In der Diskussion um die Organspende spielt die Frage um den Hirntod eine zentrale Rolle. Ein neues Buch des Arztes Paolo Bavastro untersucht geschichtlich und phänomenologisch diese Grenzfrage des Lebens.
Die jüngst in Deutschland zugespitzten Einwände gegen jegliche Werbung für Schwangerschaftsabbruch stehen in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu der allgegenwärtigen lauten Werbung für Organtransplantation, aktuell auch für die von interessierter Seite wieder ins Spiel gebrachte sogenannte ‹Widerspruchslösung›. Unabhängig davon, wie man zu den beiden medizinischen Praktiken steht, muss man sich über diesen inneren Widerspruch wundern, wundern aber auch darüber, wie ahnungslos die Mehrzahl der Bevölkerung in Bezug auf die Fragwürdigkeit des Transplantationswesens nach wie vor ist. Immer wieder trifft man durchaus kritisch denkende Zeitgenossen, die es für ausgeschlossen halten, dass es bei den Transplantationen nicht mit rechten Dingen zugehe. Sie glauben, dass das – nur noch als unverbindliche Reminiszenz existierende – hippokratische Ethos so etwas a priori ausschließe. Zugleich kann es vorkommen, dass Bestatter von Angehörigen Verstorbener gefragt werden, ob ihren längst eingesargten Lieben nicht doch noch nützliche Organe entnommen werden könnten …
Neben der Medizin- und Kulturhistorikerin Anna Bergmann und dem Neurologen Andreas Zieger gehört der Stuttgarter Kardiologe und Internist Paolo Bavastro seit Langem zu den wachsamsten und kritischsten Beobachtern des Transplantationsgewerbes. Aus seiner Feder liegt nun ein zusammenfassendes Buch zum Thema vor, das ‹enzyklopädisch› genannt werden darf. Im Zentrum auch von Bavastros Forschungen stand und steht die Einsicht, dass die als legale Voraussetzung der Organentnahme geltende irreversible Hirnschädigung keineswegs als ‹Tod des Menschen› gelten kann, auch nicht als eine besondere Todesart, die Organentnahme also einer Tötung gleichkommt. Bavastro behandelt nahezu alle mit dem Thema verbundenen Sach- und Problemfelder: die diagnostischen Verfahren und rechtlichen Grundlagen, die Situation der beteiligten Menschen (Pflegende, Ärzte, Angehörige), die Position der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Offen spricht das Buch unter anderem über die dunklen Seiten des Transplantationswesens: Organhandel, Organraub, Verfilzung und Intransparenz des Zusammenspiels der beteiligten Institutionen oder über die jüngsten Skandale in Deutschland. Verdienstvoll ist Paolo Bavastros Herangehensweise in den Punkten, in denen die spirituelle Dimension ins Spiel kommt. Das gilt für das Kapitel über Wesensveränderungen bei den Organempfängern und dasjenige über geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte. Hier bewahrt der Autor eine fragende und auf Forschungsaufgaben hinweisende Haltung, was angesichts mancher unkritischer Spekulationen auf diesem Felde durchaus angebracht ist.
Die Vielseitigkeit, Vollständigkeit und Gründlichkeit von Bavastros bei aller Wissenschaftlichkeit gut lesbaren Untersuchung muss kein Hindernis für Leser sein, die sich vielleicht aus einer plötzlichen Notlage heraus ein Urteil über das Problem der Transplantation bilden wollen. Es ist gut möglich, die Lektüre auf jeweils einschlägige Kapitel zu beschränken. Wer sich dennoch scheut, zu einem über 600 Seiten starken Buch zu greifen, der sei auf die von Paolo Bavastro zusammen mit dem Verfasser dieser Rezension herausgegebene Orientierungshilfe hingewiesen.(1)
Paolo Bavastro: Organ-Transplantation – Zukunftweisend oder Irrweg des Zeitgeistes? Stuttgart 2018.
(1) Paolo Bavastro u. Günter Kollert: Organtransfer. Ethische und spirituelle Fragen zu Organtransplantation und Hirntod, Dornach 2014
Auf dem Bild: Paolo Bavastro