Albert Steffen ist ein Dichter, der voll und ganz den geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg für sein künstlerisches Schaffen nutzt. Das Buch von Heinrich Schirmer ist eine gelungene Darstellung dieses Weges.
Veröffentlichungen zu Albert Steffen sind spärlich und im Grunde wenig gefragt. So ist es doch immerhin erstaunlich, dass nur wenige Monate nach dem Erscheinen der Biografie von Klaus Hartmann ein neues kleines Büchlein über Albert Steffen vorliegt. Seine Dichtung entspringt einem vollbewussten Quell, der auf dem Schulungsweg basiert. Dass solche Kunst besondere Ansprüche an den Lesenden stellt, zeigt sich nicht zuletzt schon an den Mysteriendramen. Auch sie sind ohne anthroposophischen Hintergrund kaum verständlich und müssen eben auch entsprechend gelesen werden. Das etwa 100-seitige Büchlein von Heinrich Schirmer ist ein großer Gewinn, weil es die eventuellen Schwierigkeiten mit Albert Steffens Dichtung nicht nur anspricht, sondern auch zeigt, woher sie kommen, welchen Missverständnissen die Dichtung ausgesetzt ist und wie man Steffens Kunst nahekommen kann.
Schirmer geht zunächst auf den Erkenntnisweg ein. Besonders beeindruckend ist das herangezogene Beispiel von Henry Miller, in dem dieser beschreibt, wie der Dichter Rimbaud an eine Grenze kommt, die er überschreiten will, daran aber existenziell scheitert.1 Diese Schwellensituation ist für einen modernen Schriftsteller konstitutiv, und in hohem Grade gilt dies für Albert Steffen. Diffizil und eigenständig schildert Schirmer die Prozesse, die in einer solchen Situation auftreten, auch wenn er dabei die Darstellungen zum Hüter der Schwelle aus ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten› nutzt. Zudem werden immer wieder Zitate aus der ‹Philosophie der Freiheit› verwendet, die hilfreich die innere Situation beleuchten, zugleich aber auch hinweisen auf die Freiheitsexistenzialien, wie sie in Schwellensituationen auftreten. Diese Darstellungen versuchen verständlich zu machen, was Steffen erlebt haben muss und welche Folgen es für seine Dichtung hatte, exemplarisch verdeutlicht an seinem Roman ‹Bestimmung der Rohheit›. Dass Schirmer gerade dieses spröde und wenig einladende Werk ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt, erweist sich in mehrerer Hinsicht als ein gelungener und mutiger Griff. Es führt in Steffens Erlebniswelt ein und zeigt vorbildlich, wie er gelesen werden kann.
«Fast scheint es, als wirke er mit seiner Dichtung selbst wie ein ‹Hüter der Schwelle›.» Dem kann man nur zustimmen. Das ist sicher ein Grund für die Unpopularität Steffens.
Schirmer stellt auch die Lebenssituation von Steffen dar, in der der Roman geschrieben wurde. Es wird auf die Jahre hingewiesen, deren gewaltiger Umbruch am besten im ersten Teil der ‹Pilgerfahrt zum Lebensbaum. Die Vorbereitung› zum Ausdruck kommt.2 Mit Rudolf Steiners Bemerkung aus seiner Besprechung der ‹Pilgerfahrt›, hier habe Albert Steffen «in sich den zweiten Menschen zum Sprechen gebracht»3, wird der Boden bereitet für die ausführliche Inhaltsangabe der 14 Kapitel des Romans. Die hier vorgelegte Kapiteldarstellung ist ein Beispiel, wie man Steffen lesen kann: indem man sich vorbehaltlos auf das Dargestellte einlässt. Dann fängt der Text an zu sprechen. Dann können weitergehende Zusammenhänge und Dimensionen aufgehen. Diese werden auch überzeugend in den Kapiteln zum Aufbau und zur Thematik offengelegt. Ein weiterer Höhepunkt des Buches: Der Autor geht auf das Frauenbild Albert Steffens ein. «Bei der Betrachtung von Steffens Frauenbild ist es nicht leicht, mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.»4 Die von Marie Steiner geäußerte ‹Übelkeit› beim Lesen gewisser Stellen mag dafür Pate stehen. Aber Schirmer gelingt es, anhand einer feinfühligen Darstellung der Beziehung Steffens zu Else von Carlsberg dessen Frauenverständnis einsichtig zu machen. Das Buch schließt mit dem Verweis auf die von Steffen innig erlebte Christusrealität. Sie findet sich in seinen Figuren wieder, ebenso wie das Gewissensmotiv, der Kern eines zukünftigen Manichäismus.
Schon allein deshalb lohnt sich diese Lektüre. Aber das wäre doch zu wenig. Denn Schirmer bringt hier immerhin das Kunststück fertig, die Modernität Steffens aufzuzeigen, die verlangt, dass man sich als Leser oder Leserin erziehen muss, genau und vorbehaltlos zu lesen, und nicht abgeholt wird, sondern sich selbst einbringen muss. Echte Poesie verlangt ein solches Erkenntnisinteresse, sei es bei Goethe, Novalis, Kafka, Handke oder anderen. Hinzu kommt bei Steffen aber noch etwas anderes, und es ist schon bedeutend, wenn der Autor bemerkt: «Fast scheint es, als wirke er mit seiner Dichtung selbst wie ein ‹Hüter der Schwelle›.»5 Dem kann man nur zustimmen. Das ist sicher ein Grund für die Unpopularität Steffens. Aber es zeigt eine Nähe zu Dürrenmatt. Bei ihm ist das Motiv des Richtens in allen seinen Werken virulent. Vielleicht könnte man sagen, bei ihm vor der, bei Steffen nach der Schwelle, bei beiden im besten Sinne als Schweizer Zeitgenossen.
Buch Heinrich Schirmer, Poesie und Erkenntnis. Versuch über Albert Steffen. Verlag Ch. Möllmann, Borchen 2020.
Titelbild: Albert Steffen (1884-1963), Albert-Steffen-Stiftung.
Footnotes
- «Als er sich in einer finsteren Nacht der Seele zum Meister der Phantasmagorie proklamiert und damit brüstet, dass er jedes Geheimnis entschleiern werde, verzichtet er auf alle Bindungen an die Zeit oder das Land, in dem er zur Welt gekommen war. ‹Ich bin gerüstet für die Vollkommenheit.› Er hatte seine eigene Einweihung vorbereitet, überlebte die schreckliche Prüfung und sank dann in die Nacht zurück, in die er hineingeboren war […] Seine Vorbereitungen für ein neues Leben waren entweder unzureichend oder falsch.» (Heinrich Schirmer, Poesie und Erkenntnis, Versuch über Albert Steffen, S. 33)
- Ebd., S. 51.
- Ebd.
- Ebd., S. 86.
- Ebd., S. 92.