Otto Erich Hartleben und Rudolf Steiner in Berlin

Marginalien zu Rudolf Steiners Leben und Werk 32

Die in Weimar begonnene Freundschaft mit Otto Erich Hartleben setzte sich in Berlin fort. Sie half Rudolf Steiner fähig zu werden, die Welt mit seinen Sinnen zu wahrzunehmen.


Als Rudolf Steiner 1897 die Herausgeberschaft des ‹Magazins für Litteratur› übernahm, wurde ihm zur Bedingung gemacht, «dass Otto Erich Hartleben als Mitherausgeber zeichnen und tätig sein solle», da er in den Kreisen, die mit dem Magazin zusammenhingen, einen Namen hatte. Allerdings beschränkte sich Hartlebens Tätigkeit im Wesentlichen auch darauf, seinen Namen zu geben. Er selber gesteht in seinem Tagebuch im Eintrag vom 27. Juli 1897: «Ich sehe noch nicht recht die Stelle, wo ich da Hand anlegen könnte, bin auch wie gewöhnlich faul.»1 Dafür aber übernahm Hartleben mit Freuden die Aufgabe, Rudolf Steiner ab Mitte 1897 in die verschiedenen Kreise der Berliner Bohème einzuführen – unter anderem besuchten sie regelmäßig den von Hartleben gegründeten «Verbrechertisch».2

«Du raubtest einen Sonntag meiner Süßen»

Umgekehrt benutzte Hartleben den damals alleine lebenden Rudolf Steiner als eine Art ‹Postillion d’Amour›. Denn er war 1896 seiner Jugendliebe Ellen Birr wiederbegegnet. Um sich mit ihrem Otto Erich zu verabreden, dem sie Selma Hartlebens wegen nicht nach Hause schreiben konnte, schickte nun «Ellen, mein Kind» Briefe und Telegramme an Rudolf Steiner.

Dabei kam es Anfang April 1898 zu einem Malheur, das auch die Situation in Rudolf Steiners ‹Krisenjahr› verdeutlicht. Hartleben hatte sonntags vergebens auf Nachricht von seiner Geliebten (bzw. auf den Boten) gewartet und schrieb ihr, als diese ausblieb, einen groben Brief. Bald aber klärte sich die Sachlage auf: Als ihr Telegramm bei Rudolf Steiner anlangte, war dieser nicht zu Hause gewesen. Er «hatte seine Schlüssel vergessen, ist mit W [Eduard von Winterstein] noch ins Café gegangen, ist Sonntag betrunken ‹heimgekommen›, hat Dein Telegramm nicht mal liegen sehn (Sonntag Nachmittag 3 Uhr ist er ‹heimgekommen›!).»

Und weil er dann mit den Korrekturen für das ‹Magazin für Litteratur› zu spät dran war, um diese noch abzuschicken, fuhr er selbst «Sonntag nachts nach Weimar […], wo das Magazin am Montag gedruckt wird». «Montag ¾11 Uhr» kehrte er von Weimar zurück – «und hat schließlich am Dienstag Morgen Dein Telegramm vom Sonnabend Nachmittag – entdeckt! Ein Kunststück – wie?» Hartleben war ganz niedergeschlagen, dass seiner Geliebten und ihm «ein Tag des Glückes so verloren gehen musste». Rudolf Steiner entschuldigt sich im Nachsatz des Briefes: «Bitte, seien Sie mir nicht böse, ich will artig sein, und es nicht wieder tun. Ihr Rudolf S[teiner]»3

Am folgenden Tag verfertigte Hartleben ein Gedicht über den saumseligen Freund:

Rudi Steiner
Im Fegefeuer sitzt ein hagrer Greis
und jammert, während ewig frische Flammen
um sein Gebein mit ungebrochnem Fleiß
sich schlängeln: Gütiger Gott, woher entstammen
die Qualen unter meinem Sündensteiß?
Ob welcher Schuld tatst Du mich so verdammen?
Gott sprach: zehn Jahre musst Du also büßen:
Du raubtest einen Sonntag meiner Süßen.4

Vornehmes Epikuräertum

In dieser Zeit besprach Rudolf Steiner einige Stücke des Freundes im ‹Magazin für Litteratur› und 1899 charakterisiert er sehr feinsinnig Hartlebens Lyrik. Unter anderem heißt es da: «Seine ganze Persönlichkeit ist auf eine ästhetisch künstlerische Auffassung der Welt gestimmt.»5

Wohl mit der allmählichen Überwindung seiner Lebenskrise gegen Ende 1898 kamen auch die Freunde allmählich auseinander. Das klingt schon leise an, wenn Rudolf Steiner in der Besprechung von Hartlebens Einakterzyklus ‹Die Befreiten› über ihn schreibt: «Ich kenne keine Tiefen der Weltanschauung, die ihm nicht zugänglich wären. Aber er wird recht eklig, wenn es erst Arbeit kosten soll, um zur Tiefe zu kommen. Der Ernst des Lebens ist ihm bekannt wie nur irgendeinem, aber er hat die Gabe, diesen Ernst so leicht wie möglich zu nehmen. Mir ist nie ein Mensch begegnet, in dem ich ein vornehmes Epikuräertum so verwirklicht gefunden hätte wie in ihm. Er ist ein Genussmensch, aber die Genüsse, die er sucht, müssen auserlesene Eigenschaften haben. Eines Tuns, das nur im Entferntesten an das Gemeine erinnert, ist er nicht fähig. – Alles, was er tut, hat Größe. Und seine Größe gibt sich nie den Anschein der Wichtigkeit. Am liebsten macht er einen passenden Scherz, wenn die andern anfangen, pathetisch zu werden und ihren Reden Bleikügelchen anhängen, damit sie schwer genommen werden.» (GA 29, S. 303 f.)

Im Herbst 1899 teilte Otto Erich Hartleben Rudolf Steiner mit, dass er nun definitiv von der Herausgabe des ‹Magazins für Litteratur› zurücktreten möchte: «Ich bitte dich zur Vereinbarung der Formulierung meines ‹Rücktritts› zu mir zu kommen. Otto Erich»6

Somit entspricht nicht der Wahrheit, was Hartleben später kolportierte – und sogar an Elisabeth Förster-Nietzsche melden ließ –, er sei wegen Rudolf Steiners Artikel «Das Nietzsche-Archiv und seine Anklagen gegen den bisherigen Herausgeber» zurückgetreten.7

Die schon in der vorigen Marginalie erwähnte Widmung in der zweiten Auflage des ‹Goethe-Breviers› 1901 ist vielleicht in diesem Zusammenhang auch als versöhnende Geste von Hartleben zu sehen.

Nach dem großen Erfolg seiner Komödie ‹Rosenmontag› konnte sich Hartleben eine Villa am Gardasee kaufen, wo er fortan mit Ellen Birr lebte und 1904 eine «Halkyonische Akademie für unangewandte Wissenschaften zu Salò» gründete, zu deren Mitgliedern eine Reihe seiner alten Freunde zählten. Doch er starb, erst 40-jährig, nach einem Blutsturz am 11. Februar 1905 – wohl auch eine Folge seines zeitlebens übermäßigen Alkoholkonsums.

Was sich nach seinem Tod abspielte, entsprach seiner Liebe zu Ironie und Satire. Die Totenwache fand in seinem Weinkeller statt. Im Laufe der langen Nacht fiel den Wächtern ein, dass man sich doch an dem reichen Vorrat gütlich tun sollte, da es der Tote nicht mehr könne. So stolperten am nächsten Tag die betrunkenen Wächter mit dem Sarg, der ihnen mehrmals aus den Händen gleiten wollte, zum Boot, das den Leichnam über den Gardasee bringen sollte.

Hartleben hatte verfügt, dass sein Kopf in Deutschland, sein Leib in Italien bestattet werden sollte. Das erlegte einem ihm befreundeten Münchner Arzt die unschöne Pflicht auf, die Trennung von Kopf und Rumpf vorzunehmen.

Mit dem Haupt unterm Arm kehrte der Arzt in eine Osteria ein, wie er später Max Halbe erzählte. Er «legte das Zeitungspaket neben sich auf den Tisch und bestellte einen Fiasco vom feurigen Roten. Schnell war eine lebhafte Diskussion im Gange mit anderen Gästen vom Tisch, die Gemüter erhitzten sich, markige Italienerfäuste dröhnten auf die Holzplatte, das geheimnisvolle Paket hüpfte ein paarmal hin und her, sprang mit einem Satz unter die Bank. Hilfsbereit machten die Gäste der Osteria sich ans Suchen, und siehe da! das Einschlagpapier hatte sich gelöst, und Otto Erichs Kopf starrte die fröhliche Zecherrunde mit einem letzten verständnisvoll-satirischen Lächeln an. So glaubte wenigstens Dr. Lehmann […] den Ausdruck des dahingeschiedenen Freundes deuten zu sollen. Vielleicht hat er recht gehabt.»8

Abgrunderfahrung

Rudolf Steiner ist Otto Erich Hartleben in einer Zeit seines Lebens begegnet, als er erkannte, dass ihm etwas mangelte, nämlich dass er sich nicht leicht mit der physischen Welt verbinden konnte.9 Er begann, gerade in seiner letzten Weimarer Zeit, sich dem bewusst zuzuwenden, was die Sinneswelt zu sagen hatte – ohne immer zugleich auf die geistigen Hintergründe zu blicken. In Hinsicht auf einen bestimmten Aspekt konnte er dafür keinen besseren Führer finden als Otto Erich Hartleben, der so entschieden der sinnlichen Seite des Lebens zugetan war. In der letzten Weimarer und in der ersten Berliner Zeit ließ sich Rudolf Steiner für eine Weile ganz darauf ein, bis er eingetaucht war in diese Welt, sie gründlich kennengelernt hatte. Das wurde ihm zur Prüfung, zu einer Abgrunderfahrung, in deren Überwindung er sich den eigentlichen Lebensauftrag Schritt für Schritt in den Jahren um die Jahrhundertwende erringen musste.

Trotzdem blieb er in dieser Zeit – auch wenn sie wohl eine Zeit lang in den Hintergrund traten – seinen geistigen Anliegen verbunden. Er kommentiert im Rückblick in einem Brief an Anna Steiner vom 14. Februar 1905 die Seite, die er durch Otto Erich Hartleben im Besonderen kennenlernen konnte, so: «Ich habe mich nie für etwas anderes interessiert, als was geistiger Art ist. Und wenn es in der Zeit, da ich zuerst in Berlin war, anders schien, so ist das doch auch ein Irrtum. Ich wollte damals die Litteratur der jungen Leute ehrlich kennen lernen. Ich hätte deshalb mich allerdings nicht auf den Dreck dieser jungen Leute einlassen sollen. Aber das war ein ehrlicher Irrtum. Und ich habe es mit recht dreckigem Klatsch büßen müssen.»10

Bild Porträt von Otto Erich Hartleben, datiert 1901

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Footnotes

  1. Otto Erich Hartleben, Tagebuch. Fragment eines Lebens. München 1906, S. 264 f.
  2. Rudolf Steiner blickt darauf zurück im Vortrag vom 27. Okt. 1918: «Durch meine Freundschaft mit Otto Erich Hartleben kam ich dann eigentlich mit allen oder wenigstens mit einer großen Zahl der jung aufstrebenden Literaten, die zum großen Teil jetzt schon wieder abgewirtschaftet haben, gerade in der damaligen Zeit zusammen. Ob ich nun in diese Gesellschaft hineinpasste oder nicht, das habe ich nicht zu entscheiden. Eines der Mitglieder dieser Gesellschaft hat jüngst einen Artikel […] geschrieben, worin er mit einer gewissen Pedanterie zu beweisen versucht, dass ich allerdings in diese Gesellschaft nicht hineingepasst hätte und mich ausgenommen hätte wie ein ‹freischweifender unbesoldeter Gottesgelehrter› […].» (In: Geschichtliche Symptomatologie, GA 185, 3. Aufl. Dornach 1982, S. 138).
  3. Briefe von Otto Erich Hartleben an seine Freundin 1897–1905. Hrsg. u. eingeleitet von Fred B. Hardt. Dresden 1910, S. 41.
  4. Ebenda, S. 42.
  5. Biographien und biographische Skizzen 1894–1905, GA 33, 2. Aufl. Dornach 1992, S. 142 f.
  6. Postkarte vom 1. November 1899, RSA.
  7. An Hans von Müller, 15. Februar 1900: «Der Förster-Nietzsche Klatsch vom Steiner ist ganz inferior – ich habe meinen definitiven Rücktritt von der Herausgabe erklärt. Wenn Sie nach Weimar schreiben, erwähnen Sie das bitte.» Brief im Nachlass des Empfängers, Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Sign. EH 6867.
  8. Max Halbe, Jahrhundertwende. Zur Geschichte meines Lebens 1893–1914. Salzburg 1945, S. 311 f.
  9. «Das Erfahren von dem, was in der geistigen Welt erlebt werden kann, war mir immer eine Selbstverständlichkeit; das wahrnehmende Erfassen der Sinneswelt bot mir die größten Schwierigkeiten. Es war, als ob ich das seelische Erleben nicht so weit in die Sinnesorgane hätte ergießen können, um, was diese erlebten, auch vollinhaltlich mit der Seele zu verbinden.» (Mein Lebensgang, GA 28, 9. Aufl. Dornach 2000, S. 316).
  10. Der Brief wird erscheinen in ‹Sämtliche Briefe› 3, GA 38/3, Basel 2024.

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