht an Krebs. «In dem extrem kalten Vorfrühling 1949 zog sie sich eine Lungenentzündung zu und starb ganz unerwartet plötzlich während eines schweren Asthmaanfalls. Die in der Nacht herbeigerufene Ärztin konnte nur noch ihren Tod feststellen.» Renate Riemeck habe kurz danach die Kinder zu ihrer Mutter geführt. «Ulrike bat, dass wir zusammen im Johannesevangelium lesen sollten, und beide Kinder schluchzten oder weinten nicht. Sie schauten mich nur mit großen Augen an.» Während des Lesens im Johannesevangelium am Bett der verstorbenen Mutter habe Ulrike bei Kapitel 3, Vers 16, innegehalten und gebeten, diese Stelle der Mutter als Grabspruch mitzugeben. Dies geschieht dann später auch. Der Vers handelt von Gott, der denen, die an ihn glauben, das ewige Leben schenkt. «An klarem Denken fehlte es ihr selbst in dieser Situation nicht», kommentiert Renate Riemeck Ulrikes Verhalten später und schließt ihre Ausführungen mit dem Hinweis: «Der Tod ihrer Mutter sollte nicht nur das Leben der Kinder, sondern auch meines verändern.»
Renate Riemeck übernimmt die gesetzliche Vormundschaft für die vierzehn- und achtzehnjährigen Meinhoftöchter. In ihrer neuen Rolle als Pflegemutter ist sie ganz auf sich gestellt und steht vor großen Herausforderungen. Vom Staat bekommt sie für die beiden Kinder zusammen 34 Deutsche Mark Unterstützung, von der großen Verwandtschaft der Meinhofs, durch die Zeitläufte bedingt, nichts. Riemecks Gehalt reicht nicht für die Ausgaben, die sie seit dem Tod ihrer Freundin allein zu bestreiten hat. Sie hat sich dennoch mit ganzer Energie für diese Vormundschaft entschieden und blickt mutig nach vorn.
S. 116, Bild: Renate Riemeck und die Abiturientin Ulrike Meinhof in Weilburg, 1953
Gib auf, Ulrike!
Ein anderer Strang in Riemecks Leben ist ihr Schicksal als Ziehmutter von Ulrike Meinhof. Während des Studiums in Jena ist Riemeck als Untermieterin 1940 in den Haushalt der verwitweten Kommilitonin Ingeborg Meinhof eingezogen und hat sich dort schnell in eine der beiden Töchter, die sechsjährige Ulrike, vernarrt. Später sollte Riemeck als Lehrerin noch viele Kinder kennenlernen, aber keines sei so anziehend, einfühlsam, draufgängerisch und gleichzeitig so andächtig gewesen wie Ulrike Meinhof, erinnerte sie sich. Nach dem plötzlichen Tod von Ingeborg Meinhof hat sich Renate Riemeck der beiden Vollwaisen angenommen und sie später zusammen mit ihrer Lebenspartnerin Holde Bischoff großgezogen. In der heranwachsenden Ulrike hatte sie bald eine rege Gesprächspartnerin, später fanden sich beide als Autorinnen der linken Zeitschrift ‹Konkret› wieder, bis die Journalistin Ulrike Meinhof durch den Schahbesuch und die Ermordung von Benno Ohnesorg (1967) und schließlich durch das Attentat auf Rudi Dutschke (1968) radikalisiert wurde. Bisher war ihre Waffe das Wort gewesen. Jetzt schrieb sie: «Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht.» 1970 ging sie in den Untergrund, wandte sich der ‹Stadtguerilla› zu, indem sie die Befreiung des inhaftierten Terroristen Andreas Baader organisierte und durchführte. Später sollte die Baader-Befreiung am 14. Mai 1970 als Geburtsstunde der RAF gelten. Das bedeutete auch einen Bruch mit Renate Riemeck. Bisher war Riemeck als Pazifistin und wegen ihrer Ost-Kontakte vom Verfassungsschutz überwacht worden, jetzt wurde sie zusätzlich als Ziehmutter von Ulrike Meinhof beschattet. Für Riemeck war der Bruch mit Ulrike Meinhof ein Desaster, wie Vinzens einfühlsam schreibt. Seit 30 Jahren habe Ulrike wie ein Stern über ihrem Leben gestanden. Am 18. November 1971 veröffentlichte Riemeck einen couragierten Aufruf in der Zeitschrift ‹Konkret› mit dem Titel «Gib auf, Ulrike!». Aber es war zu spät, die Entfremdung war total, Meinhof wurde ein halbes Jahr später festgenommen, vier Jahre später starb sie im Hochsicherheitsgefängnis in Stammheim.
Aus dem Buch
Gegen den Kalten Krieg
Als Renate Riemeck 1955 in Wuppertal Geschichte und Politische Bildung zu lehren beginnt, hat sie als Wissenschaftlerin bereits ihren unverkennbaren Stil gefunden. Es geht ihr darum, die Aufmerksamkeit nicht nur auf den äußeren Forschungsgegenstand zu richten, sondern gleichzeitig sich selbst und das eigene Bewusstsein zu erforschen. Die Erfahrung des eigenen Innenlebens ist für sie ein wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis. Die klassische Sicht des Wissenschaftlers – das Forschungsobjekt befindet sich im Sinne des aristotelischen «dieses da» draußen – genügt ihr nicht. Die praktischen Erfahrungen aus dem eigenen Leben sind ihr genauso wichtig, und deshalb bezieht sie sie in ihr Forschen mit ein. Anders als viele Hochschuldozenten schreibt Riemeck ihre wissenschaftlichen Beiträge und Bücher mit existenzieller Wucht. Sie will nicht nur über die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit schreiben, sie will auch in ihnen vorkommen. Anekdotenreich und mit Witz verbindet sie theoretische und lebenspraktische Fragen. Auch wenn ihre Themen oft Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück tasten, verbindet sie die wissenschaftlich gesicherten Fakten mit engagierten persönlichen Stellungnahmen, die nicht selten mit einem Handlungsaufruf enden.Während sie als Wissenschaftlerin ihrer Linie treu bleibt, vollzieht sich in ihrer politischen Haltung eine Veränderung, woraus sie bald erste Konsequenzen ziehen wird. Nachdem sie unmittelbar nach dem Krieg der spd beigetreten war, hat sie mittlerweile ein distanziertes Verhältnis zur Partei gewonnen. Sie ist unzufrieden mit der Partei und verspürt keinen Antrieb mehr, sich in Wuppertal neu bei der SPD anzumelden, was einem schleichenden Parteiaustritt gleichkommt. Sie findet nun andere Möglichkeiten, ihren politischen Impulsen nachzugehen, beginnt sich auf Veranstaltungen als Rednerin zu zeigen und spricht gegen den Kalten Krieg und die atomare Aufrüstung in Deutschland. Sie sei, wie sie später einmal sagt, weder ängstlich noch besonders eitel gewesen und habe deshalb nie ein Blatt vor den Mund genommen. Sie kritisiert die Bonner Politik in einer Weise, die bei einer Beamtin selten ist und Erstaunen auslöst. So entsteht bald eine Mischung aus Hochschulleben und politischer Sichtbarkeit, aus der innerhalb weniger Jahre ein Konflikt resultiert, der zur Auflösung ihres Anstellungsverhältnisses führen sollte.
S. 164 f. Bild: Die junge Dozentin Renate Riemeck, Oldenburg 1948
Vinzens ist bei seinen Recherchen gerade in diesem Bereich immer wieder auf Blockaden und Totalverweigerungen bei potenziellen Gesprächspartnern und Institutionen gestoßen. Das Leben Renate Riemecks und darin wohl vor allem ihre Verbindung zum intelligentesten aller RAF-Mitglieder ist offenbar immer noch ein bundesrepublikanisches Tabu, so wie die unaufgearbeitete Geschichte der RAF. Dazu passt auch, dass Vinzens für sein Biografieprojekt bei keiner einzigen deutschen, sondern nur bei zwei Schweizer Stiftungen Förderung gefunden hat.
Vinzens hat mit seinem Buch keine Reinwaschung vorgelegt, sondern eine differenziert kritische und dokumentengestützte Rehabilitation der vielfach Verleumdeten (etwa durch Kristin Wesemann oder Jutta Ditfurth) – freilich ohne sie unkritisch aufs Podest zu heben. Der Biograf hatte Zugang zum unveröffentlichten Nachlass Riemecks, versteht die Quellen einzuordnen, zu lesen und geistreich auszuwerten und spannend zu erzählen. Dazu ist es ihm gelungen, noch lebende Zeitzeugen ausfindig zu machen und zu interviewen. So ist ein Riemeck-Porträt entstanden, vor dem wir mit Bewunderung und Befremden zugleich stehen und auf das wir Conrad Ferdinand Meyers Worte über Ulrich von Hutten anpassen können: «Sie war kein ausgeklügelt Buch, sie war ein Mensch mit Widersprüchen.»
Aus dem Buch
Für die friedliche Verständigung
Im Herbst 1959 sammelt Riemeck wieder einmal Unterschriften für einen Appell. Er soll im Bundestag verlesen werden. Wie viele andere Professoren erhält auch Carlo Schmid, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Post von ihr, verbunden mit der Bitte, folgende Erklärung zu unterzeichnen: «Die mächtigsten Verbündeten der Bundesrepublik, die Vereinigten Staaten und Großbritannien, haben sich entschlossen, gegenüber der Sowjetunion eine elastischere, verhandlungsbereite Politik einzuleiten. […] Eine Neuorientierung der deutschen Politik ist dringend geboten. […] Wir dürfen an unserem Verzicht auf Gewaltanwendung und an unserem Willen zur friedlichen Verständigung mit allen Völkern keinen Zweifel lassen. […] Die Politik, die einzuschlagen wäre, muss daher die Bemühungen um eine allgemeine kontrollierte Abrüstung wirksam unterstützen, indem die atomare Bewaffnung der Bundeswehr eingestellt wird und Verhandlungen über eine militärische Entspannungszone in Europa geführt werden.» Am 4. November veröffentlicht Riemeck die Unterschriften von 37 Professoren. Sie verlangen «eine völlige Neuorientierung der Bonner Außenpolitik». Mit dieser Erklärung verfolgt sie das Ziel, Bundestagsabgeordneten den Rücken zu stärken, die am 5.11.1959 über die Beziehungen zur ddr und zur udssr sowie über die Berlin-Frage und die Nato-Mitgliedschaft debattieren werden.
S. 182. Bild: Renate Riemeck in ihrer Weilburger Zeit, 1954
Alle Bilder stammen, wenn nicht anders angegeben, aus dem Renate-Riemeck-Nachlass, Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS)
Buch Albert Vinzens, Renate Riemeck. Historikerin, Pädagogin, Pazifistin. 1920–2003. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023, 408 S., ISBN 978-3-8353-5452-4, € 28,00.
Albert Vinzens, Dr. phil., wuchs in Graubünden auf. In jungen Jahren war er Extremkletterer, studierte dann in Zürich, München und Basel Philosophie und Geschichte und promovierte über Friedrich Nietzsche. Heute lebt er als freier Autor in Kassel. Veröffentlichungen u. a.: Essays und Bücher über extremes Leben, Denken und das Spiel sowie biografische Texte über Nietzsche, Beuys, Goethe. Zuletzt arbeitete er an der großen Bildbiografie über Rudolf Steiner mit.