Die Menschheit unserer Zeit überschreitet die Schwelle. Es ist ein rätselhaftes Ereignis, das auch mit der sogenannten ‹Wiederkunft des Christus im Ätherischen› zusammenhängt, deren Beginn das Jahr 1933 gewesen sei. Dieses transformative Ereignis wird sich tief auf die folgenden Jahrhunderte auswirken.1 Jede Frage, die wir heutzutage ernsthaft stellen wollen, muss angesichts des Schwellenaugenblicks gestellt werden. Eines der Kennzeichen dieser Überschreitung ist die Beschäftigung mit Sprache. Das menschliche Bewusstsein sucht nach dem verborgenen Alphabet des Universums, um sich in Zukunft eine Basis für seine schöpferische Freiheitsaktivität zu schaffen.
Die Entwicklungsbewegung mit ihren sieben Kulturepochen kann als ein großer Bogen gesehen werden, der mit einem allmählichen Hinabsteigen in die irdische Lebenssphäre beginnt, sich festigend auf der Erde fortsetzt, um sich dann wieder aufwärtszubewegen, durch eine Umstülpung im Herzen des irdischen Zeitraums. Betrachten wir diesen großen Bogen, so können wir zwei kritische Momente, zwei Schwellen sehen, die ihn durchkreuzen. Einen nah zu Beginn der dritten, ägyptisch-mesopotamischen Kulturepoche (3101 v. Chr.), in dem sich die Menschheit vom alten geistigen Bewusstsein verabschiedet und beginnt, sich eine Basis auf der Erde zu schaffen. Der andere geschieht auf der zweiten Seite des Bogens, ganz nah zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1899), in dem die Menschheit wieder beginnt, die Schwelle zu überschreiten, diesmal in entgegengesetzter Richtung, um sich dem Erleben des Geistes durch das gereifte Ich-Bewusstsein zu öffnen. Was als Keim im Herzen des Erdenzeitalters angelegt wurde, die Kreuzigung und die Auferstehung, und allmählich durch die vierte Kulturepoche und die ersten Jahrhunderte der fünften Kulturepoche reifte, wird durch das Überschreiten der Schwelle ins Bewusstsein gehoben und kann nun auch im äußeren Leben tätig werden.
Babel
Aus der fernen Vergangenheit der Menschheit zeigt sich ein Bild, das vom Blickpunkt der Sprache den Augenblick des Schwellenübergangs vom Geistigen zum Irdischen beschreibt. Dies ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Dort heißt es: «Alle Menschen hatten die gleiche Sprache […].» Hier wird eigentlich der Zustand vor dem Schwellenübergang beschrieben. Dann sagen sich die Menschen: «Auf, bauen wir uns […] einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel […], dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.» Durch die Wende jener Zeit bekommen sie das Gefühl, dass etwas verloren geht. Nun wollen sie nach oben zurückkehren, zu jener Einheit, die dem Menschen verloren zu gehen droht. Aber Gott verwirrt ihre Sprache. An diesem Stadium der Menschheit, der dritten Kulturepoche, soll jedoch das Bewusstsein die Einheit verlieren und eigenständig auf der Erde zu sich finden. Darum erscheint hier der Versuch, zum Geist hinauf zurückzukehren, als eine Regression. Die Verwirrung der Sprache dient hier als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Individuation.2
Was ist jene ‹gleiche Sprache›? Bis zu einer gewissen Epoche in der Geschichte verstanden sich die Menschen unmittelbar aus inspirativer Erfahrung.3 Die Dinge sprachen in der Innerlichkeit des Menschen ihr Selbstsein als Klang aus. Wenn die Menschheit sich vor dem Geist verschließt, geht auch jene ‹gleiche Sprache› allmählich verloren. Aus ihr entstehen die ‹verwirrten Sprachen›, die bereits auf Konvention basieren. Anstatt einer unmittelbaren Spracherfahrung entsteht eine Sprache mit einem intellektuellen Konventionscharakter. Die sprachliche Welt schließt sich allmählich ab und wird letztendlich zu einem Konventionsverhältnis zwischen Signifikant und Signifikat.
Der Logos als Wort
In diesem großen Prozess, im asymmetrischen Mittelpunkt zwischen den beiden Schwellenübergängen, erfolgt die Inkarnation des großen Sonnenwesens, des Christus. Was bislang am Umkreis gewirkt hat, wird nun durch den Mittelpunkt in einer Überquerung des ‹Stirb und Werde› geboren. Jenes Wesen heißt im Johannesevangelium das ‹Wort› (der ‹Logos›). Dieses Wort ist der sprechende Gott und das gesprochene Wort Gottes zugleich. Es liegt gleichsam wie ein Samen unter der Bewusstseinsschwelle und beginnt langsam über die Jahrhunderte hinweg zu wachsen, sodass es in unserer Zeit zum ersten Mal durch den Schwellenübergang vollends ins Bewusstsein vordringen kann. Im Überblick gesehen, ging die ursprüngliche, schöpfende Gestensprache verloren, um als Wort geboren zu werden. Fünfzig Tage nach der Auferstehung versammeln sich die Jünger ‹eines Herzens› zu Pfingsten. In der Apostelgeschichte wird beschrieben, wie der Heilige Geist in Gestalt von Feuerzungen auf sie herabsank. Pfingsten wird zu einem Fest eines erweckenden Bewusstseins für die Geburt des Logos. Was fünfzig Tage vorher in einem kosmisch-menschlichen Ereignis als Wortsamen gelegt worden ist, wird nun individualisiert und auf der menschlichen Ebene tätig. Die Jünger beginnen, verschiedene Sprachen zu sprechen. Durch das Herabsinken der Feuerzungen wird in ihnen die universelle Sprache neu geboren. Ab diesem Augenblick werden die Jünger zu Aposteln und machen sich auf den Weg, ihre Aufgabe auf der Welt zu erfüllen. Die Geburt des neuen Geistes in unserer Zeit, der fünften Kulturepoche, ist das Erwachen des Bewusstseins für das, was in der vierten Epoche als Samen gesät worden ist, und zwar genau so, wie Pfingsten (Pentekoste auf Griechisch: ‹der fünfzigste Tag›) ein Erwachen dessen ist, was bei der Auferstehung als Samen gesät wurde. In diesem Sinne finden wir ein inneres Verhältnis zwischen dem Ereignis der Pentekoste und dem heutigen Geschehen des Schwellenübergangs. Gewissermaßen ist die Pentekoste auch eine Art Umkehrung der Erzählung vom Turmbau zu Babel. Beim Letzteren wird die Einheitssprache zu zahlreichen Sprachen verwirrt. Beim Ersteren hingegen wird der Samen für eine universelle Einheitssprache gelegt, die aus dem wachen Mittelpunkt eines jeden Menschen geboren wird. In diesem Sinne ist Pfingsten auch das Fest der neuen Gemeinschaft, die auf der universell-individuellen Begegnung beruht. Das Eindringen in den Mittelpunkt des eigenen Wesens führt zum Umkreis des Seins, an dem die verschiedenen Sprachen sich als Aspekte einer Ursprache erweisen.
Schwellenübergang und Sprachfrage
Bei der Beobachtung der Sprache – oder noch genauer: der Sprache als Sprechen – können wir deutlich drei Ebenen identifizieren. Einerseits die inhaltliche, in welcher die Sprache als ein informatives Medium fungiert. Andererseits der entgegengesetzte, heutzutage beinahe verlorene Pol, nämlich die schöpferische Ebene der Sprache: Spricht man ein Wort, so erzeugt es eine klangliche Geste im Raum. Diese beiden Sprachebenen stehen polar zueinander: Die eine hängt mit der Sphäre des Bewusstseins, die andere mit der Willenssphäre zusammen. Dazwischen, in der Sphäre der Mitte, bewegt sich die erklingende Prozessualität des Sprechaktes. Während wir uns dem Augenblick des Schwellenübergangs annähern, verschärft sich die Sprachfrage in den verschiedenen Kulturgebieten. Dies bezeugen drei Hauptbereiche der Gestaltung des Bewusstseins- und Kulturlebens des letzten Jahrhunderts. Erstens: die Entwicklung der binären Sprache, die dem Computer zugrunde liegt. Zweitens: die Erforschung des menschlichen Genoms, die Entschlüsselung der DNA-Struktur. Drittens: die Kernspaltung. Das sind drei zentrale Bereiche, die allesamt im mittleren Drittel des letzten Jahrhunderts stattfinden, also im Augenblick, der nach Steiner für den Schwellenübergang in unserer Zeit ausschlaggebend ist.
Die Phänomenologie der Kultur geht von Kulturphänomenen aus, die auf der Bühne der Geschichte auftreten, und stellt die Frage, was der neue geistige Schritt ist, dessen irdischer Schatten jene Phänomene sind. Mit anderen Worten: Das externe kulturelle Geschehen ist der irdische Aspekt eines Tiefengeschehens, das mit der Veränderung und der Geburt neuer Fähigkeiten zusammenhängt, genauer gesagt: mit einem Aufruf zur Geburt neuer Fähigkeiten. Was steht also hinter den drei wichtigen Entwicklungen, die wir oben beschrieben haben? Die Entwicklung der binären Sprache, welche die Grundlage für die Entwicklung der ganzen Informatik bildet, ist die Erschaffung einer Sprache, die nur auf zwei Buchstaben, zwei Zeichen basiert. Prinzipiell lassen sich mit zwei Zeichen unendlich viele Bedeutungen darstellen. Das ist vor allem auf dem Gebiet der Sprache ein großer Durchbruch. Aber ist es nicht so, dass hinter dieser Entwicklung in innerlich-geistiger Hinsicht die Suche nach einer Denksprache für die Grundlagen des Seins steht? In seinen Vorträgen für Lehrer spricht Steiner über die ‹Gerade› und die ‹Krumme›. In der binären Sprache können wir dasselbe Prinzip als abstrakten Schatten erkennen: 0 und 1. Ist es nicht so, dass hinter der binären Abstraktion etwas anderes steht, nämlich die innere Suche nach dem ursprünglichen Alphabet?
In der Offenbarung des Johannes sagt der Logos über sich selbst: «Ich bin das Alpha und das Omega». Das Ich-bin selbst erscheint als das Alphabet des Universums. Im Hinblick auf das Wesen und die Qualität hängt das ‹Alpha und Omega› mit zwei Grundgesten des Seins zusammen: einer strahlenden Bewegung mit offenem Charakter vom Mittelpunkt zum Umkreis und einer sich verdichtenden Bewegung mit sammelndem Charakter vom Umkreis zum Mittelpunkt (die Gerade und die Krumme sind in diesem Sinne Spuren der strahlenden und der sich verdichtenden Tätigkeit). Klanglich sind es die Vokale A und O.4
Das Alphabet des Seins
Die Möglichkeit, das ursprüngliche Alphabet des Seins als zwei grundlegende, entgegengesetzte und sich ergänzende Wesensqualitäten zu begreifen, ist der große Durchbruch des Schwellenübergangsgeschehens in der Denkebene. Ihr irdischer Schattenaspekt ist die binäre Sprache. Aus diesen beiden Grundqualitäten können wir nun durch schöpferische Denkphänomenologie innerlich das ganze Sein als Differenzierung des Grundpulses zwischen der Geraden und der Krummen, dem A und dem O aufbauen. Natürlich fällt der Unterschied zwischen der Wesenssprache und ihrem binären Schatten auf: Die binäre Sprache basiert auf zwei Buchstaben oder auf Zahlen, 0 und 1, das heißt auf einem quantitativen Verhältnis ohne Wesensqualität und Mitte. Das ist die tote Schattenfigur einer neuen Denkform, die in der Menschheit erwachen möchte und sich auf die Bewegung zwischen zwei Seinsqualitäten stützt. Die zwischen den beiden Grundgesten lebende Mitte zeigt sich als das Wesen der Umwandlung.5 Von hier gelangen wir zum entscheidenden Punkt: Die binäre Sprache kann unendlich viele Möglichkeiten darstellen, aber das Unendliche an sich kann sie nicht begreifen. Da es sich um die Unendlichkeit einer Mehrzahl handelt, muss der Fortschritt auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz vor der Schwelle des Unendlichen halten. Das wahrlich Unendliche ist ein dimensionsloses Sein, das sich nicht darstellen lässt. Es ist der intuitive Moment, in dem Mittelpunkt und Umkreis für einen flüchtigen Augenblick eins werden.
Das Alphabet des Lebens
Beim Abstieg eine Stufe weiter in die mittlere Sphäre, die auch als Lebenssphäre vorkommt, können wir am Anfang der 1950er-Jahre eine intensive Auseinandersetzung der Wissenschaft mit der Frage nach der grundlegendsten Struktur der Zelle feststellen, die die gesamte Geninformation enthält. Die Forschung auf dem Gebiet der Genetik ist nicht einfach eine weitere biologische Entdeckung. Hier geht es um die Frage des Codes, von dem aus der Mensch alle anderen Aspekte verstehen könnte. Eigentlich dreht sich diese Frage um die biologische Primärsprache, mit anderen Worten: um das Alphabet des Lebens. In diesem Zusammenhang sollen wir nicht nur auf die Forschungsergebnisse achten, sondern auch auf eine Frage, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt dieser Entwicklung stellt. Der Blick richtet sich nunmehr auf die Sphäre der Mitte beziehungsweise die Lebenssphäre. Nichtsdestoweniger deutet gerade der auf diesen Punkt gerichtete Blick ein neues Element an – den Prozess beziehungsweise die Prozessualität –, das auf einem metamorphen Verhältnis basiert. Hierin können wir einen Schwellenübergang in die Lebenssphäre hinein erblicken, und zwar zu einer Zeit, in der die Menschheit sich bewusstseinsmäßig hin zum zentralen Ereignis unserer Zeit erheben kann, nämlich zur Erscheinung Christi in der Lebenssphäre. Die Entschlüsselung des genetischen Codes ist in dieser Hinsicht der irdische Schatten jenes inneren Geschehens.
Das Alphabet des schöpferischen Menschen
Damit kommen wir in der dritten Ebene an, die mit dem schöpferischen Sprechen zusammenhängt, dessen endlicher Aspekt der physische Körper und die Materie schlechthin sind. In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde intensiv versucht, das ‹Kleinste› zu überqueren und zu öffnen, das heißt den Atomkern zu spalten. Wo die schöpferische Kraft angekettet ist, entsteht bei ihrer Freisetzung ein immenses Zerstörungspotenzial. Das ist der freigelassene Geist aus der Flasche. «Die Aufgabe des Menschen ist nun», schreibt Georg Goelzer, «das schöpferische Feuer des Geistes aus dem Erstarrungszustand […] wieder zu befreien, aber in einem anderen Sinn als durch das unschöpferische Schattenwirken der Kernkraft.»6 Dem Menschen obliegt eine Umwandlungsaufgabe in Bezug auf die Materie. Durch die Überquerung des Wesensmittelpunktes der Materie soll das, was erstarrte und starb, wieder in den schöpferischen Zustand versetzt werden. Hierin besteht das tiefste Handeln des schöpferischen Kunstfeuers. Die schöpferische Überquerung des Mittelpunktes der Materie macht eine umwandelnde Überquerung meines Wesensmittelpunktes erforderlich. In Zukunft wird die schöpferische Tätigkeit der Sprache dazu führen, dass der Mensch lernen wird, aus dem Wort den menschlichen Körper zu gebären.7 Die neue Geburt aus dem Wort wird die Geburt des Menschen selbst. Das ist die große Kunst der Zukunft, die sich auf Harmonisierung in der Willenssphäre des Schicksals stützt. Hinter jenen drei technisch-kulturellen Erscheinungen, die weitreichende Folgen für die Entwicklung der Gegenwartskultur nach sich ziehen, können wir den Aufruf zur Geburt einer neuen Sprachaktivität vernehmen, die sich als die Pulsbewegung des Welten-Menschen-Wesens zwischen Alpha und Omega zeigt. Noch «herrlicher als das Gold [und …] erquicklicher als das Licht», sagt Goethe in seinem Märchen, ist «das Gespräch». Und der Raum des Gesprächs wird sich allmählich als kreativer Raum der Heilung und Transformation offenbaren. Die neue Pfingstgemeinde wird in diesem Sinne eine weltschaffende Gesprächsgemeinschaft sein.
Vita der Künstlerin
Sibylle Wissmeyer, geboren 1953 im Rheingau, studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München, Politik- und Literaturwissenschaften an der lmu-München und Eurythmie in Dornach und Oslo. Sie lebt und arbeitet bei München und auf Korsika. Instagram: sibyllewissmeyer
Die Menschheit unserer Zeit überschreitet die Schwelle. Es ist ein rätselhaftes Ereignis, das auch mit der sogenannten ‹Wiederkunft des Christus im Ätherischen› zusammenhängt, deren Beginn das Jahr 1933 gewesen sei. Dieses transformative Ereignis wird sich tief auf die folgenden Jahrhunderte auswirken.8 Jede Frage, die wir heutzutage ernsthaft stellen wollen, muss angesichts des Schwellenaugenblicks gestellt werden. Eines der Kennzeichen dieser Überschreitung ist die Beschäftigung mit Sprache. Das menschliche Bewusstsein sucht nach dem verborgenen Alphabet des Universums, um sich in Zukunft eine Basis für seine schöpferische Freiheitsaktivität zu schaffen.
Die Entwicklungsbewegung mit ihren sieben Kulturepochen kann als ein großer Bogen gesehen werden, der mit einem allmählichen Hinabsteigen in die irdische Lebenssphäre beginnt, sich festigend auf der Erde fortsetzt, um sich dann wieder aufwärtszubewegen, durch eine Umstülpung im Herzen des irdischen Zeitraums. Betrachten wir diesen großen Bogen, so können wir zwei kritische Momente, zwei Schwellen sehen, die ihn durchkreuzen. Einen nah zu Beginn der dritten, ägyptisch-mesopotamischen Kulturepoche (3101 v. Chr.), in dem sich die Menschheit vom alten geistigen Bewusstsein verabschiedet und beginnt, sich eine Basis auf der Erde zu schaffen. Der andere geschieht auf der zweiten Seite des Bogens, ganz nah zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1899), in dem die Menschheit wieder beginnt, die Schwelle zu überschreiten, diesmal in entgegengesetzter Richtung, um sich dem Erleben des Geistes durch das gereifte Ich-Bewusstsein zu öffnen. Was als Keim im Herzen des Erdenzeitalters angelegt wurde, die Kreuzigung und die Auferstehung, und allmählich durch die vierte Kulturepoche und die ersten Jahrhunderte der fünften Kulturepoche reifte, wird durch das Überschreiten der Schwelle ins Bewusstsein gehoben und kann nun auch im äußeren Leben tätig werden.
Babel
Aus der fernen Vergangenheit der Menschheit zeigt sich ein Bild, das vom Blickpunkt der Sprache den Augenblick des Schwellenübergangs vom Geistigen zum Irdischen beschreibt. Dies ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Dort heißt es: «Alle Menschen hatten die gleiche Sprache […].» Hier wird eigentlich der Zustand vor dem Schwellenübergang beschrieben. Dann sagen sich die Menschen: «Auf, bauen wir uns […] einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel […], dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.» Durch die Wende jener Zeit bekommen sie das Gefühl, dass etwas verloren geht. Nun wollen sie nach oben zurückkehren, zu jener Einheit, die dem Menschen verloren zu gehen droht. Aber Gott verwirrt ihre Sprache. An diesem Stadium der Menschheit, der dritten Kulturepoche, soll jedoch das Bewusstsein die Einheit verlieren und eigenständig auf der Erde zu sich finden. Darum erscheint hier der Versuch, zum Geist hinauf zurückzukehren, als eine Regression. Die Verwirrung der Sprache dient hier als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Individuation.9
Was ist jene ‹gleiche Sprache›? Bis zu einer gewissen Epoche in der Geschichte verstanden sich die Menschen unmittelbar aus inspirativer Erfahrung.10 Die Dinge sprachen in der Innerlichkeit des Menschen ihr Selbstsein als Klang aus. Wenn die Menschheit sich vor dem Geist verschließt, geht auch jene ‹gleiche Sprache› allmählich verloren. Aus ihr entstehen die ‹verwirrten Sprachen›, die bereits auf Konvention basieren. Anstatt einer unmittelbaren Spracherfahrung entsteht eine Sprache mit einem intellektuellen Konventionscharakter. Die sprachliche Welt schließt sich allmählich ab und wird letztendlich zu einem Konventionsverhältnis zwischen Signifikant und Signifikat.
Der Logos als Wort
In diesem großen Prozess, im asymmetrischen Mittelpunkt zwischen den beiden Schwellenübergängen, erfolgt die Inkarnation des großen Sonnenwesens, des Christus. Was bislang am Umkreis gewirkt hat, wird nun durch den Mittelpunkt in einer Überquerung des ‹Stirb und Werde› geboren. Jenes Wesen heißt im Johannesevangelium das ‹Wort› (der ‹Logos›). Dieses Wort ist der sprechende Gott und das gesprochene Wort Gottes zugleich. Es liegt gleichsam wie ein Samen unter der Bewusstseinsschwelle und beginnt langsam über die Jahrhunderte hinweg zu wachsen, sodass es in unserer Zeit zum ersten Mal durch den Schwellenübergang vollends ins Bewusstsein vordringen kann. Im Überblick gesehen, ging die ursprüngliche, schöpfende Gestensprache verloren, um als Wort geboren zu werden. Fünfzig Tage nach der Auferstehung versammeln sich die Jünger ‹eines Herzens› zu Pfingsten. In der Apostelgeschichte wird beschrieben, wie der Heilige Geist in Gestalt von Feuerzungen auf sie herabsank. Pfingsten wird zu einem Fest eines erweckenden Bewusstseins für die Geburt des Logos. Was fünfzig Tage vorher in einem kosmisch-menschlichen Ereignis als Wortsamen gelegt worden ist, wird nun individualisiert und auf der menschlichen Ebene tätig. Die Jünger beginnen, verschiedene Sprachen zu sprechen. Durch das Herabsinken der Feuerzungen wird in ihnen die universelle Sprache neu geboren. Ab diesem Augenblick werden die Jünger zu Aposteln und machen sich auf den Weg, ihre Aufgabe auf der Welt zu erfüllen. Die Geburt des neuen Geistes in unserer Zeit, der fünften Kulturepoche, ist das Erwachen des Bewusstseins für das, was in der vierten Epoche als Samen gesät worden ist, und zwar genau so, wie Pfingsten (Pentekoste auf Griechisch: ‹der fünfzigste Tag›) ein Erwachen dessen ist, was bei der Auferstehung als Samen gesät wurde. In diesem Sinne finden wir ein inneres Verhältnis zwischen dem Ereignis der Pentekoste und dem heutigen Geschehen des Schwellenübergangs. Gewissermaßen ist die Pentekoste auch eine Art Umkehrung der Erzählung vom Turmbau zu Babel. Beim Letzteren wird die Einheitssprache zu zahlreichen Sprachen verwirrt. Beim Ersteren hingegen wird der Samen für eine universelle Einheitssprache gelegt, die aus dem wachen Mittelpunkt eines jeden Menschen geboren wird. In diesem Sinne ist Pfingsten auch das Fest der neuen Gemeinschaft, die auf der universell-individuellen Begegnung beruht. Das Eindringen in den Mittelpunkt des eigenen Wesens führt zum Umkreis des Seins, an dem die verschiedenen Sprachen sich als Aspekte einer Ursprache erweisen.
Schwellenübergang und Sprachfrage
Bei der Beobachtung der Sprache – oder noch genauer: der Sprache als Sprechen – können wir deutlich drei Ebenen identifizieren. Einerseits die inhaltliche, in welcher die Sprache als ein informatives Medium fungiert. Andererseits der entgegengesetzte, heutzutage beinahe verlorene Pol, nämlich die schöpferische Ebene der Sprache: Spricht man ein Wort, so erzeugt es eine klangliche Geste im Raum. Diese beiden Sprachebenen stehen polar zueinander: Die eine hängt mit der Sphäre des Bewusstseins, die andere mit der Willenssphäre zusammen. Dazwischen, in der Sphäre der Mitte, bewegt sich die erklingende Prozessualität des Sprechaktes. Während wir uns dem Augenblick des Schwellenübergangs annähern, verschärft sich die Sprachfrage in den verschiedenen Kulturgebieten. Dies bezeugen drei Hauptbereiche der Gestaltung des Bewusstseins- und Kulturlebens des letzten Jahrhunderts. Erstens: die Entwicklung der binären Sprache, die dem Computer zugrunde liegt. Zweitens: die Erforschung des menschlichen Genoms, die Entschlüsselung der DNA-Struktur. Drittens: die Kernspaltung. Das sind drei zentrale Bereiche, die allesamt im mittleren Drittel des letzten Jahrhunderts stattfinden, also im Augenblick, der nach Steiner für den Schwellenübergang in unserer Zeit ausschlaggebend ist.
Die Phänomenologie der Kultur geht von Kulturphänomenen aus, die auf der Bühne der Geschichte auftreten, und stellt die Frage, was der neue geistige Schritt ist, dessen irdischer Schatten jene Phänomene sind. Mit anderen Worten: Das externe kulturelle Geschehen ist der irdische Aspekt eines Tiefengeschehens, das mit der Veränderung und der Geburt neuer Fähigkeiten zusammenhängt, genauer gesagt: mit einem Aufruf zur Geburt neuer Fähigkeiten. Was steht also hinter den drei wichtigen Entwicklungen, die wir oben beschrieben haben? Die Entwicklung der binären Sprache, welche die Grundlage für die Entwicklung der ganzen Informatik bildet, ist die Erschaffung einer Sprache, die nur auf zwei Buchstaben, zwei Zeichen basiert. Prinzipiell lassen sich mit zwei Zeichen unendlich viele Bedeutungen darstellen. Das ist vor allem auf dem Gebiet der Sprache ein großer Durchbruch. Aber ist es nicht so, dass hinter dieser Entwicklung in innerlich-geistiger Hinsicht die Suche nach einer Denksprache für die Grundlagen des Seins steht? In seinen Vorträgen für Lehrer spricht Steiner über die ‹Gerade› und die ‹Krumme›. In der binären Sprache können wir dasselbe Prinzip als abstrakten Schatten erkennen: 0 und 1. Ist es nicht so, dass hinter der binären Abstraktion etwas anderes steht, nämlich die innere Suche nach dem ursprünglichen Alphabet?
In der Offenbarung des Johannes sagt der Logos über sich selbst: «Ich bin das Alpha und das Omega». Das Ich-bin selbst erscheint als das Alphabet des Universums. Im Hinblick auf das Wesen und die Qualität hängt das ‹Alpha und Omega› mit zwei Grundgesten des Seins zusammen: einer strahlenden Bewegung mit offenem Charakter vom Mittelpunkt zum Umkreis und einer sich verdichtenden Bewegung mit sammelndem Charakter vom Umkreis zum Mittelpunkt (die Gerade und die Krumme sind in diesem Sinne Spuren der strahlenden und der sich verdichtenden Tätigkeit). Klanglich sind es die Vokale A und O.11
Das Alphabet des Seins
Die Möglichkeit, das ursprüngliche Alphabet des Seins als zwei grundlegende, entgegengesetzte und sich ergänzende Wesensqualitäten zu begreifen, ist der große Durchbruch des Schwellenübergangsgeschehens in der Denkebene. Ihr irdischer Schattenaspekt ist die binäre Sprache. Aus diesen beiden Grundqualitäten können wir nun durch schöpferische Denkphänomenologie innerlich das ganze Sein als Differenzierung des Grundpulses zwischen der Geraden und der Krummen, dem A und dem O aufbauen. Natürlich fällt der Unterschied zwischen der Wesenssprache und ihrem binären Schatten auf: Die binäre Sprache basiert auf zwei Buchstaben oder auf Zahlen, 0 und 1, das heißt auf einem quantitativen Verhältnis ohne Wesensqualität und Mitte. Das ist die tote Schattenfigur einer neuen Denkform, die in der Menschheit erwachen möchte und sich auf die Bewegung zwischen zwei Seinsqualitäten stützt. Die zwischen den beiden Grundgesten lebende Mitte zeigt sich als das Wesen der Umwandlung.12 Von hier gelangen wir zum entscheidenden Punkt: Die binäre Sprache kann unendlich viele Möglichkeiten darstellen, aber das Unendliche an sich kann sie nicht begreifen. Da es sich um die Unendlichkeit einer Mehrzahl handelt, muss der Fortschritt auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz vor der Schwelle des Unendlichen halten. Das wahrlich Unendliche ist ein dimensionsloses Sein, das sich nicht darstellen lässt. Es ist der intuitive Moment, in dem Mittelpunkt und Umkreis für einen flüchtigen Augenblick eins werden.
Das Alphabet des Lebens
Beim Abstieg eine Stufe weiter in die mittlere Sphäre, die auch als Lebenssphäre vorkommt, können wir am Anfang der 1950er-Jahre eine intensive Auseinandersetzung der Wissenschaft mit der Frage nach der grundlegendsten Struktur der Zelle feststellen, die die gesamte Geninformation enthält. Die Forschung auf dem Gebiet der Genetik ist nicht einfach eine weitere biologische Entdeckung. Hier geht es um die Frage des Codes, von dem aus der Mensch alle anderen Aspekte verstehen könnte. Eigentlich dreht sich diese Frage um die biologische Primärsprache, mit anderen Worten: um das Alphabet des Lebens. In diesem Zusammenhang sollen wir nicht nur auf die Forschungsergebnisse achten, sondern auch auf eine Frage, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt dieser Entwicklung stellt. Der Blick richtet sich nunmehr auf die Sphäre der Mitte beziehungsweise die Lebenssphäre. Nichtsdestoweniger deutet gerade der auf diesen Punkt gerichtete Blick ein neues Element an – den Prozess beziehungsweise die Prozessualität –, das auf einem metamorphen Verhältnis basiert. Hierin können wir einen Schwellenübergang in die Lebenssphäre hinein erblicken, und zwar zu einer Zeit, in der die Menschheit sich bewusstseinsmäßig hin zum zentralen Ereignis unserer Zeit erheben kann, nämlich zur Erscheinung Christi in der Lebenssphäre. Die Entschlüsselung des genetischen Codes ist in dieser Hinsicht der irdische Schatten jenes inneren Geschehens.
Das Alphabet des schöpferischen Menschen
Damit kommen wir in der dritten Ebene an, die mit dem schöpferischen Sprechen zusammenhängt, dessen endlicher Aspekt der physische Körper und die Materie schlechthin sind. In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde intensiv versucht, das ‹Kleinste› zu überqueren und zu öffnen, das heißt den Atomkern zu spalten. Wo die schöpferische Kraft angekettet ist, entsteht bei ihrer Freisetzung ein immenses Zerstörungspotenzial. Das ist der freigelassene Geist aus der Flasche. «Die Aufgabe des Menschen ist nun», schreibt Georg Goelzer, «das schöpferische Feuer des Geistes aus dem Erstarrungszustand […] wieder zu befreien, aber in einem anderen Sinn als durch das unschöpferische Schattenwirken der Kernkraft.»13 Dem Menschen obliegt eine Umwandlungsaufgabe in Bezug auf die Materie. Durch die Überquerung des Wesensmittelpunktes der Materie soll das, was erstarrte und starb, wieder in den schöpferischen Zustand versetzt werden. Hierin besteht das tiefste Handeln des schöpferischen Kunstfeuers. Die schöpferische Überquerung des Mittelpunktes der Materie macht eine umwandelnde Überquerung meines Wesensmittelpunktes erforderlich. In Zukunft wird die schöpferische Tätigkeit der Sprache dazu führen, dass der Mensch lernen wird, aus dem Wort den menschlichen Körper zu gebären.14 Die neue Geburt aus dem Wort wird die Geburt des Menschen selbst. Das ist die große Kunst der Zukunft, die sich auf Harmonisierung in der Willenssphäre des Schicksals stützt. Hinter jenen drei technisch-kulturellen Erscheinungen, die weitreichende Folgen für die Entwicklung der Gegenwartskultur nach sich ziehen, können wir den Aufruf zur Geburt einer neuen Sprachaktivität vernehmen, die sich als die Pulsbewegung des Welten-Menschen-Wesens zwischen Alpha und Omega zeigt. Noch «herrlicher als das Gold [und …] erquicklicher als das Licht», sagt Goethe in seinem Märchen, ist «das Gespräch». Und der Raum des Gesprächs wird sich allmählich als kreativer Raum der Heilung und Transformation offenbaren. Die neue Pfingstgemeinde wird in diesem Sinne eine weltschaffende Gesprächsgemeinschaft sein.
Vita der Künstlerin
Sibylle Wissmeyer, geboren 1953 im Rheingau, studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München, Politik- und Literaturwissenschaften an der lmu-München und Eurythmie in Dornach und Oslo. Sie lebt und arbeitet bei München und auf Korsika. Instagram: sibyllewissmeyer
Footnotes
- Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. Vortrag vom 6.3.1910, GA 152, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1990, S. 46.
- Emil Bock, Urgeschichte. Urachhaus, Stuttgart 1978, S. 106.
- Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1983, S. 26.
- Georg Goelzer, Alpha und Omega. Urachhaus, Stuttgart 1997, S. 60.
- Ebd. S. 20.
- Mara Friederich und Georg Goelzer, Falter und Blüte, Der Grüne Vogel. Dornach 1994, S. 275.
- Rudolf Steiner, Die Theosophie des Rosenkreuzers. Vortrag vom 5.6.1907, GA 99, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1985, S. 147.
- Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. Vortrag vom 6.3.1910, GA 152, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1990, S. 46.
- Emil Bock, Urgeschichte. Urachhaus, Stuttgart 1978, S. 106.
- Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1983, S. 26.
- Georg Goelzer, Alpha und Omega. Urachhaus, Stuttgart 1997, S. 60.
- Ebd. S. 20.
- Mara Friederich und Georg Goelzer, Falter und Blüte, Der Grüne Vogel. Dornach 1994, S. 275.
- Rudolf Steiner, Die Theosophie des Rosenkreuzers. Vortrag vom 5.6.1907, GA 99, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1985, S. 147.