Novalis schätzte das Märchen sehr und sah es als die höchste Form des literarischen Ausdrucks an. Einige Menschen sind davon überrascht. Wenn ich Bekannten erzähle, dass ich Videos von Novalis-Geschichten und anderen Märchen mache, lächeln sie oft und sagen: «Das ist schön. Ich werde sie meinen Enkelkindern schenken.»
Aber für Novalis war das Märchen für alle da, besonders für Erwachsene. Auch Rudolf Steiner betonte im Anklang an Novalis, dass Märchen heilend seien. Während der langen Monate der Isolation konnten wir in der Sektion erfahren, warum Novalis das Märchen so hoch schätzte. Natürlich hatte ich durch die Waldorf-Erziehung und die Elternschaft den Wert des Märchens für Kinder verstanden. Bis zur Pandemie hatte ich aber nicht klar erkannt, wie viel Heilkraft das Märchen für Erwachsene hat.
Jeder Erwachsene muss ein echtes Märchen hören, und zwar auf die richtige Weise. Es gibt einen Grund, dass Kindern abends Märchen vorgelesen werden. Die Zeit zwischen Schlafen und Wachen ist magisch. Während dieses manchmal sehr kurzen Moments der halbwachen Erfahrung schweben wir zwischen der Welt unserer äußeren Sinne und der inneren Welt des Geistes. Dies ist das magische Zwischenreich, in dem sich Licht und Schatten vermischen und in dem das Märchen atmet. Erfahrungen mit Musik sind ähnlich. Das Schweben und Atmen in diesem Reich der geistigen Archetypen ermöglicht es dem Märchen, den Ätherleib auf ähnliche Weise zu durchdringen wie Musik. Wenn wir jedoch zu wach, zu kritisch und kritikfähig sind, verpassen wir diesen Moment völlig und verlieren den Nutzen des Märchens zur Heilung und ‹Belehrung› der Seele.
Novalis bemerkte und demonstrierte, dass das Märchen von der richtigen Qualität sein, auf die richtige Weise erzählt und mit der richtigen inneren Einstellung aufgenommen werden muss. Wir hören so viele verzerrte Märchen und wir schwelgen in ihnen. Sie sind in den sozialen Medien allgegenwärtig und durchdringen unsere Gedanken, Meditationen und unseren Schlaf. Aber jeder Erwachsene hat ein Kind in sich, das ein wahres Märchen hören muss. Vielleicht erlaubt der Erwachsene dem Kind nicht, solche ‹dummen› Geschichten zu hören. Er würde lieber die verborgene Bedeutung des Märchens erklären, weise Dinge sagen, Lektionen erteilen oder über gut und böse sprechen. Aber das Kind möchte einfach nur eine ‹erzählte Oper› genießen. Novalis sagte, dass Goethes ‹Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie› eine ‹erzählte Oper› sei. Nicht Oper in einer totalen musikalischen Form, sondern erzählte, also gesprochene Oper.
Ein Engel auf den Schultern
William Blake, ein Zeitgenosse von Novalis, stellt in einer seiner ‹Illuminationen› einen Menschen dar, der einen jungen Engel auf seinen Schultern trägt.1 Dieses Bild ist eine nützliche und gesunde Vorstellung, mit der wir in diesen schwierigen Zeiten leben können. Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Engelskind auf Ihren Schultern tragen. Es ist die ganze Zeit bei Ihnen. Wie fühlt sich das Engelskind? Ist es glücklich, traurig, verängstigt, besorgt, wütend, krank? Hat es einen Anfall oder vielleicht Angst vor der Welt und anderen Menschen? Fürchtet es sich vor der Existenz, weil Sie ihm immer nur beunruhigende Geschichten, didaktische Erzählungen oder Verschwörungstheorien erzählen? Meinen Sie, das Engelskind muss zu seinem eigenen Besten lernen, kritisch, scharfsinnig und klug zu sein? Rudolf Steiner gibt die Worte Wilhelm Grimms wieder, welche dieselbe Vorstellung vom Engelskind beinhalten: «Märchen und Sagen sind vergleichbar mit einem guten Engel, der dem Menschen von Geburt an als Begleiter auf seiner Lebenswanderung zur Seite gestellt wird, um ihm ein treuer Kamerad zu sein – er bietet Kameradschaft und macht das Leben innerlich zu einem wahrhaft beseelten Märchen!»2 Es gibt kaum eine bessere Definition von magischem Idealismus als diese. Das Leben könnte ein wahrhaft beseeltes Märchen werden oder sollte es vielleicht. Novalis sagte, das Leben sollte ein ‹Roman› werden – ein Kunstwerk, ein Werk der Poesie. Auch Goethe hatte diese Idee: das Leben als Kunstwerk. ‹Magischer Idealismus› ist ein Ausdruck, den Novalis häufig verwendete, um den geistigen Weg des Dichters zu erklären. Für ihn ist jeder freie und ethische Mensch, der zur Realität der Vorstellungskraft und des Geistes erwacht, ein Dichter.
Steiner wies auch darauf hin, dass die ursprünglichen Erzähler von Märchen Rhapsoden waren. «In den Vorträgen über Märchendichtung vom 10. Juni 1911 nannte Rudolf Steiner die mittelalterlichen Märchenerzähler ‹Rhapsoden›. In der Tat wurden ja in alter Zeit und vielerorts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Märchen in einer Art Sprechgesang vorgetragen.»3 Der Dichter Novalis war zwar kein praktizierender Musiker, aber er verstand die innere Natur der Musik, ihre heilende und harmonisierende Kraft. Er wusste sehr wohl, dass die Musik in uns lebt und durch uns atmet, wenn wir uns erlauben, dieses magische ‹Dazwischen› zu bewohnen, welches zwischen Wachen und Schlafen auftritt. Es kann eine Erfahrung sein, die wir auch in Phasen der Meditation machen. Die musikalische Qualität dieser Zwischenerfahrung ist der Grund, warum ich den Begriff ‹erzählte Oper› so faszinierend und hilfreich finde, wenn es um das Verständnis des Märchens als Heilkunst geht. Bei einem unserer Sektionstreffen zur ‹erzählten Oper› sahen wir uns Ingmar Bergmans Verfilmung von Mozarts ‹Zauberflöte› an. Bergman legte besonderen Wert auf die Themen, die hier beschrieben werden. Während der Ouvertüre fährt seine Kamera über die Gesichter vieler Menschen, jung und alt, mit je unterschiedlichem Hintergrund. In jedem Gesicht werden wir Zeuge der heilenden Kraft von Musik und Märchen. Die Gesichtszüge werden weicher, die Seele weitet sich und der innere ‹Kinderengel› beginnt zu atmen und aufzublühen. Novalis hätte Bergmans Inszenierung sicherlich zu schätzen gewusst.
Hyazinth und Rosenblütchen
Novalis’ Märchen ‹Hyazinth und Rosenblütchen› beginnt mit den Worten: «Du hast noch nicht geliebt, du Armer.» Es findet sich im Buch ‹Die Lehrlinge zu Sais›, ein Buch voller brillanter Gespräche und Vorträge über die Natur und das Verhältnis des Menschen zur Natur. Ich kann mich an die Zeit in der Universität erinnern, als ich es liebte, Nächte hindurch theoretische Gespräche und Diskussionen zu führen. Aber wenn wir die ganze Zeit plappern wie Studenten, die sich für Ideen begeistern, wenn wir mehr an Landkarten der Natur als an Naturerfahrungen interessiert sind, haben wir nicht die ruhige Seelenstimmung des Bewusstseins, der Sensibilität und der künstlerischen Hingabe, um die sanfte heilende Stimme der Natur zu hören. Wir stecken im Geplapper der Persönlichkeit fest. Das Engelskind auf unseren Schultern langweilt sich, wird krank oder bekommt einen Anfall, schmollt und will nicht mit uns sprechen. Der Held des Märchens, Hyazinth, ist ein gutes Beispiel dafür. Er ist melancholisch und «grämte sich unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, setzte sich einsam, wenn die andern spielten und fröhlich waren, und hing seltsamen Dingen nach.» Als ein geheimnisvoller Fremder, ein Großmeister der okkulten Wissenschaften und der hochfliegenden Philosophie, in die Stadt kommt, ‹verliebt› sich der junge Mann Hyazinth: «Verrate mir die tiefen Geheimnisse der Schöpfung, Meister! Gib mir den Schlüssel zu allen Mythologien!» Der Fremde nimmt Hyazinth unter seine Fittiche. «Folge mir, mein kleiner Freund! Ich werde dich unterrichten!» Er weiht Hyazinth in alle möglichen okkulten Geheimnisse ein und hält ihm viele Vorträge. Er schenkt ihm sogar ein besonderes Buch, das speziellste Buch, das je geschrieben wurde. Es ist so besonders und so weise, es enthält so unglaublich tiefe Geheimnisse über die Schöpfung und den Menschen, dass kein Mensch es lesen kann, sagt uns Novalis.
Hyazinth verbringt seine ganze Zeit mit dem Meister. Sie machen lange Spaziergänge und führen tiefe Gespräche, steigen sogar in tiefe Minenschächte hinab, um nach Geheimnissen zu suchen. Hyazinth will den gesamten Lehrgang absolvieren und gleichzeitig wird er immer unglücklicher. So sehr, dass er das Interesse am Leben verliert. Er wendet sich von seiner Geliebten Rosenblütchen und seinen Eltern ab, leidet, wird depressiv und entfremdet sich immer mehr von der Welt. Dann, so erzählt uns Novalis, trifft Hyazinth die weise alte Frau im Wald, die sagt: «Zeig mir das besondere Buch des Fremden!» Er zeigt es ihr. Sie nimmt das geheimste Buch mit der höchsten esoterischen Weisheit, das je geschrieben wurde, und verbrennt es vor den ungläubigen Augen des jungen Mannes. Hyazinth schreit auf, aber die Alte gibt ihm auf der Stelle eine Dosis Erleuchtung und der Junge ist wie verwandelt. Aber er gerät von einem Extrem ins nächste. Ach, die Jugend! Er rennt nach Hause und sagt seinen Eltern und Rosenblütchen, dass er sie verlässt und in die Ferne geht. Obwohl er vom Glanz des Buches des Fremden befreit ist, täuscht er sich immer noch über viele Dinge und vor allem über sich selbst. Das ist das Wesen der Einweihung. Sie schreitet Schritt für Schritt voran. Gerade wenn man denkt, etwas verstanden zu haben, geht es zurück zum Anfang, zum «Es war einmal …».
Hyazinth verlässt sein Zuhause und macht sich auf die Suche nach der Großen Mutter, der Göttin Isis, der verschleierten Göttin, die das wahre Geheimnis – das offene Geheimnis – des Lebens, der Natur und des menschlichen Seins hütet. Hyazinth wandert umher wie ein Parzival. Seine wichtigsten Momente des Lernens und der Einweihung finden statt, wenn er schweigt und lauscht und ganz allein mit sich und der Natur ist, in der Stille und im Schweigen. In dieser Hinsicht ist er nicht wie Faust, der sich fast nie setzt und schweigt. Aber Hyazinth hält still und fällt in die Stille des Fragens, das die Suche leitet. Er wird wie die Figur des Dummkopfs im Märchen. Er hört den Blumen zu, spricht mit Vögeln und Wolken.
Er lernt zu sitzen und zu atmen und auf die innere Welt zu achten, die die äußere Welt ist. Er lernt die Kunst der Langeweile und beginnt den ewigen Fluss des Lebens zu erahnen, das sich zwischen dem Ich des Menschen und der Natur aufspannt, lemniskatenartig. Wie ein Parzival, der die Zügel seines Pferdes fallen lässt und dem Pferd erlaubt, seinen Weg ohne Einmischung zu finden, wird Hyazinth langsam ruhig, empfänglich genug und kindlich weise genug, um seinen Weg zum Gral zu finden. In diesem Fall ist der Gral die verschleierte Göttin Isis. Er gelangt in die stille Mitte des sich drehenden Rades. Und was entdeckt er dort? 4
Nach Hause
Novalis wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen. Novalis wird Ihnen nicht das Buch eines anderen Fremden oder gar sein eigenes Buch geben. Er wird Sie befähigen, ein offenes Geheimnis zu schätzen und Ihren eigenen Weg zu gehen, Ihr eigenes Buch zu schreiben. Dieser Roman heißt ‹Mein Leben›.
Der gesamte ‹Heinrich von Ofterdingen› kann als Gedankenexperiment gelesen werden, in dem Novalis dieses Thema der heilenden Kunst des Märchens erforscht. Heinrich, der junge Held, sehnt sich danach, ein Dichter zu werden. Aber denken Sie daran, dass ‹Dichter› für Novalis ein freier und geistig wacher Mensch bedeutet. Lesen Sie den Novalis-Roman, auch noch einmal. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass Sie ihn schon einmal gelesen haben. Oder Sie erinnern sich sogar daran, dass Sie ihn geschrieben haben – vor langer Zeit oder in einem Ihrer Träume. «Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.» – Novalis, ‹Heinrich von Ofterdingen›.
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Footnotes
- Novalis & The Healing Art of Fairy Taile
- Rudolf Steiner, Ergebnisse der Geistesforschung. Vortrag vom 6. Februar 1913, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1988.
- Almut Bockemühl, Märchen und Rosenkreuzer. Verlag am Goetheanum, Dornach 2015.
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