Zweimal erscheint an Ostern der Christus: erst den Verstorbenen, dann Maria Magdalena, erst in der Nacht, dann am Tag, in den apokryphen Texten verborgen, in den Evangelien offenbart. Ostern erfahren, heißt beide Erscheinungen zusammenzunehmen, heißt dem Ostermorgen die Osternacht zur Seite zu stellen.1
Bei einem Aufenthalt in Instanbul im Jahre 2015 habe ich am letzten Tag noch die Chora-Kirche im Stadtteil Edirnekapi besucht. Diese Kirche, auf den Fundamenten einer alten Klosterkirche, wurde zwischen 1316 und 1321 mit kostbaren Mosaiken und Fresken aus den Evangelien über das Leben von Jesu und Maria ausgestattet. All das wäre ein gründliches Studium wert. Für mich war das überwältigende Erlebnis das große Fresko in der Halbkuppel der südlichen Apsis am Ende meines Rundganges. Dieses Fresko zeigt die im apokryphen (also nicht ins Neue Testament aufgenommenen) Nikodemus-Evangelium berichtete Erscheinung des Auferstandenen in der Unterwelt, der Vorhölle, deren Tore er aufgebrochen hat, um die armen Seelen zu sich zu holen.
Als ich davor/darunter stand, meinte ich die Kräfte geradezu zu spüren, mit denen der Auferstandene Adam und Eva ergreift, um sie herauszuführen, sie zu erlösen. Der Anhang des apokryphen Nikodemusevangeliums schildert das so: «Da ertönte eine gewaltige Stimme, wie Donner sprechend: ‹Öffnet, ihr Herrscher, eure Tore, gehet auf ewige Pforten! Einziehen wird der König der Herrlichkeit.›» Auf die Frage «Wer ist dieser König der Herrlichkeit?» erwiderten die Engel des Herrn: «Ein mächtiger und gewaltiger Herr, ein Herr, machtvoll im Kriege!» Und zugleich mit diesem Bescheid wurden die ehernen Tore zerschlagen und die eisernen Querbalken zerbrochen und die gefesselten Toten alle von ihren Banden gelöst […]. Und es zog ein der König der Herrlichkeit wie ein Mensch, und alle dunklen Winkel des Hades wurden licht. […] Da streckte der König der Herrlichkeit seine rechte Hand aus, ergriff den Urvater Adam und richtete ihn auf. Dann wandte er sich auch zu den übrigen und sprach: ‹Her zu mir alle […]. Denn seht, ich erwecke euch alle wieder durch das Holz des Kreuzes.› Darauf ließ er sie alle hinaus.»2 Eva wird hier nicht erwähnt.
Halte mich nicht fest
Das zweite Bilderlebnis hatte ich 1988 in Florenz, fast ein Vierteljahrhundert früher: beim Besuch im Kloster San Marco angesichts der Fresken des Fra Angelico. In einer der Mönchszellen findet sich die Szene, die entsprechend dem Bericht im Johannesevangelium diesen Ausführungen den Namen gegeben hat: das «noli me tangere» des Auferstandenen. Das Fresco zeigt, dem Johannesevangelium folgend, Maria Magdalena, die schmerzerfüllt am Ostermorgen das leere Grab erlebt hat. Sie sieht dann den Auferstandenen, erkennt ihn nicht und hält ihn für den Gärtner und fragt ihn, wo denn der geliebte Tote sei. Als er sie dann als Maria anspricht, da erkennt sie ihn und will seine Hand ergreifen, doch er sagt zu ihr in der lateinischen Version des Johannesevangeliums «noli me tangere – berühre mich nicht» oder «halte mich nicht fest».
An diese beiden Bilder schließen sich die folgenden Überlegungen zu dem Geschehen in der Osternacht und am Ostermorgen an. Dabei beziehe ich die dramatische Darstellung beider Ereignisse im ‹Innsbrucker Osterspiel› mit ein.
Ich sehe Polaritäten in diesen beiden Bildern: Nacht – Tag / geistige Welt – irdische Welt / gesuchte geistige Berührung – versagte geistig-körperliche Berührung.
Zum Ostermorgen gehören also die in den beiden Bildern dargestellten Ereignisse zusammen, auch wenn das erste, das ich als Nachtszene bezeichnet habe, heute nur bekannt ist, weil es im apostolischen Glaubensbekenntnis enthalten ist: descendit ad inferos, hinabgestiegen in die Hölle (eigentlich in die Unterwelt), am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten. Und in dem Brief des Paulus an die Epheser 4,9 heißt es in der Übersetzung von Emil Bock: «Dass er emporgestiegen ist, ist es nicht das Gleiche, wie dass er hinabgestiegen ist in die untersten Schichten der Erde? Der hinabgestiegen ist, ist der Gleiche wie der, der emporgestiegen ist höher als alle Himmel; er wollte alles Dasein mit seinem Sein erfüllen.» Im 1. Petrusbrief 4,6 heißt es, dass die «gute Nachricht den Toten verkündet wurde».
Weil dieser Teil des Auferstehungsgeschehens apokryph ist, wurde er von der katholischen Kirche später sogar verboten und auf den Index gesetzt. In der bildenden Kunst ist er freilich sehr häufig Thema, in der West- und besonders in der Ostkirche. Dort ist es das Osterbild schlechthin – nicht der Gekreuzigte. Rudolf Steiner äußert sich über Christi Gang zu den Toten und seine Bedeutung für uns Heutige so: «Mit Recht wird erzählt, dass Christus nach dem Ereignis von Golgatha herunterstieg zu den Toten, in die geistige Welt, um ihnen das Wort der Erlösung zu bringen. Es wirkt das Christus-Ereignis auch jetzt noch im gleichen Sinne. Daher ist es gleich, ob der Mensch noch hier in der physischen Erdenwelt lebt oder ob er schon gestorben ist: Das Christus-Ereignis kann er auch in der geistigen Welt noch erleben, wenn er sich nur hier auf Erden ein Verständnis dafür geschaffen hat.»3 Steiner spricht freilich von «geistiger Welt», sagt aber dennoch «herunterstieg». Er verwendet verständlicherweise auch nicht die traditionellen Formulierungen Vorhölle, Hölle oder Unterwelt.
Die Heilslehre als Spiel
Die gläubigen Christen des Mittelalters hatten das große Bedürfnis, das heilsgeschichtliche Geschehen der Auferstehung nicht nur in Fresken und Mosaiken in den Kirchen zu sehen und in den Predigten zu hören, sondern es auch als dramatisches Geschehen vor der Kirche oder auf einer Bühne zu sehen. Die Kirche weigerte sich lange, den Erlöser als Gestalt auftreten zu lassen. Das ist in gewisser Weise zu verstehen. Und doch hat sich dieses Bedürfnis nach ‹Anschauung› durchgesetzt.
Dazu sei die Darstellung des Gangs in die Unterwelt nach dem Nikodemusevangelium im ‹Innsbrucker Osterspiel›4 angeschaut. Dieses Osterspiel ist Ende des 14. Jahrhunderts entstanden und bringt das biblische Ostergeschehen um die Auferstehung Jesu Christi auf die Bühne. Es enthält die beiden Szenen, die zu unserem Thema gehören. Im Prolog werden die Zuschauenden aufgefordert, dieses Spiel mit Anstand anzuschauen. Das war durchaus berechtigt, denn das eingefügte umfangreiche Spiel um den Salbenkrämer gibt Anlass zum Lachen und Schenkelschlagen: Beschimpfungen und Prügeleien zwischen den Knechten des Salbenkrämers – sehr irdische Vorbereitung auf das große Ereignis der Erscheinung des Auferstandenen. Die Szene in der Totenwelt zeigt erhebliche Erweiterungen gegenüber dem Text des Nikodemusevangeliums.
Das Nikodemusevangelium im ‹Innsbrucker Osterspiel›
Jesus spricht:
Ihr Herren aus der Finsternis,
gar kläglich ist euer Rufen.
Sogleich schließt auf die Tor’:
der Macht und der Herrlichkeit König ist davor!
[…]
Hierauf zerbricht Jesus das Tor der Hölle.
Die bösen Geister heulen, Jesus spricht:
Nun kommt, meine viellieben Kinder, die ihr von meinem Vater gekommen seid.
Für immer sollt ihr mit mir
das Reich meines Vaters besitzen.
Adam spricht:
Wohl mir, heute und immerdar!
Wohl mir ob dieser frohen Kunde!
Ich sehe den, der mich erschaffen hat,
im Himmel und auf Erden.
Sei willkommen, lieber Vater Jesus Christ! […]
Erbarme dich heute meiner, viellieber Herr, darum bitte ich dich!
Er singt:
Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters,
nehmt in Besitz das Reich, das euch
von Anbeginn der Welt bereitet ist!Jesus spricht:
Ei, lieber Adam, wie war es um dich bestellt?
Wer gab dir den bösen Rat,
dass du brachst Gottes Gebot?
Adam spricht:
Lieber Herr, das will ich dir sagen:
der böse Teufel hat uns betört
er kam zu Eva gegangen gleich einer
Schlange.
Er sprach: Das ist die beste Speise,
die müsst ihr essen, dann werdet ihr weise!
Eva spricht:
Als ich den Apfel umfing
an dem Baume, an dem er hing –
ward auf der Stelle der Fluch gesprochen,
der noch den Frauen anhängt:
nun muss Qual und Drangsal leiden
manche Seele in der Hölle Glut.
Jesus spricht:
Nun kommt, meine viellieben Kinder,
die ihr von meinem Vater gekommen seid, in meines Vaters Reich,
das euch für immer bereitet ist!
von Anbeginn der Welt bereitet ist!
Nun der zweite Teil, die Szene am Ostermorgen mit der Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Maria Magdalena. Zunächst wieder die bildlichen Darstellungen dieser Ostermorgen-Szene. Ich beschränke mich auf zwei Darstellungen, die in ihrer Zartheit besonders anrührend sind: bei Fra Angelico noch der Gärtner, bei Giotto der Auferstandene mit der Siegesfahne.
Es mag gewagt erscheinen, wenn man an Fra Angelicos Darstellung folgenden Gedanken knüpft: Man sieht einen wunderschönen umfriedeten Garten, einen paradiesischen Garten. Begegnen sich hier der neue Adam und die neue Eva und beginnt damit ein Neuanfang für die Menschheitsgeschichte – so wie sie auch für die Verstorbenen in der geistigen Welt durch den Auferstandenen begonnen hat? Argumente für eine solche Betrachtung gibt es. Paulus schreibt im 1. Kor 15, 45–47: «So steht auch geschrieben: ‹Der erste Mensch, Adam, wurde eine lebendige Seele›; der letzte Adam ein lebendig machender Geist. Aber das Geistige war nicht zuerst, sondern das Natürliche, danach das Geistige. Der erste Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch vom Himmel.»
Man spricht auch in diesem Zusammenhang vom Auferstandenen, auch vom neuen Adam. Und für die Kirchenväter Augustinus, Johannes Chrysostomos und Cyrill von Alexandrien war Maria Magdalena die neue Eva und gleichzeitig die erste Osterbotin. Wie stellt das ‹Innsbrucker Osterspiel› den Ostermorgen dramatisch dar?
Maria Magdalena wird in allen vier Evangelien am Ostermorgen genannt. Sowohl im Matthäus- als auch im Markus- und im Lukasevangelium gehört sie als Maria Magdalena zu den Frauen, die am Ostermorgen das leere Grab Christi finden (Mt 28,1–10; Mk 16,1–11; Luk. 24). Auch die im Lukasevangelium (Lk 7, 37–38) beschriebene Episode, nach der eine Sünderin die Füße Christi mit ihren Tränen netzte und mit ihren Haaren trocknete, bezog man auf Maria Magdalena. Sie ist es offenbar, die in unserem Osterspiel gemeint ist. Die erste, die alte Eva, die erlöst wird? Diese Umdeutung begann mit den Magdalenenpredigten von Papst Gregor dem Großen (590–604): Darin verschmilzt die von Jesu geheilte Frau aus Magdala (Luk. 8), die zu seinem Gefolge gehört, mit der namenlosen Sünderin, die Jesus in Lukas 7,36-50 die Füße salbt, und mit Maria von Betanien, der Schwester von Marta und Lazarus, die Jesus ebenfalls die Füße salbt.
Traditionell ist sie jedoch die Schwester von Martha und Lazarus (Johannes), weil sie im Johannesevangelium diese besondere Begegnung mit dem Auferstandenen hat, dieses Erlebnis des «noli me tangere». Das Osterspiel wählt jedoch eine andere Personencharakteristik, eine Mischform der Magdalenen.
Das Nikodemusevangelium im ‹Innsbrucker Osterspiel›
Maria singt:
Das Grab war leer! O weh ob meiner Tage!
Wo ist nun hin mein Trost,
der mich von Sünden hat erlost?
Der mir die Sünde vergab,
den sah ich legen in ein Grab.
[…]
Desgleichen singt sie:
Der Stein ist fürwahr weggewälzt,
der als Zeichen hingestellt war.
Sie hatten den Platz mit Soldaten belegt:
leer ist der Platz und sie sind fort.
Sodann erscheint Jesus in Gestalt eines Gärtners und singt:
Frau, was weinst du?
Wen suchst du?
Maria singt:
Herr, wenn du ihn weggetragen hast,
sag mir, wohin du ihn gelegt hast
und ich will ihn mit mir nehmen.
Jesus spricht:
Ziemt das braven Frauen,
dass sie herumlaufen wie die Knechte
so früh in diesem Garten?
Nach wem schaust du hier aus?
Maria spricht:
Warum rufst du mich an?
Ich suche den heiligen Mann,
den die Juden erschlagen haben.
Kannst du mir nichts darüber sagen?
Jesus spricht:
Fürwahr, er muss dir lieb sein,
dass du dich so quälst!
Maria spricht:
Sag, guter Gärtner,
um aller Frauen Ansehn willen,
hast du etwas von ihm gehört? Sag mir’s,
es solle dein Vorteil sein!
Jesus spricht:
Gutes Weib, ich sage es dir
in Freundschaft:
suche weiter deinen Herrn!
Maria geht weiter und singt:
Der Schmerz wächst, es zittert das Innere ob des Verschwindens meines guten Herrn,
der mich, die Lastervolle, geheilt hat,
sieben Teufel hat er aus mir getrieben.
Verschmelzung von Lukas 7 u. Lukas 8: Sünderin und die Apostolin Maria aus Magdala
[…]
Verwandlung: Jesus erscheint mit der Fahne wie bei Giotto, Maria muss sich gewendet haben während der Verwandlung beider
Jesus mit der Fahne, Maria singt:
O die Erlösung Israels,
wie hat sie geduldig ertragen den Tod!
Desgleichen singt sie:
Ach du Erlöser der ganzen Christenheit,
warum erleidest du den bitteren Tod so geduldig?
Jesus singt:
Maria!
Da muss sie sich wieder gewendet haben
Maria singt:
Rabbi! Rabbi! Das heißt: Meister.
Jesus singt:
Das erste Kleid freilich hat
nur körperliche Hilfe euch gebracht
indem es sich nur zeigen konnte
in gewöhnlicher und natürlicher Weise. […]
Er weist also auf seinen anderen, neuen Leib hin
Jesus singt:
Diese Gestalt ist der früheren nicht
gleich, diese ist unzerstörbar.
Damals war sie noch leidensfähig,
sie wird nicht mehr zu zerstören sein.
Rudolf Steiner sagt in diesem Zusammenhang, dass sich da erhoben habe «aus dem Grabe: das reine Phantom des physischen Leibes, mit allen Eigenschaften des physischen Leibes. […] Denken wir uns den aus dem Grabe erstandenen Leib des Christus, so können wir uns vorstellen: ebenso wie von dem Leibe des Adam abstammen die Leiber der Erdenmenschen, insofern sie den zerfallenden Leib haben, so stammen ab von dem, was aus dem Grabe auferstand, die geistigen Leiber, die Phantome für alle Menschen.»5
Das Nikodemusevangelium im ‹Innsbrucker Osterspiel›
Maria singt:
Heiliger, Starker!
Jesus singt:
So rühr mich denn nicht an (Ergo noli me tangere)
und wehklage nicht weiter
über den, den du bald in lauterem Licht
zum Vater auffahren sehen wirst.Maria singt:
Heiliger, Unsterblicher,
erbarme dich unser!
Jesus spricht:
Friede und Erbarmen sei mit dir!
Du wolltest dich nie abwenden von mir,
darum ist dir das Glück geschehen,
dass du mich als Erste hast gesehen.
Maria geht zurück und singt:
Wahrhaft ich sah den Herrn lebendig vor mir.
Sich wenden und den Blick öffnen
Zum Abschluss ein Blick auf eine moderne Sicht dieses «noli me tangere», die mit der Darstellung im ‹Innsbrucker Osterspiel› zusammengeht. Auch hier geht sie an ihm vorbei. ‹Magdalena am Grab› von Patrick Roth.6 Seine Sicht auf die Auferstehung, auf Magdalena am Grab. Ich fasse seinen Text zunächst zusammen und zitiere ihn dann mit einigen Kürzungen: Sie kommt ans Grab, es ist leer. Sie wendet sich, geht zurück zu den Jüngern. Wendet sich wieder, geht zurück zum Grab. Die Engel sprechen zu ihr: Was weinst du. Sie wendet sich um. Das ist die dritte Wendung: Sie sieht jemanden, den sie nicht erkennt, obwohl er sie anspricht: Jesus.
So, und jetzt der Moment, den die Bibel überspringt: Magdalena geht an ihm vorbei. Hier muss es einen Moment gegeben haben – in diesem Vorbeigehen – da beide, Jesus und Magdalena, voneinander abgewandt standen. Er sah ins Grab, wo sie – die Vorbeilaufende – noch eben vor ihm gestanden hatte. Und sie, den Rücken zu ihm, stand suchend. Abgewandt voneinander standen sie. Und was bedeutet das? […] Für wen stehen die beiden – abgewandt voneinander, ohne Sicht aufeinander? Gott und Mensch – das ist der Moment – sehen einander nicht mehr. Stehen auseinander-gestellt. Aber jetzt: jetzt wendet sich etwas. Denn das Vorbeilaufen erst der Magdalena lässt Jesus sich wenden. Er dreht sich um nach ihr. Er muss sich gewandt haben, als er ihren Namen aussprach: ‹Maria›. Hier – erst bei dieser Namensnennung (einer Taufe) – setzt die Bibel wieder ein und sagt, dass Magdalena sich wandte. Es ist das vierte und entscheidende Mal, dass sie sich wendet und in diesem Sich-Wenden: verwandelt wird […].
Das heißt, sie wird von einer, die ihn nicht mehr kannte, nur lebend den Toten suchte, ihm ‹tot› war, verwandelt in eine, die ihn erkennt – ihn zum zweiten Male ‹gebiert›: denn hier erst, in den Augen dieser leibhaftig sehenden Frau, kommt er zur Welt, als Auferstandener jetzt. Und damit wird Magdalena selbst zu einer Auferstandenen – in diesem ihrem Moment der Bewusstwerdung.
Aber auch er hat sich in diesem Moment des Wiedererkennens verwandelt: Er ist nicht mehr der dunkle Gott, der sich nicht zu erkennen gibt, der fremd vor ihr, dann abgewandt von ihr stand, sondern jetzt ist er der Erkannte. Und Magdalena ist erst darin – durch diesen Moment des Erkanntseins – auch auferstanden.
Jesus selbst, das ist so wichtig, und eben das ist an dieser Stelle ausgelassen, übersprungen worden: Jesus selbst ist ein ‹Sichgewandthabender›. Er wendet sich – noch bevor Maria von Magdala sich wandte.
Sie zwingt ihn dazu. Wodurch? Durch ihr ‹Fehlen›, das heißt: durch ihr Am-Ziel-Vorbeigehen zwingt sie ihn – oder lässt er sich zwingen zur Wendung. Aber wie geht sie? Fühlend-suchend geht sie. Und ist darin mit dem Ziel der Suche immer verbunden, auch im Fehler noch, im Fehlgehen selbst. Gott wandelt sich, sagt dieses Bild, durch unser Suchen nach ihm, ja selbst durch unser An-ihm-Vorbeigehen noch: wandelt er sich, um sich nach uns zu wenden nämlich, in seinem Verlangen zu sehen, das heißt: bewusst gesehen zu werden. Die vierte Wendung der Magdalena – die entscheidende –, das ist die Magdalenensekunde. […] Magdalena sieht und wird gesehen und er ebenso: Er sieht und wird gesehen.»7
Footnotes
- Die Ausführungen beruhen auf einem Vortrag des Verfassers, gehalten am 6.4.2022 im Zweig Engelberg der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland.
- Apokryphen zum Alten und Neuen Testament. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Alfred Schindler. Zürich 1988, S. 534.
- Rudolf Steiner. GA 118, S. 151 f.
- Das Innsbrucker Osterspiel. Herausgegeben und übersetzt von Rudolf Meier. Stuttgart 1962.
- Rudolf Steiner. GA 131, S. 167.
- Patrick Roth, Mulholland Drive: Magdalena am Grab. In: Ins Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt 2002. S. 75–111.
- Ebd. S. 109 ff.