Das kurze Leben des Friedrich von Hardenberg hielt für ihn die Einweihung am Grab seiner Geliebten bereit. Aus dieser Erfahrung schuf er seine heute noch zu uns sprechenden Werke. Ihm zum 250. Geburtsjahr.
Bei Dante war es ein Abstieg in die Unterwelt, das Inferno; bei Novalis ein Abstieg in die Nacht, in die Unterwelt des Bewusstseins und eine Abkehr vom Tage. Dante zählte 25 Jahre, als ihm die Geliebte, Vertraute Beatrice wegstarb, Novalis war ebenfalls 25-jährig, als ihm die heimliche Verlobte und Erweckerin seiner Liebe in den Tod voranging. Bei Dante führte diese Erfahrung zu einem neuen Leben und der buchstäblichen Verfassung seiner ‹Vita Nova›, bei Novalis zur Geburt einer Geistigkeit, die ihn zum Mystiker, zum Propheten und zum Instrument einer gänzlich neuen Christus-Erfahrung machen sollte. Drei Jahre walteten daraufhin: mit 28 Jahren setzt Dante einen Schlusspunkt unter das letzte Blatt der ‹Vita Nova›; im selben Alter trägt Novalis die vollendete Fassung der ‹Hymnen an die Nacht› zur Druckerei. Beide Wege, beide Werke würden schließlich einmünden in Schau und Lobpreis des Ewig-Weiblichen, der Göttlichen Sophia, der Himmelskönigin, der höchsten Liebe: versammelnd aller Strahlen Macht, im Menschenherzen Liebe weckend. Zwei Jahre später erfolgt bei beiden Dichtern eine Rückkehr zur Erde, heiratet Dante Gemma Donati, die er in keinem Werk erwähnt, verbindet sich Novalis mit Julie von Charpentier. Ihren Geburtstag, wenigstens, finden wir, wenn auch ohne Namensnennung, verewigt im Bergkapitel des ‹Heinrich von Ofterdingen›: «Mit welcher Andacht sah ich zum ersten Mal in meinem Leben am sechzehnten März, vor nunmehr fünfundvierzig Jahren, den König der Metalle in zarten Blättchen zwischen den Spalten des Gesteins.» Er hatte in Erdenfinsternis neues Gold aufglänzen sehen.
Die Zahl 45, in ihrer Quersumme die Neun ergebend, mündet in die Zehn, als die irdische Zahl der Summe von 16 und 3, Zahl der Menschwerdung.
Aber der Prophet in dem Jüngling Hardenberg hatte schon längst zuvor mit den Zahlen sein visionäres Spiel getrieben. Was sollen wir sagen zur Hochzeitskarte des Novalis und der Sophie von Kühn, gedruckt nur vier Monate nach ihrer ersten Begegnung in Grüningen.
Unsern wechselseitigen Verwandten und Freunden machen wir hierdurch unsere Verbindung am 19. März dieses Jahres bekannt und versichern uns im voraus ihrer freundlichen Teilnahme.
Schlöben, am 25. März 1798.
Friedrich von Hardenberg und Sophie von Hardenberg geb. von Kühn
Es ist die Ankündigung einer Hochzeit, eines Namenwechsels, die ja nie stattfinden sollten. Allerdings nimmt die Karte beider Todestage vorweg – den 19. März als den Sophies, den 25. als den Hardenbergs selbst. Todestage als Vorwegnahme späterer mystischer Hochzeit! Was also sagen wir zu solchen Rätseln? Das Lebensschicksal vollzieht sich dem jungen Manne in Bildern von Zahl und Figur, in Imagination anderer Welten, als Sprache des verborgenen geheimen Worts.
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen …
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Erweckung als Lebenspfingsten
Alles begann in Hardenbergs 22. Lebensjahr. Genau gesagt: am Montag, dem 17. November 1794. Zehn Tage zuvor hatte er im Kreisamt Tennstedt seinen Dienst zu einem einjährigen Praktikum angetreten und meldet übermütigen Sinns und Mutes seinem Bruder: «Hier geht es mir sehr gut. Ich war schon in Langensalza. Auch dort hoff ich in Train zu kommen. Durch die Welt durchsponsiert – dort ist wie überall Mangel an Tänzern.» Und am Sonntag, dem 16. November, lässt er seinen Amtskollegen in ironisiertem Beamtendeutsch wissen, dass «in der alten räuchrigen Amtsstube ein wahres Pandämonium zu sein scheint, in welchem ihn» – denn er spricht von sich selbst distanzierend in der dritten Person – «unaufhörlich der Wollustteufel chikaniert und mit wollüstigen Bildern vor ihm herum auf dem Papier tanzt … Sonst gefällt es ihm ganz wohl, besonders da er zwischen vier Nachbarinnen wohnt, die Stück vor Stück zu 18 Jahren taxiert sind, und besage ihres Anschlags einen guten fundum dotalem nebst ansehnlichen Pertinenzien und Nutzungen aller Art besitzen», kurzum aufgekratzt, übermütig, sinnenfreudig. Tags darauf begibt er sich mit einem Bekannten, Adolph von Selmnitz, der damit zu seinem einzigen, aber nachhaltigen Auftritt im Werdegang des Novalis kommen würde, auf eine Kutschenfahrt ins nahe gelegene Schlösschen Grüningen, wo die verwitwete Frau von Kühn mit ihren beiden Töchtern als wiederum verheiratete Frau von Rockenthien lebt. Die eine der Töchter ist nun also Sophie von Kühn – und diese sollte sehr wohl in die Literaturgeschichte eingehen, obschon sie kein Wort fehlerfrei schreiben kann, noch nicht einmal 13-jährig ist, ihm aber aufmerksam und offen begegnet an diesem Montag.
Denn nun fallen in einer Stunde, in einer Viertelstunde, alle früheren Beziehungen und Tändeleien von ihm ab. Zu diesem Mädchen fasst er tiefe Vertrautheit, fühlt diese erwidert und sich im Innersten bewegt, getroffen, erschüttert. Er hört in sich die ‹Stimme des Genius›, der sein Ich ruft, weckt, anschaut zugleich. Dem Bekannten, Selmnitz, der ihn nach Grüningen gebracht hatte, schreibt er noch am selben Abend in der Stimmung der Ergriffenheit einen Dank für diesen Ausflug, und gleichsam schlagartig findet er seinen dichterischen Ton.
An Adolph Selmnitz
Was paßt, das muß sich ründen,
Was sich versteht, sich finden,
Was gut ist, sich verbinden,
Was liebt, zusammensein.
[…]
Gib traulich mir die Hände,
Sei Bruder mir und wende
Den Blick vor Deinem Ende
Nicht wieder weg von mir.
[…]
Ein Ort – wohin wir ziehen,
Ein Glück – für das wir glühen
Ein Himmel – mir und Dir.
Es ist ein Blick, eine Angerührtheit, die das Lebensende bereits mit formuliert, und davon berichtet Hardenberg kurz darauf seinem Bruder Erasmus: eine Viertelstunde habe sein Leben verwandelt – der dies freilich für eine kurzlaunige Verliebtheit, bestenfalls einen Rausch hält und ihm vorhält: «Du schreibst mir, eine Viertelstunde hätte Dich bestimmt; wie kannst Du in einer Viertelstunde ein Mädchen durchschauen? … Wenn Du mir ‹ein Vierteljahr› geschrieben hättest …»
Darauf nun reagiert der Schreiber empört, klarstellend und christologisch mit dem Gedicht ‹Anfang›. Darin hält er seinem Bruder entgegen: Wenn das ein Rausch nur wäre, so sei er «nicht für diesen Stern geboren»; was sei dann das Leben überhaupt? Es sei die Stimme des Genius, die er vernommen, sei die geschaute Unsterblichkeit, sei die Fackel zu höherem Sein, sei Bewusstsein wahren Wertes, der nur zu selten von Menschen erkannt werde – sei Vorwegnahme höheren Menschseins, sei eben kein Rausch – so wenig, wie das Brausen des Pfingstgeistes Rausch und das apostolische Bewusstsein Trunkenheit gewesen sei:
Du bist nicht Rausch, du Stimme des Genius …
[…]
Einst wird die Menschheit sein, was Sophie mir
Jetzt ist – vollendet – sittliche Grazie –
Dann wird ihr höheres Bewußtsein
Nicht mehr verwechselt mit Dunst des Weines.
So erfuhr der sprachlos Gewordene vom Lebenspfingsten seines Bruders. Er erfuhr, dass Friedrich die Seele seines Lebens, den Schutzgeist seines Daseins gefunden und mit ihm eine künftige Welt geschaut habe, erfuhr zudem, dass sehr fraglich sei, ob ein solches Finden nur ein bräutliches, liebendes Zusammenfinden und nicht vielmehr Eintritt in eine gänzlich verwandelnde ‹Vita Nova› sei.
Der Menschenkreis um Friedrich von Hardenberg
Vom Kind Hardenberg ging die Rede, es sei verträumt, schwächlich, kränkelnd. Geboren am 2. Mai 1772, ward es getauft auf Georg Friedrich Philipp in kalten Schlossräumen von Oberwiederstedt, damals Grafschaft Mansfeld. Das Schloss war nur durch ein Seitentor betretbar. Vor 150 Jahren hatte ein Hardenberg am Haupttor seine Braut erwartet; die vom Blitz erschlagen ward, als sie eben aus der Kutsche steigen wollte, worauf der Eingang zugemauert wurde. Damit sind die Motive angeschlagen: Brautschaft, Hochzeit, Tod als die Schicksalswelt, in die der spätere Novalis hineinwachsen würde.
Mit neun Jahren erkrankt das Kind schwer an der Ruhr. Der strenge und introvertierte Vater schickt den Jungen zu den Zinzendorfer Herrnhutern nach Neudietendorf, deren Konfirmation sich der Heranwachsende aber instinktiv entzieht und endlich zum Onkel nach Lucklum bei Braunschweig gebracht wird – einem Herrn des Deutschritterordens und Landkomtur der Ballei Sachsen. Hier findet der Jüngling Kontakt zu Büchern, die nie über die Schwelle des Vaterhauses gekommen wären: Goethes ‹Werther›, ‹Goetz›, Lessing natürlich, Wieland, Cervantes, Shakespeare, französische Enzyklopädisten. Zu Beginn des dritten Jahrsiebtes zieht die Familie nach Weißenfels, wo der Vater Salinendirektor wird. Gymnasialjahre in Eisleben folgen darauf, ehe der junge Mann mit 20 Jahren in Jena zum Studium der Rechtswissenschaft eintrifft. Verehrter und erster Dozent, auf den er dort stößt, ist freilich Friedrich Schiller. Und Hardenberg lauscht ihm zu Füßen, gefesselt im Zusammenklang von Dichtung, Historie, Kunst, Philosophie, dem er hier begegnet. Und es ist Wieland, der ein erstes Gedicht des 21-jährigen Studenten im ‹Teutschen Merkur› veröffentlicht. Der Vater reagiert unwirsch, sieht das Rechtsstudium vernachlässigt und schickt den Sohn übers Jahr nach Leipzig. Hier ist es, wo er dem lebenslangen Freunde Friedrich Schlegel begegnet; einem Freunde, der ihn formt, kritisiert, fördert, inspiriert, der als ironisch-skeptischer Mephisto dem schwärmerischen Träumer an die Seite tritt. Aber Leipzig ist auch jenes Klein-Paris, worin schon der junge Goethe nicht gediehen war, und in den Briefen tauchen Lucies, Luischens, Lauras, Lottchens auf, von Koketterien ist die Rede, und von Schulden auch. Übers Jahr finden wir Hardenberg an der nächsten Station: Wittenberg, wo er denn endlich nach knapp eineinhalb Jahren sein Studium abschließt. Erwähnt sei seine Bekanntschaft und der Briefwechsel mit dem Philosophen und Freimaurer Carl Leonhard Reinhold, dessen Schrift über ‹Hebräische Mysterien› Schiller zu seiner Vorlesungsreihe über die ‹Sendung Moses›, die ‹Ballade vom Jüngling zu Sais› und auf diesem Wege den späteren Novalis zu seinem Roman ‹Die Lehrlinge zu Sais› angeregt hat. Hier berührt er die biblische und ägyptische Sphäre. Schillers ‹Don Carlos› hatte der Student zeitgleich mit der ‹Odyssee› gelesen, in einem Weinberge sitzend, und Schiller großmütig-pathetisch von seiner Einsicht berichtet, dass «ein Fehler ganzer Generationen auf Unkosten des gemeinen, reinen Menschensinnes, der die Entweihung unserer Lieblinge angeht – einen zum Feuereifer eines Elias berechtigen könnte, der die Baalspfaffen auf gut jüdisch am Bach Kidron schlachten ließ».
Fichte war der Student, in Gesellschaft Hölderlins, schon in Jena begegnet. Mit Schelling Freundschaft geschlossen hat er unterwegs in Freiberg – «wir sind schnell Freunde geworden, freimütig habe ich ihm unser Mißfallen an seinen Ideen erklärt». Denn neben Studium, Juristerei, jugendlichem Lebensdurst einher geht eine Schärfung und Ausbildung des eigenen Denkens, in wachsendem Kampf gegen die Kant’sche Nüchternheit und auf der Suche nach dem Wesen des Ich: «Spinoza stieg bis zur Natur – Fichte bis zum Ich. Ich bis zur These Gott. – Natur und Ich sind wie zwei Pyramiden, die eine Spitze haben.»
Frucht dieser philosophischen Bemühungen ist ‹Blütenstaub›, die erste zum Druck bestimmte Veröffentlichung von 1798, drei Jahre vor dem Tod, und erstmals mit dem Decknamen Novalis versehen, nach einem alten Hardenberg’schen Landgut gewählt – «welcher Name ein alter Geschlechtsname von mir ist und nicht ganz unpassend». Er meint damit novum agrum, Neuland. Hardenberg hat Neuland betreten!
Tod Sophies und Weihe am Grab
Dieses Neuland war das Grab der Sophie, der Braut, und die Schwelle über dieses Grab hinweg in das Neuland mystischer, spiritueller Erfahrung. Im Tagebuch steht vermerkt: «Am Sonntagmorgen, dem 19. März, früh halb 10 Uhr ist sie gestorben, 15 Jahre und zwei Tage alt.» Er war nicht dabei, erfuhr die Ereignisse erst zwei Tage später.
Was machte ihr Tod mit dem 25-jährigen Hardenberg? In einem Brief, drei Tage darauf, lesen wir: «Drei Jahre ist sie mein stündlicher Gedanke gewesen. Sie allein hat mich an das Leben, an das Land, an meine Beschäftigungen gefesselt. Mit ihr bin ich von allem getrennt, denn ich habe mich selbst fast nicht mehr. Aber es ist Abend geworden, und es ist mir, als würde ich früh weggehen, und da möchte ich doch gern ruhig werden und lauter wohlwollende Gesichter um mich sehen – ganz in ihrem Geiste möchte ich leben, sanft und gutmütig sein, wie sie war.» Am Ostertage darauf begibt er sich erstmals zu ihrem Grab. Es beginnt das Neuland, eine zweite Zeitrechnung; das Journal der Totenklage, der Wiedererstehungsfreude, es wächst der Wille, «ihr nachzusterben».
Meine Liebe ist
zur Flamme geworden,
die alles Irdische
nachgerade verzehrt.
Und tags darauf:
Du starbst – und da währte es
noch ein ängstliches Weilchen,
da folgte ich Dir nach.
Diese Zeit von Ostern zu Pfingsten bis Johannis bedeutet das eigentliche Wachstum, die Geburt, die Freisetzung des Sehers, Propheten, Mystikers auf seinem Neuland: die Geburt des Novalis. Am 13. Mai 1797 hatte er morgens die soeben erschienene Neuübersetzung des Schlegel-Bruders, Shakespeares ‹Romeo und Julia›, erhalten und darin gelesen.
«Ich fing an in Shakespeare zu lesen – ich las mich recht hinein. Abends ging ich zu Sophien. Dort war ich unbeschreiblich freudig – aufblitzende Enthusiasmusmomente – das Grab blies ich wie Staub vor mir hin – Jahrhunderte waren wie Momente – ihre Nähe war fühlbar – ich glaubte, sie solle immer vortreten.»
Was in den verbleibenden drei Schaffensjahren nun entsteht, wächst aus diesem Erleben am Grab der Braut. ‹Blütenstaub›, ‹Fragmente von Teplitz›, ‹Das allgemeine Brouillon›, ‹Hymnen an die Nacht›, ‹Marienlieder›, ‹Geistliche Lieder›, Märchendichtungen, Romanfragmente, die im Freundeskreis vorgetragene, erst viel später gedruckte und wohl erst heute verstandene Rede ‹Christenheit oder Europa›, der unvollendete letzte Roman ‹Heinrich von Ofterdingen›, als die Suche nach der Blauen Blume und zugleich die große Auseinandersetzung mit dem nah-fernen, befremdlich vertrauten Goethe.
Zuerst, in den Jahren und Jahrzehnten nach des Novalis’ Tod, meinte man in ihm den Schöpfer der Romantik zu finden; vielleicht, weil er einmal geschrieben hatte:
Romantisieren heißt dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben.
Aber das greift zu kurz, und es trifft manches in den Romantexten, in den philosophischen Gedanken, nicht aber die Christusnähe der ‹Geistlichen Lieder›, nicht jenes:
Wen ich sah, und wen an seiner
Hand erblickte, frage keiner,
Ewig werd ich dies nur sehn;
Und von allen Lebensstunden
Wird nur die wie meine Wunden
Ewig, heiter offen stehn.
Oder jene Strophe aus dem achten der ‹Geistlichen Lieder›:
Wenn sie seine Liebe wüßten,
Alle Menschen würden Christen,
Ließen alles andre stehn;
Liebten alle nur den einen,
Würden alle mit mir weinen
Und in bitterm Weh vergehn.
Das ist nicht im herkömmlichen Sinn Romantik; es ist orphische Klassik. Mit Recht sagt von ihm Professor Friedrich Hiebel: «Mit ihm begann eine neue Epoche christlicher Existenz, die sich auf dem Boden des Bewusstseins vom reinen Ich gründet. Er lebte uns einen Typus christlicher Jüngerschaft vor, den es bisher nicht gab, seine Sehnsucht nach der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters entsprang seiner reinen Botschaft zum Kindsein, zu johanneischer Gotteskindschaft. Das empfanden selbst Menschen, die ihn in seiner Zeit nur ferne ahnten. Wie wären sonst Worte erklärbar, wie sie Otto von Loeben an den Bruder Karl geschrieben hat: Der innerste Geist unserer Zeit hat sich in ihm verkörpert und ist uns dann vorangeschwebt, nach dem Ziel und der wahren Heimat der Menschheit.»
Novalis in der Schilderung Rudolf Steiners
Diese Worte werden uns umso verständlicher, wenn wir frühen Aussagen Rudolf Steiners folgen, mit welchen er im Oktober 1908 eine Rezitationsmatinee eingeleitet hat. «Dieser junge Mann, der mit 29 Jahren den physischen Plan verlassen hat und der dem deutschen Geiste mehr gegeben hat als Hundert und Tausend andere, er hat ein Leben gelebt, das eigentlich die Erinnerung war an ein vorhergehendes.[…] Er sah die Zeit, wo die Seelen der Pflanzen, der Tiere und der Menschen noch Genossen von göttlichen Wesenheiten waren […]. Da schlug ein in dieses Leben der Götter und göttlichen Erdenwesen der Gedanke des Todes, und herunter in die irdische Welt ging die geistige. […] Und er lernt entzaubern, was in den Reichen der Natur schwebt. Das trat in Novalis’ Seele ein, als er in seinem Ewigen mit der Seele seiner Sophie verbunden war – und ihr nachstarb. […] Da hatte er dieses ‹Stirb und werde› erlebt, und da ging ihm auf, was er nennt seinen ‹magischen Idealismus›.»
Heute, im Jahr seines 250. Geburtsjahres 1772, vermögen wir mit ganz anderen Augen und Ohren die Botschaften seiner Sätze, seiner Märchen, Imaginationen und christlichen Meditationen zu vertiefen. Weder ist er nur Bestandteil der gängigen Literaturgeschichte und ihrer Erforschung wie er nur ein Phänomen mitteleuropäischer Geistigkeit ist. Er ist, was Herman Grimm auch von Raphael sagte: ein globaler, ein interkonfessioneller und kosmopolitischer Botschafter des Höheren, des Besten im Menschen. Er ist Künder reinster Weisheit vom Menschen bis in alle Einzelheiten, ist durchdrungen von einem zukünftigen Christentum. Aus diesen beiden Gründen nenne ich ihn den ‹Schutzgeist der Anthroposophie› überhaupt.