Naturwissenschaft und Technik haben uns von der Natur frei werden lassen und entfremdet. So wurde Selbsterkenntnis möglich. Jetzt ruft die Natur nach einer Partnerschaft mit uns. Im zweiten Podcast der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› sprach Wolfgang Held mit Johannes Wirz, Biologe und Co-Leiter der Naturwissenschaftlichen Sektion.
Wie kommen wir dem Lebendigen auf die Spur?
Ich habe Molekularbiologie studiert und gelernt, wie man Eiweiße oder Gensequenzen isoliert und diese zum Beispiel in ein Bakterium überführt. Zum Wesen der experimentellen Wissenschaft gehört als erster Schritt, Leben zu zerstören. Sie geht mit dem Toten des Lebendigen um. Ich begegnete der wirklichen ‹Lebenswissenschaft›, d. h. der Biologie, mit einem Begriff vom Leben durch Jochen Bockemühl. Er lehrte, Pflanzen als Zeitgestalten und Tiere als Bewegungsgestalten zu erkennen. Erst durch das Denken werden die verschiedenen Erscheinungsformen (z. B. Keim, Blüte oder Frucht) in ein Gesamtbild zusammengefügt. Leben und Denken gehören zusammen. Wenn ich im Erkennen die verschiedenen Erscheinungsformen zusammenbringen kann, bin ich dem Leben auf der Spur. Goethe nannte das ‹anschauendes Denken›. Wenn es gelingt, die ganze Entwicklung einer Pflanze in einem Bild vor die Seele zu stellen, erreicht man eine Ebene, die als Imagination bezeichnet werden kann. Auf diese Weise wird das sinnliche, unsichtbare Leben erfasst und begriffen.
Wie wird das praktisch?
Entwicklungsvorgänge in ihrer Bildhaftigkeit sind die erste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis. In einem nächsten Schritt kann man versuchen, die Denktätigkeit, mit der man zur Imagination gekommen ist, als solche ins Auge zu fassen. Wenn das gelingt, wird man bemerken, dass das Wesen der Pflanze exakt dieselbe Tätigkeit benutzt, um die verschiedenen Erscheinungsformen hervorzubringen. Diese Einsicht wird in der anthroposophischen Terminologie als Inspiration bezeichnet.
Auf einer dritten Stufe kann man ergründen, wer das Wesen, die ‹Kraftgestalt› ist, die sich in ihrer Tätigkeit in den verschiedenen Erscheinungsformen manifestiert. Das ist dann anthroposophisch gesprochen Intuition.
Hat man diese Stufen – wenn auch nur anfänglich – durchlaufen, verändert sich das ganze Verhältnis zur belebten Welt. Sie ist nicht mehr ein ‹Objekt› draußen, sondern ein Du, mit dem ich mich in Beziehung setze. In der Folge entsteht der Wunsch, dem Lebendigen mit Sorgfalt, Respekt und Gewaltlosigkeit zu begegnen. Für die Lebenspraxis hat das unmittelbare Bedeutung. Man übernimmt Verantwortung für dieses Du, weil man ihm aus dem eigenen Inneren heraus die Möglichkeit gibt, sich zur Erscheinung zu bringen. Andreas Suchantke bezeichnete diese Möglichkeit als ‹Partnerschaft mit der Natur›.
Lebenswissenschaft lehrt, dass wir auf lebendiger bzw. ätherischer Ebene alle miteinander verbunden sind. Wird im Außen etwas zerstört, geht auch ein Teil in uns kaputt.
Bewusstseinsgeschichtlich hat es lange gedauert, bis der Mensch sich als Subjekt und die Welt als Objekt erkennen konnte. Zu Beginn waren beide eins. Es gab Sinneserfahrungen, die zugleich immer mit einem Geistigen verbunden waren. Als das Ich erwachte, war das Geistige der Welt weg, weil das Ich sich nur im Leib verkörpert fühlte. Durch den Gewinn der Autonomie des Menschen blieb die Natur auf der Strecke.
Unbenommen braucht es gutes biologisches, botanisches, zoologisches, ökologisches Wissen, um die Klimakrise zu überwinden. Aber wir müssen gleichzeitig in unserem Innern Entwicklungen antizipieren, um zu sehen, ob das Leben als Ganzes tatsächlich von den ergriffenen Maßnahmen profitiert.
Selbstverständlich müssen die gewaltigen co₂-Mengen, die jedes Jahr in die Atmosphäre gelangen, reduziert werden. Das ist jedoch nicht genug. Solange zum Beispiel die konventionelle Landwirtschaft immer noch Millionen Tonnen chemischer Stickstoffdünger oder Pflanzenschutzmittel verwendet, sind Natur und Artenvielfalt bedroht. Es braucht ökologischere Landbewirtschaftungsmethoden. Vorbild können Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sein. Die Welternährungsorganisation (fao) wiederholt seit Jahren, dass Familienbetriebe mit weniger als zwei Hektar Land 80 Prozent der Weltbevölkerung ernähren und gleichzeitig die Biodiversität erhalten und verbessern.
Die industrielle Produktion strebt nach dem Maximum, die natürlichen Prozesse folgen immer dem Optimum. Maximierungsdenken führt beim Menschen zu Stress, in der industrialisierten Landwirtschaft zur Schädlingsproblematik, der Verarmung der Böden, zum Verlust der Artenvielfalt. Leben im ausgewogenen Optimum macht Mensch, Natur und Produktionsbetriebe resilienter.
Wo wird die ‹Gesundheit der Erde› für uns greifbar?
Mein Kollege Matthias Rang hat die Begriffe von Spiegel und Fenster in einem Vortrag gebracht. Das Fenster ist der Ort, wo wir hinaus in die Welt schauen. Der Spiegel ist der Ort, wo das, was ich bin, zurückgespiegelt wird. Er versuchte dieses Wortpaar auf die Klimasituation anzuwenden. Die CO₂-Atmosphäre lässt zwar wie das Fenster die Sonne im sichtbaren Bereich des Spektrums durchscheinen. Aber die Luft ist heute so dicht, dass die Wärme auf die Erde effektiv zurückgespiegelt wird, sich das Fenster zum Kosmos für die Wärme immer weiter schließt. Im Bereich der Wärme ist die Erde mehr und mehr in sich selbst befangen, kann keine Wärme abgeben. Gilt für uns Menschen nicht etwas Ähnliches? Wir können das Licht gut aufnehmen im Wachzustand, aber wir müssen lernen, auch Wärme abzugeben.
Die Bewältigung der Klimakrise ist wie wir Menschen auch auf Beziehung angewiesen! Der Verlust der biologischen Vielfalt lässt Beziehungsnetze irreversibel schrumpfen. Die natürliche Biodiversität, die Vielfalt an Kulturpflanzen und Sorten, vermag besser mit den Herausforderungen wie Klima, Wetter usw. umzugehen. Wir können die Probleme, aber auch die Gesundheit der Erde erfahren, indem wir hinausschauen in die Welt und ihre Schönheit erleben, jenseits von Zahlen und Statistiken. Konkrete persönliche Schritte für eine bessere Welt liegen darin, Leben zu verstehen.
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Titelbild: Alex Gorham von unsplash