Bernd Ruf hat die Notfallpädagogik innerhalb der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners entwickelt. Er war in vielen Krisengebieten der Welt unterwegs, um Kindern einen Lichtblick zu ermöglichen. Gilda Bartel sprach mit ihm über den Umgang mit Krisen, die Notwendigkeit von Irritationen und den Moment der Wachheit.
Was ist für Sie persönlich irritierend in diesen Zeiten?
Die aktuelle Coronavirus-Pandemie und die ergriffenen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben innerhalb von wenigen Wochen das Alltagsleben von Individuen, Familien, Einrichtungen und ganzen Sozialsystemen in zuvor unvorstellbarer Weise verändert. Viele Menschen sind über die unsichtbare Bedrohung und ihre Folgen verunsichert und massiv verängstigt. Manche Psychologen sprechen bereits von einer kollektiven Psychose. Obgleich mir die innerpsychischen und sozial-gesellschaftlichen Dynamiken in kollektiven Krisensituationen bekannt sind, bin ich doch über die Geschwindigkeit der offensichtlichen Zerfallsprozesse überrascht. Mich irritiert der blitzartige Zusammenbruch individueller und gesellschaftlicher Wertvorstellungen, die gezielte Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen und der ‹Glaubenskrieg›, der offensichtlich keine Pluralität mehr zu akzeptieren bereit ist. Alle Zeichen deuten auf einen Kulturkampf, dessen Zentrum die Frage nach dem Wesen des Menschen bildet. Wir leben in einem Schwellenzeitalter, auf dessen Risiken und Chancen Rudolf Steiner immer wieder hinwies.
Welches sind die Kriterien, um gut durch Krisen zu kommen?
Es sind weniger die äußeren Ereignisfaktoren, die seelische Belastungen zu psychischen oder psychosomatischen Krankheiten werden lassen. Viel entscheidender sind die Individual- und Umweltfaktoren des betroffenen Menschen. Bedeutend ist nicht nur, was geschah, sondern auch, wie es erlebt wurde. Ob ein Ereignis traumatisch wirkt, hängt entscheidend damit zusammen, inwieweit der oder die Betroffene in der Lage ist, mit der Belastung umzugehen.
Es gibt Kriterien, die die Bewältigung eines Psychotraumas negativ beeinflussen und für Traumatisierung anfällig machen. Es gibt aber auch Schutzfaktoren. Zu ihnen zählen eine behütete Kindheit, physische und psychische Stabilität, gut bewältigte Erfahrungen der Vergangenheit, Positivität, Kohärenz, Sinnfindung, spirituelle und religiöse Verwurzelung, stabiler Selbstwert, verlässliche Beziehungen und das Eingebundensein in tragfähige soziale Netzwerke.
Wo sehen Sie den Unterschied zu den Krisengebieten, die Sie bereist haben, und der derzeitigen Krisensituation durch Corona?
Corona traumatisiert kollektiv. Die psychosozialen Auswirkungen sind bisher nur andeutungsweise zu erschließen, zumal wissenschaftliche Forschungsergebnisse über die traumatischen Folgen von Epidemien nicht vorliegen. Gleichwohl waren natur- und menschengemachte Katastrophen Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Diese zeigen, dass von einer dramatischen Zunahme von Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Aggressionsdurchbrüchen, Posttraumatischen Belastungsstörungen, Dysthymie, Alkoholismus und anderen Suchtproblemen, Somatisierungen sowie Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen auszugehen ist.
Interessanterweise weist das aktuelle weltweite Infektionsgeschehen sowohl Merkmale einer Naturkatastrophe als auch Merkmale einer von Menschen verursachten Katastrophe auf, da die zur Bekämpfung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen ebenfalls erhebliches Traumapotenzial in sich bergen. Naturkatastrophen führen innerhalb der betroffenen Bevölkerung fast immer zu Zusammenhalt und Solidarität. Menschen suchen Sicherheit und Trost in menschlicher Nähe. Bei von Menschen verursachten Katastrophen (Kriegen, Terroranschlägen, Vertreibung, Kriminalität usw.) kommt es dagegen in der zwischenmenschlichen Kommunikation häufig zu Spaltungserscheinungen. Dieses Spaltungsgeschehen geht natürlich auch an den anthroposophischen Einrichtungen nicht vorbei. Die Menschen neigen zu vermehrter Kritik, gegenseitigen Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen sowie zum Denunziantentum. Auch die Scheidungsraten innerhalb der Bevölkerung steigen. So sind in Deutschland während des Lockdowns in der Corona-Krise die Scheidungszahlen rasant in die Höhe geschnellt.
Was machen wir aus dieser Situation? Und welche Rolle spielen Aufwachmomente?
Als Friedrich Schiller einmal eine Phase künstlerischer und geistiger Unproduktivität durchlebte, schilderte er seinen leidvollen Zustand in einem langen Brief an seine Frau, der mit dem Ausruf endet: «Ich bedarf einer Krise».
In der Psychologie werden biografische Übergänge, in denen Zustände des Gewohnten und Haltgebenden zugunsten neuer Erfahrung verlassen werden, als Lebenswendekrisen bezeichnet.
Krisen sind nicht nur Bedrohungen, sondern auch Chancen. Nach einer Traumaheilung orientieren die Betroffenen ihr Leben neu, setzen neue Prioritäten. Religiöse und spirituelle Orientierungen gewinnen an Bedeutung, ebenso die Vertiefung menschlicher Beziehungen. Traumata bergen nicht nur Destruktionspotenzial. Nach der Bewältigung der traumatischen Erfahrung tritt statt einer Verdrängung und Abspaltung eine Persönlichkeitsreifung ein. Man spricht dann von einem ‹posttraumatischen Wachstum›. Aus diesem Aufwachmoment bzw. der Überwindung des Pandemietraumas können konkrete Handlungen resultieren. Beispielsweise Leuchtturmprojekte, die Bildung von Kulturoasen, die Überwindung des Materialismus oder die Bildung neuer Netzwerke zur Stärkung zwischenmenschlicher Beziehungen und Wertevorstellungen. Damit können diese Situationen bei entsprechender Bewältigung zu einer Persönlichkeitsreifung führen und auch im kollektiven Corona-Trauma Perspektiven bieten.
Die Irritationen in der Krise können Aufwachmomente sein. Das ist bei der Corona-Krise nicht anders. Für viele Menschen sind die bedrohlichen und bedrängenden aktuellen Zeitereignisse auch Momente der Besinnung und Neuorientierung bezüglich ihres individuellen Lebens, ihrer sozialen Beziehungen, ihres gesellschaftlich-politischen Engagements und ihrer spirituell-religiösen Orientierung. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach zur Corona-Pandemie im März letzten Jahres davon, dass die Welt nach dieser Krise eine andere sein würde. Und fügte hinzu, dass es von uns allen abhänge, in welcher Welt und in welcher Gesellschaft wir dann leben werden. Wir sollten diese Herausforderung der Corona-Krise aktiv annehmen und versuchen, die Krise in eine Chance für die weitere Entwicklung zu verwandeln