Im Bereich der Literatur erkennt man eine erzählerische Konstruktion daran, dass man sie beim Lesen nicht vergisst, weil sie ein Werk mit etwas Gewolltem überprägt.
In diesem Sinne hat man lange nicht mehr einen Roman mit so wenig Atem, Plastizität und Welthaltigkeit gelesen wie Monika Marons ‹Munin oder Chaos im Kopf› (Fischer Verlag 2018), der zugleich den Anspruch erhebt, etwas Wesentliches über die Welt auszusagen, und dafür zunächst auch einen klugen Griff wählt: eine gewöhnliche Berliner Straße als Kristallisationspunkt sozialer Konflikte, von einer unentwegt auf dem Balkon übenden Sängerin tyrannisiert. Ich-Erzählerin ist eine Autorin, die an einem Auftragswerk über den Dreißigjährigen Krieg sitzt. Damit ist das Motiv von Marons Roman, der eigentlich eine Novelle ist, angeschlagen: Wir leben geistig (wieder) in einer Vorkriegszeit. Über derlei metaphysische Fragen unterhält sich die Erzählerin schließlich mit einer Krähe, die sich gelegentlich bei ihr niederlässt. Es bleibt indes offen, ob sie das Tier nur als Projektionsfläche eigener Gedanken nutzt. Dazu gehören Sorgen hinsichtlich der Islam- und Flüchtlingspolitik, die Maron in lediglich anderer Diktion zuletzt selbst geäußert hatte: «Mein Gefühl, unsere gewohnte Ordnung löse sich ganz allmählich auf und auf sicher geglaubte Vereinbarungen zwischen den Menschen sei kein Verlass mehr, speiste sich gewiss auch aus meiner gezielten Suche nach solchen Schreckensberichten. Aber immerhin waren sie zu finden, die Meldungen über zunehmende Vergewaltigungen, Messerstechereien, Raubzüge und sogar Angriffe auf die Polizei, als sei mit den Millionen Menschen, die in den letzten Jahren aus fremden Kontinenten eingewandert waren, auch der Krieg eingewandert, dem sie entflohen waren.» (S. 120) Am Ende wird eine Frau von zwei Männern südländischen Typs fast vergewaltigt und die Autorin erhält eine freundliche Absage für ihren Festschriftbeitrag, da dieser zu pessimistisch sei.
Während dieser Roman auf eine merkwürdige Weise umso privater wirkt, je weniger er es sein will, unterläuft Peter Stamm in ‹Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt› (ebenfalls Fischer Verlag 2018) sozusagen das Gegenteil: Indem er das alte Lied des glückenden oder scheiternden Lebens anstimmt, die quälende Was-wäre-wenn-Frage, und einen reifen Schriftsteller seinem jüngeren Ich begegnen lässt – Kristallisationspunkt hier ist eine junge Frau –, sagt er durchaus etwas über unsere sich ständig vergleichende Gesellschaft aus. Und dennoch bleibt nach der Lektüre ein fader Beigeschmack der künstlerischen Routine. Stamm hat seit einigen Jahren sein (Stamm-)Thema gefunden und lässt zwar ab und zu hier noch einen Ast treiben oder hier noch einen Zweig, aber er scheint so in seine Wurzeln verliebt, dass der gesucht klingende Titel auf ihn zurückschlägt und man das Gefühl hat, einer gekonnten und sanften literarischen Gleichgültigkeit zu begegnen.
Natürlich bedeutet Dichten ganz zwangsläufig immer auch Konstruieren, also Erfinden, und doch merkt man beiden Romanen die Konstruktion zu sehr an, statt dass man sie vergessen könnte. Ähnlich verhält es sich leider auch mit Juli Zehs Dystopie ‹Leere Herzen› (Luchterhand 2017), die kühn und weit aus dem Heute heraus in die Zukunft ausgreift. (Zehs Motto: «Da. So seid ihr» kommt interessanterweise wörtlich auch bei Maron vor, und zwar in den überwiegend belanglosen Unterhaltungen zwischen Krähe und Erzählerin.) Bei Juli Zeh hat die Hauptprotagonistin Britta mit einem technisch versierten Freund eine Firma gegründet, die Selbstmordattentäter an Institutionen vermittelt. Im Netz werden entsprechende Anwärter aus den Datenmengen herausgefiltert und systematisch auf ihre tatsächliche suizidale Motivation überprüft – wer kann geheilt wieder in die Gesellschaft integriert, wem kann der Wunsch eines Todes aus höheren Motiven erfüllt werden? So lesbar und flüssig und – im Gegensatz zu Maron – bewundernswert zugespitzt der Text daherkommt, so zäh wirkt dann doch das moralische Spiegel-Vorhalten, wenn es auch von der Komposition her plausibel erscheint und die reflektierte Schriftstellerin Zeh sich der Eindimensionalität ihres Ansatzes bewusst sein mag. Allerdings ist es bezeichnend, dass auch ‹Leere Herzen› keine eigene Sprache findet, sondern das in Quartieren wie Berlin-Mitte dominierende Geplapper so gut imitiert, dass man nicht umhinkommt, darin diesmal auch die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten (oder Ambitionen) der Autorin zu erkennen. – Rührt der Eindruck des Konstruierten bei allen dreien Beispielen daher, dass es sich um Romane handelt, aber man das Gefühl hat, eigentlich geht es den Schreibenden um ein anderes, eher äußeres Anliegen? Als Kontrast sei auf Eduard Levé hingewiesen, in dessen Werken ‹Autoportrait› und ‹Selbstmord›, beides Neuerscheinungen bei Matthes & Seitz Berlin, der Eindruck von Konstruktion niemals aufkommt. Eher dekonstruiert hier der Autor sein eigenes Leben beziehungsweise rekonstruiert das Leben (und Sterben) eines anderen. Während sich die genannten anderen Bücher unter dem zugegebenermaßen polemischen Begriff Feuilleton-Literatur summieren ließen, erscheint Levé elementar poetisch, besitzt sein Schreiben die existenzielle Wucht der Individualität. Der Autor nimmt im Grunde die doppeldeutige Frage, die sich der schuldbewusste moderne Mensch in Schocksituationen gelegentlich stellt – Was habe ich getan? – einmal bewusst nüchtern und führt sie zusammen mit der uralten Klage «Wer bin ich schon?».
In dem (früher erschienenen) ‹Autoportrait› entwickelt er die eigene Identität aus den kleinsten Teilen. Aus der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit einzelner aneinandergereihter Aussagesätze – die weniger etwas emotional postulieren als sachlich festhalten – entsteht der innere Zusammenhang der Persönlichkeit. Die Komposition klingt mit dem geistigen Motiv zusammen, anstatt es zu stören. So wirkt das schmale Buch transparent und berührend. ‹Selbstmord› wiederum zeichnet im Bewusstsein des Erzählenden die Wege einer Seele nach, ohne sie zu bewerten, ja ohne überhaupt einen wie auch immer gearteten Suiziddiskurs miteinzuflechten. Es geht rein um die Phänomenologie eines Menschen, um das Licht, das ein anderer, ein Schreibender, auf ein dunkel gelebtes Leben wirft. Ist es sein eigenes? Levé wählte später selbst den Freitod; die Geschichte seines Manuskripts umweht ein Hauch von Dramatik und wohl auch Tragik (insofern vergleichbar mit dem hier vor Jahren porträtierten Berliner Wolfgang Herrndorf, der seine alles Vorherige übertreffende schriftstellerische Relevanz im Angesicht eines Tumors und im Vorschein des Entschlusses zum Freitod entfaltete). Es sind die Bücher Levés, bei denen man im Gegensatz zu den gut gemachten und gut gemeinten von Maron, Stamm und Zeh am stärksten die Empfindung haben kann, Zukunftskraft zu spüren.