One Health

Die Zukunft anthroposophischer Arzneimittel geht alle an.


Das bekannteste anthroposophische Arzneimittel ist die Mistel. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Forschung zur Mistel und die klinische Anwendung von Mistelpräparaten weiterentwickelt. Heute haben anthroposophische Mistelpräparate einen ‹höheren Schulabschluss› in Form wissenschaftlicher Studien. Es lässt sich zeigen, dass Mistelpräparate, auch direkt in den Tumor gespritzt, Tumorerkrankungen unmittelbar bekämpfen, dass sie die Selbstregulation des Organismus anregen, Nebenwirkungen konventioneller Therapien verringern, die Lebensqualität verbessern und einen positiven Einfluss auf die Lebenszeit der Patienten und Patientinnen haben können.

Mistelpräparate finden Eingang in offizielle Leitlinien, nach denen sich vor allem die jüngere Ärztegeneration richtet. Schweden investiert mehrere Millionen Euro, um an Bauchspeicheldrüsenkrebs Erkrankten eine erfolgreiche Studie aus Serbien zu wiederholen. Diese hatte gezeigt, dass Patienten und Patientinnen unter Misteltherapie länger leben und es ihnen dabei deutlich besser geht.1 Die Misteltherapie findet weltweit Interesse. In Südkorea wenden Klinikärzte Mistelpräparate an, ergänzend zur Schulmedizin und zur traditionellen asiatischen Medizin. Es gibt auch andere Heilpflanzen wie das Bryophyllum, die ‹Goethe-Pflanze›, über die Studien vorliegen und wir heute wissen, wie entscheidend damit eine stressbedingte Frühgeburt ohne Nebenwirkungen abgefangen werden kann.2

Ohne Forschung gefährdet

Am Beispiel der Mistel wird deutlich, wie aufwendig es heute ist, breite medizinische Kreise von der Wirksamkeit eines Arzneimittels zu überzeugen. Schon Rudolf Steiner forderte die ‹Verifikation› der Wirksamkeit anthroposophischer Präparate.3 Tatsache ist, dass wir für die meisten anthroposophischen Arzneimittel nur einen ‹einfachen Schulabschluss›, die Zulassung oder Registrierung, haben, aber keine Wirksamkeitsnachweise im Einzelnen. Hier wurde lange Zeit kein Geld investiert. Es kann jedoch nur der am Markt bestehen, der sein Präparat weiterentwickelt, sei es in der Herstellungsweise, im Wirksamkeitsnachweis oder im Wissen um seine erfolgreiche Anwendung. Eine solche Entwicklung ist notwendig, damit diese Arzneimittel neue Freunde, neue Anwenderinnen finden. Einen Baustein dazu bildet das ‹Vademecum Anthroposophische Arzneimittel›, das seit 2005 die Erfahrung heute tätiger Ärztinnen und Ärzte auswertet und in fünf Sprachen erschienen ist.4

Wir haben einen enormen Forschungsbedarf zu anthroposophischen Arzneimitteln, und ohne solche Forschung ist die Existenz anthroposophischer Arzneimittel, ihr Zulassungsstatus bedroht. Diese Forschung ist sehr aufwendig. Und sie steht vor der Herausforderung, dass diese Arzneimittel noch andere Wirkprinzipien haben, als Krankheit zu bekämpfen. Es sind Arzneimittel, die

• Lebensprozesse im Organismus verstärken, wie das Hepatodoron von Weleda in Bezug auf die Leber oder Lien comp. von Wala in Bezug auf die Milz und das Immunsystem;

• ein zu starkes, zerstörerisches oder mangelndes Eingreifen des Seelischen im Leiblichen harmonisieren können, wie Bryophyllum bei vorzeitigen Wehen oder Kupferpräparate bei Asthma oder kolikartigen Schmerzen;

• die Wärmebildung, die Präsenz des geistigen Menschen im Leibe stärken – was für die Mistel und für Präparate mit potenziertem Gold oder Eisen gilt.5

Mit einem Wort: Diese Arzneimittel stärken die Selbstregulation auf lebendiger seelischer und geistiger Ebene. Da besteht heute großer Bedarf. Das zeigt die COVID-Erkrankung, wo es therapeutisch darauf ankommt, den ganzen Menschen und nicht nur Lokalbefunde zu berücksichtigen. So gelang es einer anthroposophischen Ärztin in Rio de Janeiro, 600 COVID-Patientinnen und -Patienten ohne einen Todesfall zu behandeln, weil sie konsequent anthroposophische Arzneimittel angewendet hat. Die Klinik Arlesheim ist ein Versorgungskrankenhaus des Kantons und wertet jetzt die Daten von 120 COVID-Patienten wissenschaftlich aus, die ihr zur stationären Behandlung zugewiesen wurden. Auch hier ist es spannend zu sehen, inwiefern eine Medizin, die auf ganzheitlichen Wirkprinzipien aufbaut, ihre Wirksamkeit nach heutigen wissenschaftlichen Methoden zeigen kann.

Georg Soldner, gezeichnet von Sofia Lismont

Die häufigsten Todesursachen heute

Heute sterben in hochentwickelten Ländern 71 Prozent der Menschen an Erkrankungen, die mit dem Lebensstil und einer tiefgreifenden Störung der Selbstregulation im Organismus zusammenhängen, vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Zuckerkrankheit und Krebserkrankungen. Hinzu kommen Schmerzerkrankungen gerade auch der Wirbelsäule. Um solchen Erkrankungen vorzubeugen, geht es darum, die Gewohnheiten zu ändern, nicht medikamentöse Therapien wie aufklärende Gespräche und Schulungen in der Gruppe, mit Heileurythmie, Meditation, Umstellung der Ernährung und Bewegung anzuregen. Sie erfordern auch regulativ wirksame Arzneimittel wie die anthroposophischen Arzneimittel, die helfen, die bei chronischer Erkrankung verlorenen Lebenskräfte zu beleben. So fördern diese Präparate die Schlafdauer und -qualität sowie die Konzentrationsfähigkeit und senken die Anfälligkeit für Krebserkrankungen. Auch bei akuten Infektionen, wie Blasen- oder Nasennebenhöhlenentzündungen, steht die Schulmedizin am Anschlag, weil ihre Antibiotika durch inflationären Gebrauch unwirksam zu werden drohen. Anthroposophische Arzneimittel bieten hier Alternativen.6 Schmerzmittelrückstände, ‹pain killer›, vergiften Tiere und Grundwasser; für Hormonpräparate gilt Ähnliches. Die Pharmazie trägt mit ihren chemisch synthetisierten Arzneimitteln erheblich an der Umweltvergiftung bei. Wir haben einen 100-jährigen Krieg gegen Krankheit hinter uns, aber einen ungenügenden Aufbau von nachhaltiger Gesundheit, wie sich bei Schulkindern zeigt, deren psychische Probleme sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren verdoppelt und unter COVID weiter gesteigert haben. Gleichzeitig haben wir ein Jahrhundert der Pestizide, der Insektizide und der antibiotikaabhängigen Massentierhaltung hinter uns, mit der wir unsägliches Tierleid und Pandemien erzeugt haben und die Wirksamkeit vieler Antibiotika verlieren, weil die Mikroorganismen in Menschen und Tieren resistent werden.

Gesundheit verstehen und fördern

Gesundheit ist die Fähigkeit eines Wesens, sich zu entfalten, teilzuhaben an der Gemeinschaft und sich selbst in seinem Leben zu lenken.7 Blicken wir auf die Plastik des Menschheitsrepräsentanten, so tritt uns in ihm die Gesundheit, in Luzifer und Ahriman die Krankheit entgegen. Wir begreifen, dass wir nie einfach gesund und niemals nur krank sind, dass letztlich Gesundheit etwas kategorial anderes als die Krankheit ist.

Gesundheit gibt es nicht privat: Die Gesundheit des anderen ist mit der eigenen Gesundheit verbunden, wie wir in der Pandemie gelernt haben. Das gilt jedoch für alle Lebewesen, Mensch, Tier, Pflanzen und Bodenorganismen! Gesundheit ist etwas Persönliches und gleichzeitig hat sie eine öffentliche und planetarische Dimension. ‹One Health›, ‹eine Gesundheit›, bedeutet zu fragen, was es für eine gesunde Entwicklung und Selbstregulation braucht. Gesundheit zu fördern, braucht anderes und auch noch andere Arzneimittel, als nur Krankheit zu bekämpfen oder zu unterdrücken.

Gleichzeitig bedeutet ‹One Health›, vorrangig Arzneimittel zu verwenden, die selbst im Einklang mit den Kreisläufen der Natur stehen, aus ihnen stammen und in sie zurückkehren, wenn sie wieder ausgeschieden oder entsorgt werden. Es bedeutet, konsequent zu forschen und die Arzneimittel, die hier bedeutsam sind, zu optimieren aus einer geistig inspirierten Forschung, in der die Freie Hochschule ihren Platz hat. An sich müsste heute die Anthroposophische Gesellschaft unsere Arzneimittelhersteller und Forschungsinstitute in diesen Forschungsanstrengungen unterstützen und gesellschaftlich auf die Förderung solcher Forschung hinwirken. Wir brauchen ein Bewusstsein und Selbstbewusstsein, dass wir als anthroposophische Bewegung eine Mission haben auf dem Feld der Medizin, die mit der Mission biologisch-dynamischer Landwirtschaft und der Waldorfpädagogik verbunden ist:

• Leben zu fördern in seiner Schönheit, die sich aus der Verbindung irdischer und kosmischer Kräfte speist;

• das rhythmische Zusammenwirken seelischer und vitaler Kräfte im Menschen wie in der Pflege von Tier- und Pflanzenwelt zu fördern, auch durch Arzneimittel, die im Einklang mit den Kreisläufen der Natur stehen;

• die geistige Präsenz des Menschen in seiner biografischen Entwicklung, in der Lenkung des Seelischen, in ihrer leiblichen Präsenz und Wärmeregulation und Initiativkraft zu stärken, denn diese ist heute der Weichensteller für nachhaltige Gesundheit.

Sicher, Weleda und Wala werden einen Teil ihrer Sortimente 2022 streichen. Sie machen in Ländern wie Frankreich und Italien schmerzhafteste Verluste. Wir stehen in einer schwierigen Situation, in der Ärzte und Hersteller miteinander sprechen, wie wir diese Krise bewältigen. Aber nachhaltig werden wir sie dann überwinden, wenn wir als forschungswillige Gemeinschaft uns unserer Mission bewusst werden und entsprechend handeln: ‹One Health›, ‹eine Gesundheit›, bedeutet eine Epochenwende in der Medizin, in der Landwirtschaft, und für diese Wende gilt es, selbstbewusst in der Öffentlichkeit einzustehen und solidarisch Bemühungen der Arzneimittelherstellung und Arzneimittelforschung zu unterstützen.


Gekürzter Text der Ansprache von Georg Soldner an der Jahresversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft April 2022 zum hundertjährigen Bestehen anthroposophischer Pharmazie.

Bild One Health; Foto: Mika Baumeister

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. W. Tröger et al. (2014), Quality of life of patients with advanced pancreatic cancer during treatment with mistletoe. Dtsch Arztebl Int. 2014 Jul 21; 111 (29–30): S. 493–502, 33 p. following 502. doi: 10.3238/arztebl.2014.0493.
  2. O. Potterat und A. P. Simões-Wüst (2020), Bryophyllum pinnatum. Phytotherapie.at, 14(4): S. 15–17.
  3. R. Steiner, Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin. GA Bd. 319, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 1994, S. 52 f.
  4. H. J. Hamre et al., Systematik ärztlicher Anwendungserfahrungen mit Arzneimitteln aus ganzheitlichen Therapiesystemen: Eine deskriptive Analyse des Vademecum Anthroposophische Arzneimittel. Der Merkurstab 2021; 74(3): S. 261–272. Artikel-ID: DMS-21362-DE.
  5. Siehe M. Girke, Innere Medizin. Berlin, 3. Aufl., S. 127–136.
  6. Siehe www.anthromedics.org/Praxis/Infektionskrankheiten.
  7. M. Huber, How should we define health? BMJ 2011;343:d4163.

Letzte Kommentare