Ohnmächtig sein – Das Okular der Gegenwart

Wie eine Welle zieht eine tiefe Ohnmacht durch die Welt. Es heißt, das Unvorstellbare hat sich ereignet. Wir sind fassungslos. Was bedeutet es, ein Mensch der Zeit zu sein und sich dem Geschehen nicht teleskopisch, sondern im lebendigen Zusammenhang zuzuwenden?


Auf ihrer Titelseite fragte ‹Die Zeit› (2. März 2022, N. 10): ‹Wie können wir helfen?› Nur Zuschauen erscheint unerträglich. Aber wie helfen? Helfen Waffenlieferungen? Helfen Sanktionen? Was bedeutet ‹helfen›? Selbstverständlich soll Hilfe geleistet werden – eine eindrucksvolle Solidarität hat sich manifestiert –, die Lage verhärtet sich aber weiter in sich selbst. Immer weniger tun sich noch Öffnungen auf, durch die eine andere Wendung genommen werden könnte. Analysen und Kommentare wirbeln durcheinander. Man klammert sich fest an Deutungen, bis man wieder von der Komplexität des Ganzen überwältigt wird. Unmittelbar unter ‹Wie können wir helfen?› hieß es beim ersten Leitartikel der ‹Zeit›: ‹Wie können wir uns wehren?›

An dieser Stelle fängt die Erfahrung der Ohnmacht an. So tief sie kann, bohrt sie sich in die Seele hinein. Bereits dadurch wird sie zu einer der tiefgreifendsten Erfahrungen, an denen ein Mensch teilhaben kann. Nur die Erfahrung der Liebe hat eine ähnliche Signatur. Sie sind wie eine totale Besetzung, die keinen Ausweg offen lässt. Angst und Hoffnungslosigkeit gewinnen in der Ohnmacht die Oberhand. Man fühlt sich innerlich gelähmt. Aus der Ohnmacht kann man sich nicht zurückziehen, denn ein Zurück gibt es nicht mehr. Und zu gleicher Zeit sieht es so aus, als ob es auch kein Vorwärts mehr gebe. Was trägt, wenn nichts mehr trägt? Wer trägt mich?

Die Bewusstseinsseele als Okular

Christiaan Huygens (14. April 1629–8. Juli 1695) war einer der größten Wissenschaftler der Neuzeit. Er lebte in einer aufregenden, politisch äußerst unruhigen Epoche des Umbruchs, wo – so wie er schrieb – «Menschen verliebt waren in ihre Ideen» und das «Eigentumsrecht» für eine Idee geltend machen wollten. Nicht der Inhalt einer Idee, sondern wer sie gedacht hatte, gewann immer mehr an Wichtigkeit. Zeit und Raum wurden vermessen, Landkarten immer genauer, Grenzen über Land und Meer gezogen. Himmel und Erde wurden eingeteilt.

Mathematiker und Erfinder in einem, entdeckte Huygens u. a. die Ringe des Saturns und seines Mondes Titan. Diese Entdeckung verdankte er seinem Okular, einem aus zwei Linsen gebauten System zur Vergrößerung in Teleskopen und Mikroskopen. Er konnte sich dadurch dasjenige, dem er sich nicht selbst annähern konnte, heranziehen, und zwar so, dass er es aus der Ganzheit, aus dem Zusammenhang aussonderte. Sein Okular richtete sich im Grunde auf das Auge, nicht auf den Sternenhimmel; es riss dasjenige aus dem Zusammenhang, das vom Betrachter begehrt wurde. Das Okular wird zum Auge (oculus). Huygens hatte im Okular das Bild des Saturn näher vor sich als je zuvor, verlor aber in dem Moment des Schauens die menschliche Perspektive, sowohl die Gesamtheit des Sternenhimmels als auch die Verbindung mit den Mitmenschen. Was er sah, sah er allein. Und die wissenschaftliche Schlussfolgerung, die er daraus ableiten konnte, eignete er sich zu. Sie wurde zum ‹Eigenen›, wurde von ihm signiert und bekam seinen Namen, das Huygens’sche Okular, so wie es auch für seine Zeitgenossen üblich war.

Eine der Charakteristiken des heutigen Bewusstseins ist das anfängliche Unvermögen, sich in die Lage des ‹anderen› zu versetzen. Nicht nur der andere als Mitmensch, sondern ebenso alles, was wir ‹Welt› und ‹Natur› nennen, das andere bis zu demjenigen, was in jedem von uns die Andersartigkeit vergegenwärtigt. Diese Lage des anderen und der Andersartigkeit kann zwar beobachtet und wahrgenommen, sogar in allen Einzelheiten gedeutet werden, aber wir bleiben ‹draußen vor der Tür›. Es ist das Unvermögen eine Situation von innen, das heißt in ihrem Zusammenhang zu erfahren. Auch wenn wir uns jede Tatsache einsichtig machen können sind wir noch nicht ‹darin›. Jede Lage entsteht aus einer Konfiguration von sich ständig aneinanderreihenden Ereignissen, Fakten, die sich schon vollzogen haben. Demzufolge haben Ereignisse, trotz ihrer Verschiedenheit, miteinander gemein, dass sie sich schon ereignet haben. Sie sind aus der Vergangenheit. Ihre einstammige, lebendige Bezogenheit aufeinander ist nicht länger wirksam.

Illustration Adrien Jutard

Die bürgerliche Gesellschaft hat sich im Theater und in Opern gerne eines Fernglases bedient, um sich den einen Schauspieler oder die andere Sängerin in die Nähe zu rücken und einen Moment für sich allein zu haben. Das kann als ein charmanter Charakterzug einer bestimmten Epoche gelten, aber genauer betrachtet ist es auch ein klares Beispiel dafür, wie sich unser Bewusstsein in Bezug auf die Außenwelt verlagert hat. Sehr oft erleben wir Ereignisse, so wie sie uns auf den Bildschirmen wie auf einer Bühne vorgeführt werden, ohne dass wir die Möglichkeit haben, unmittelbar einzugreifen. Je nachdem verändern wir unser Denken, Fühlen und Wollen so, dass wir dasjenige, was sich ereignet, in die Nähe oder in die Ferne rücken, ein- und auszoomen, einen uns beliebigen Vordergrund einschalten, anderes zum Hintergrund bestimmen. Erst in den Krisenzeiten, so, wie wir sie jetzt erleben, wird uns das offensichtlich. Beispiel: Berichterstattung. Da ist es offenbar. Jede Tatsache, im Moment, wo sie ‹einbricht›, wird zu einem aus dem Zusammenhang losgelösten, abgesonderten und vergrößerten Bild. Es entsteht durch ein Bewusstseinsokular. Weil es aus dem Zusammenhang herausfällt, können wir es vergrößern. Und umgekehrt: Weil wir es vergrößern, verliert es den lebendigen Bezug zur Ganzheit. Wir werden dadurch Zuschauende unserer Zeit. Wir sind außerhalb des Zeitgeschehens, nicht innerhalb. Es ist ein Schritt in der heutigen Bewusstseinsentwicklung. Aber sind wir zum Zuschauen verurteilt?

Weil die oft so ersehnte Nähe zum anderen sich nicht als selbstverständlich, als evident Gegebenes erweist, versuchen wir den anderen herbeizuholen. Und genauso wie durch ein Okular sondern wir ein einzelnes Element aus der Gesamtheit heraus, sodass es sich über sich selbst hinaus vergrößert. Solche Vergrößerungen findet man massenhaft in den sozialen Netzwerken, von TikTok bis Instagram. Auch wenn sie real sind, bleibt ihre Lösung aus dem Zusammenhang heraus. Sehr oft auch aus einem lebendigen Zusammenhang. Die Unterscheidung von wahr oder falsch, real or fake – wie wichtig sie auch sei – ist nicht die einzige! Es gibt auch den noch viel schwierigeren Unterschied zwischen außerhalb und innerhalb eines Zusammenhangs. Und weil eine augenblickliche Über-sich-hinaus-Vergrößerung unserem Bedürfnis nach unmittelbarer Beruhigung und Kontrolle entspricht, schrecken wir vor einem Blick auf den Zusammenhang zurück.

Die erste Liebe

Jeder Mensch kommt auf die Welt mit einer vom Ich getragenen Potenz: der Fähigkeit der ersten Liebe. Diese erste Liebe ist reiner Anfang, das heißt, sie hat noch kein Objekt, keine Bestimmung. Sie hat auch keine Ursache. Sie ist ursprünglich: Ursprung ihres Wesens und seiner Verwirklichung. Die erste Liebe zeigt sich in der Aufmerksamkeit als Intention, die sich dann als Fähigkeit weiter ausbildet. Im ganz kleinen Kind zeigt sie sich in dessen bedingungslosem Öffnen gegenüber allem, was ihm entgegenkommt. Schon dadurch unterscheidet sich die erste Liebe von allen weiteren Ausübungen dieses Vermögens. Was aber nicht bedeutet, dass es nur einmal stattfinden kann. Denn Anfang als ein reines In-Bewegung-Setzen der Potenzialität, die erst während des Bewegens ihre Bestimmung finden kann und wird, ist jedes mal Anfang und neu. Es hängt davon ab, wie Aufmerksamkeit ausgeübt wird. Sie ist die Kraft der Hingabe, die sich ausübt, ohne ein Vorauswissen oder Vorausbestimmen dessen, was dieser Hingabe entgegenkommen wird.

Keine hat diese Potenz der reinen Aufmerksamkeit so einsichtsvoll dargestellt und gelebt wie Simone Weil. Im Zeichen ihrer absoluten Mitmenschlichkeit hat sie nie aufgegeben, der Ursprungsquelle jeder menschlichen Schöpferkraft auch in sich selbst auf die Spur zu kommen.

In ‹Schwerkraft und Gnade› schreibt sie: «Das schöpferische Vermögen im Menschen entspringt der höchsten Aufmerksamkeit, und diese höchste Aufmerksamkeit wird immer eine religiöse sein. Die Menge schöpferischer Genialität eines Zeitalters ist auf das Strengste der Menge der höchsten Aufmerksamkeit proportional, das heißt also der Menge authentischer Religion in einem Zeitalter.» Und auch: «Die von jeder Beimischung ganz und gar gereinigte Aufmerksamkeit ist Gebet.»1

In einer kleinen Schrift: ‹Was heißt: Zeitgenosse?› schrieb der italienische Philosoph Giorgio Agamben Folgendes: «Zeitgenosse ist derjenige, der sich nicht blenden lässt von den Lichtern seiner Zeit, aber imstande ist, in diesen den Anteil des Schattenhaften zu erfassen. […] Derjenige, der die Finsternis seiner Zeit betrachtet wie eine Angelegenheit, die mit ihm zu tun hat. Als etwas, was weit mehr noch als jedes Licht sich ihm zuwendet und ihn im Besonderen angeht. Zeitgenosse ist er, der sein Antlitz ganz dem Bündel des Finsteren, das aus seiner Zeit hervorgeht, darbietet.»2

Illustration Adrien Jutard

In dieser Schrift, die während eines Studienjahres an der Universität Venedig entstanden ist, ruft Agamben dazu auf, der Finsternis von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, sein Antlitz ganz dem Finsteren zuzuwenden, damit das Licht, das in die Finsternis zerstreut worden ist und ringt, nicht aufgegeben werde. Schon dadurch, dass man sich ganz der Finsternis zuwendet, bekommt das Licht die Chance eines Neuanfangs, das heißt: sich wieder zu sammeln und sich an seinem Ursprungsort neu – als wäre es das erste Mal – zu erschaffen.

Was von Agamben dargestellt wird, ist ein radikaler Blickwechsel, den man auf eine ganz andere Weise noch bei Rudolf Steiner als Blickwandel vom Fakt zum Symptom, vom Gewordenen zum Werdenden, finden kann:

«Wir wissen aus früheren Vorträgen, die ich über ähnliche Themata gehalten habe, dass ich vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus das, was man gewöhnlich Geschichte nennt, verwandelt sehen muss in eine Symptomatologie. Das heißt von dem Gesichtspunkte, den ich hier meine: Dasjenige, was man gewöhnlich empfängt als Geschichte, was verzeichnet wird in dem, was man schulmäßig Geschichte nennt, das sollte man nicht ansehen als das wirklich Bedeutungsvolle im Entwickelungsgange der Menschheit, sondern man sollte das nur ansehen als Symptome, die gewissermaßen an der Oberfläche ablaufen und durch die man durchblicken muss in weitere Tiefen des Geschehens, wodurch sich dann enthüllt, was eigentlich die Wirklichkeit ist im Werden der Menschheit.

Während gewöhnlich die Geschichte die sogenannten historischen Ereignisse in ihrer Absolutheit betrachtet, soll hier das, was man historische Ereignisse nennt, nur als etwas angesehen werden, was gewissermaßen ein tiefer darunterliegendes, wahres Wirkliche erst verrät, und, wenn man es richtig betrachtet, offenbart.»3

Dasjenige, was hier von Rudolf Steiner die historischen Ereignisse genannt wird – jenes Ereignis als ein aus dem Zusammenhang Herausgefallenes –, soll sich verwandeln in einer Blickrichtung, in der sich die Wirklichkeit im Werden der Menschheit enthüllen kann. Es geht um die Umkehrung der Blickrichtung. In diesem Sinne ist jeder Blick auf das Werden gleich einem Neuanfang. Das Werdende kann seinem Wesen nach nicht herausvergrößert werden. Jede Vergrößerung würde das Werdende entstellen, ja, zum Stillstand bringen. Mit dem Blick auf das Werdende kann man sich nicht absondern und von ihm trennen.

Die zweite Liebe

Die Möglichkeit des Sich-Absonderns in sich selbst zu entdecken, stellt den ersten Schritt auf dem Weg vom Zuschauen zur Zeitgenossenschaft dar. Die erste Liebe, mit der ich auf die Welt gekommen bin, eröffnet für mich die Möglichkeit, dieses ganz zu erkennen. Es ist eine Erkenntnis des Bösen, denn das Wesen des Bösen heißt Absonderung. Absonderung aus einem lebendigen Zusammenhang. Das Böse, insoweit es sich als Tatsache und Ereignis ausgewirkt hat, ist noch immer da. An diesem wache ich auf. Ich nehme es nach wie vor wahr. Was sich aber jetzt in mir auftut, ist, dass ich in mir als Vermögen die Möglichkeit zu jeder Form von Bösem trage. An diesem Punkt redet Rudolf Steiner von ‹Neigung› und von ‹Einweihung in das Mysterium des Bösen›.

Es gibt kein Verbrechen in der Welt, zu dem nicht jeder Mensch in seinem Unterbewusstsein, insofern er ein Angehöriger der fünften nachatlantischen Periode ist, die Neigung hat. Ob in dem einen oder dem anderen Fall die Neigung zum Bösen äußerlich zu einer bösen Handlung führt, das hängt von ganz anderen Verhältnissen ab als von dieser Neigung.4

Wie kann ich diese Neigung in mir erkennen? Bin ich dazu imstande? Denn das Böse in mir als ‹Neigung› zu erkennen, ist nicht gleich Kenntnis nehmen von den Auswirkungen des Bösen außerhalb von mir. Es ist eine Begegnung. Eine Begegnung, die nur in mir stattfinden kann. Ich bin der einzige Mensch, der sie vollziehen kann. Und als Begegnung braucht sie einen Raum, einen inneren Raum, den nur ich selbst schaffen kann. Es ist ein Raum, in dem ich zuhören kann und in dem Resonanz entstehen kann. Zu gleicher Zeit ist es auch dieser Raum in mir, wo die Ohnmacht mich aufgehalten hat, wo ich nicht weiterkonnte. Aber da ich die Blickrichtung umgewandelt habe, tut sich dieser Raum wieder auf. Das Unerträgliche bleibt unerträglich. Und noch immer kann ich es nicht tragen. Aber ich kann wach bleiben, dabei bleiben, wäre es auch nur ein kurzer Augenblick.

In diesem Moment, wo ich das Böse in mir anerkenne, zeigt sich die Not meiner Zeit. Ich werde in das Wesen des Zeitgeschehens eingeweiht und dieses Wesen trägt die Signatur des Bösen. Nun aber stehe ich dem Zeitgeschehen von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ohne Okular zwischen uns. Die akute oder chronische Not, die ich im Zuschauen verspürte, ist nicht mehr länger nur meine eigene, sondern sie ist die Not der Zeit. Ich erlange diese Erkenntnis nicht nur, sondern sie vollzieht sich in mir; sie wird wahr.

Die Erfahrung der Ohnmacht, in der ich mich nicht tragen konnte und nicht tragen kann, hat mich befähigt, anderes als mich selbst aufzunehmen und zu tragen. Die Absonderung ist einen Moment lang aufgehoben. Ich werde zum Mittragenden, ich bezeuge meine Zeit und andere tragen mich.

Die zweite Liebe fängt an: «Die Lieb’ ist frey gegeben, Und keine Trennung mehr.» (Novalis)

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Footnotes

  1. S. Weil, Schwerkraft und Gnade. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Matthes & Seitz, Berlin 2021, S. 127–129.
  2. Giorgio Agamben, Qu’est-ce que le contemporain? Rivage Poches, Petite Bibliothèque 2008.
  3. Rudolf Steiner, Das Heraufkommen des Bewusstseins-Impulses. Erster Vortrag, Dornach, 18. Oktober 1918, in: ders., Geschichtliche Symptomatologie, GA 185, Dornach 1982, S. 9 f.
  4. Rudolf Steiner, 26. Oktober 1918, in: Geschichtliche Symptomatologie, GA 185, 2. Ausgabe, Dornach 1962, S. 107.

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