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Neues Sehen

Die Ausstellung ‹Renaissance in München› (18.10.2018 bis 27.1.2019) regt dazu an, sich wieder auf die eigene Nachdenklichkeit einzulassen.


Wir nennen sie Renaissance – Wiedergeburt –, die Epoche, in der das Sehen neu erfunden wurde. Unsere Weltanschauung hängt buchstäblich von den Bildern ab, die wir uns machen. Diese Bilder wiederum unterliegen der Einsicht in unsere eigene Seele. Wenn man hinauswächst über sich, wenn sich neue seelische Fähigkeiten ausbilden, dann wird dieses Potenzial vital. Geistesgegenwart ergreift uns bis ins Leibliche, der innere Entwurf bildet neue Augen aus. Plötzlich wird ein Stück Welt vor unseren Augen neu. Etwas, das wir vielleicht tausendmal gesehen haben, scheint anders, als es je gewesen ist. Dabei hat sich nichts verändert, nur unser Blick darauf. Er ist es, der die Welt wandelt. Was der Einzelne in seinem individuellen Lebenslauf erfährt, das macht die Menschheit in größeren Zeitabständen durch. Ihre Sehgewohnheiten ändern sich. Aktuell stehen wir in einer Umbruchphase, deren Bedeutung nicht weniger entscheidend ist als die Schwelle vor rund 500 Jahren, als das Zeitalter der Renaissance anbrach. Unsere geblendeten Bildschirmaugen, mit denen wir auf undurchdringliche Oberflächen starren, sehnen sich nach Tiefe und Erfrischung. Die Natur unseres Sehsinns zeigt sich tief erschöpft. Auch wenn wir die Augen weiden in Wald und Wiese, im natürlichen Grün, kaum fällt der Blick wieder in die Menschenwelt – ob in die kleine private oder in die politische –, dann ist es dort vor allem Wunde, was wir sehen. Wundheit der Menschen- und Weltbilder, vor der wir hilflos stehen. Doch wenn der eigene Blick nicht heilsam darauf fällt, wie soll das gut oder wenigstens besser werden, was uns als Welt erscheint? Das ist die Frage nach dem Kunstwerk.

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Eigentlich hat sich nichts verändert, nur unser Blick darauf. Er ist es, der die Welt wandelt.

Leben wir wieder in einer Renaissance?

Was einst der epochale Gestaltwandel der Renaissance war, in der Besinnung auf die Antike Ebenmaß und Harmonie wiederzugewinnen und daraus eine neue Sichtweise zu kreieren, das steht uns heute bevor. Damals war es die Erfindung der Zentralperspektive, der beherzte Zugriff auf die Menschengestalt im irdischen Geschehensraum. Mit Entdeckergeist und Unternehmungslust sich zu lösen vom vorliegenden Weltbild, dem kosmischen Goldgrund, vor dem der Mensch nur zweidimensional erscheinen konnte. Nun galt es den individuellen Weltraum ins Auge zu fassen, im Bild die dreidimensionale Plastik des Erlebens zu realisieren. Unsere aktuelle Lage sieht überraschend ähnlich aus. Am Bildschirm scheint die Welt wieder Fläche geworden. Vor dem Goldgrund der technischen Zivilisation – in ihr spielen magische, undurchschaubare Prozesse, die nur Programmierer, als wären sie Hohepriester, verstehen –, da kommt sich der Einzelne wieder klein und verloren vor. Die Frage ist: Wie gewinnen wir eine neue Zentralperspektive, in der das Menschliche wieder zum Maßstab wird. Dazu müssen wir die Befangenheit unserer Blicke überwinden.

In München bietet sich bis 27.1.2019 eine großartige Gelegenheit: die Ausstellung ‹Florenz und seine Maler. Von Giotto bis Leonardo Da Vinci› in der Alten Pinakothek. Nicht dem wehmütigen Blick zurück, der vergangene Schönheit betrauert, ist diese Schau gewidmet, sondern der Geistesgegenwart. Sich im Selbstbewusstsein vor diesen jahrhundertealten Gemälden zu erfahren. Florenz war zur Zeit der Frührenaissance eine Metropole mit 35 000 Einwohnern. Für die Machthaber und Mäzene, die Medici-Familie, war die Förderung der Künste, des Humanismus ‹Ehrensache›, es gehörte zu ihrem Selbstverständnis von Würde. Eine idealtypische Situation, in der die Künste aufblühten. Bildhauerei und Malerei traten in einen innigen Wettstreit, in der Erfassung der menschlichen Gestalt konkurrierten sie um die Meisterschaft. Auch die Künstler selbst gewannen eine neue Identität, aus den vormals anonymen Handwerkern wurden sie zu namentlichen Schöpfern. In der Ausstellung werden rund 120 Meisterwerke präsentiert, neben dem umfangreichen Bestand der Pinakothek wurden sie aus aller Welt zusammengetragen. Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen (u. a. Giotto, Fra Angelico, Lippi, Botticelli, Ghirlandaio, Leonardo), wie man sie in dieser Dichte und Qualität sonst nur in Florenz selbst zu sehen bekommt.

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Was einst der epochale Gestaltwandel der Renaissance war, in der Besinnung auf die Antike Ebenmaß und Harmonie wiederzugewinnen und daraus eine neue Sichtweise zu kreieren, das steht uns heute bevor.

Die Schau beginnt mit Giotto, der im 14. Jahrhundert die malerischen Voraussetzungen für die neue Epoche schafft. Drei Tafeln eines Altarbildes (ca. 1303/06–1312/13), ‹Das letzte Abendmahl› – ‹Christus am Kreuz› – ‹Christus in der Vorhölle›, weisen zwar noch den Goldgrund auf, doch deutlich wird die Bildung von Räumlichkeit und eine lebendige innerseelische Figurendarstellung. In den ersten Sälen begegnet man Madonnenbildnissen von Fra Angelico und Filippo Lippi. Wesentlich der Andacht gewidmet, erscheint hier die Verehrung der Gottesmutter in der Größe ihrer Menschlichkeit. Ihr einen individuellen Ausdruck zu verleihen, dieses Motiv wird in den folgenden Verkündigungsbildnissen weitergeführt. Während die sitzende Madonna den Blick des Betrachters neben den Details der Gegenstände, der Gewandung, vor allem auf Gesicht und Hände lenkt, in der innigen Begegnung zwischen ihr und dem Kind, sehen wir sie jetzt stehend, in ihrer jungfräulichen Gestalt, in einer architektonisch gebildeten Umgebung. Nicht länger im abgeschlossenen mittelalterlichen Garten, sondern die menschliche Umgebung, in der sie erscheint. Durch räumliche Gliederung wird der Blick vom Haus über den Garten bis zum Horizont vermittelt. Damit ist der Betrachter im Bild eingeborgen. Er wird Teilnehmer der malerischen Erzählung. Zwischen zwei Gemälden entsteht hier ein überraschender Dialog.

 


Anbetung der Heiligen drei Könige von Sandro Botticelli, 1476

Anbetung der Heiligen drei Könige von Sandro Botticelli, 1476

 

Was wir heute schmerzlich entbehren

Die großformatige ‹Verkündigung Mariae› von Filippo Lippi (ca. 1443/45) fordert den Betrachter in geradezu moderner Weise heraus, zu entscheiden, was er sieht. Ist diese kniende Figur mit der Lilie in der Hand und der Blumenkrone im Haar noch ein Engel oder schon eine weibliche Menschengestalt? Man wird an manche Titel von Paul Klees bekannten Engelbildern erinnert (noch werdende Engel). Trägt dieses Wesen tatsächlich Flügel oder gehören die hinter der Gestalt hervorschwingenden Pfauenfedern doch zum kreatürlichen Bereich des Gartens, in dem ein verborgener Pfau spazieren geht? Maria wiederum, in der Hülle ihres blauen Mantels ganz bei sich, lässt sich als mittelalterliche Ikonografie lesen, aber ebenso öffnet sich auch ihr Gestaltausdruck zart ins Zukünftige. Die Anschauung solcher Art und Weise der Nachdenklichkeit, der Versonnenheit, in der sie ruht, gemahnt eindrücklich an all das, was wir aktuell so schmerzlich entbehren. Staunen, Stille, das Lauschen nach innen als eine leibliche Haltung, eine körperliche Einrichtung der Welt, die das Leben des Geistigen als Realität erst erfahrbar macht.

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Eine ‹Haltung›, die uns abhandengekommen ist: die Freiheit der Persönlichkeitskraft, einen Standpunkt einzunehmen, der nicht die Wege des Gegenübers versperrt, sondern sie im Dialog eröffnet.

Noch höhere Ansprüche an den Blick des Betrachters scheint das kleinformatige Verkündigungsbild von Lorenzo di Credi zu stellen (ca. 1490). Der Garten im Hintergrund ist mit wenig Zierrat ausgestattet, nüchtern, von formvollendetem Schnitt die Gewächse. Dem Engel kommt hier eine ganz besondere Bildaussage zu. Er tanzt. Was diesen tanzenden Verkündigungsengel so anrührend macht, das ist seine Haltung dem Menschenwesen gegenüber. Dieser Engel ist ganz Hingabe, er schmiegt sich an in seiner Zuneigung zu Maria. Sie ist es, die ihn bewegt. In ihrer Heiterkeit, der Offenheit, mit der sie dem Engel begegnet, scheint ein gänzlich unbefangenes Selbstbewusstsein auf. Auch hier wieder eine ‹Haltung›, die uns aktuell abhandengekommen ist. Die Freiheit der Persönlichkeitskraft, einen Standpunkt einzunehmen, der nicht die Wege des Gegenübers versperrt, sondern sie im Dialog eröffnet. Lorenzo di Credi kommt in der Ausstellung der Pinakothek ein besonderes Gewicht zu. Er ist in beinahe jedem Saal mit einem Werk vertreten. Als Mitschüler von Leonardo da Vinci, zeitgleich in der Lehre beim Maler und Bildhauer Andrea del Verrocchio, wird di Credi oft im Schatten des Genies Leonardo gesehen. In München begegnet man ihm in seiner Vielseitigkeit und der Eigenwilligkeit seiner Kunstwerke, vom Verkündigungsbild zu Beginn bis zum Ausgang, wo sich noch einmal ein Porträt der Gottesmutter von ihm findet. Das Gemälde von 1480/90 zeigt Maria mit dem Kind in einer ganz unprätentiösen irdischen Szenerie. Die Madonna sieht bäuerlich schlicht aus, ihr Gewand ist geöffnet, man sieht die Brust, sie ist im Begriff, ihr Kind zu stillen. Auf halbem Weg durch die Ausstellung finden sich einige Zeichnungen – wiederum von di Credi, eine wunderschöne Gewandstudie, deren Licht- und Schattenspiel im Faltenwurf an Kunstfertigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Daneben eine Zeichnung von Fra Bartolommeo, ‹Bildnis eines bärtigen Mönches› (ca. 1512) – schwarze Kreide auf Papier. Atemberaubend, so sprechend ist der gezeichnete Blick, der dem Betrachter, wenn er sich davon treffen lässt, tief in die Seele dringt. Ebenfalls auf halber Strecke stößt man auf die sogenannte Florentiner ‹Nelkenmadonna› – das einzige Gemälde von Leonardo da Vinci, das sich in Deutschland befindet und aus dem Bestand der Pinakothek stammt. Hier hat man einmal Gelegenheit, den Meister ganz in Ruhe aus der Nähe zu studieren, sich zu versenken in die Vollkommenheit seiner Malerei.

Ein kleiner Flur ist den Skulpturen gewidmet. Wir sehen hier einen tanzenden Putto aus Bronze, vor dem man nicht anders kann, als beste Laune zu bekommen, so ungeheuer fröhlich beschwingt und ansteckend ist sein Schwung – trotz seines Alters, er stammt von 1429. Er kommt aus dem berühmten Bargello-Museum in Florenz, ebenso wie die Marmorbüste eines jungen Mannes. Man kann lange darüber nachsinnen, was dieses Jungengesicht, das leere Augenhöhlen hat, so lebendig macht, dass man ihn blicken sieht. Er ist aus Stein, doch fortwährend seit 500 Jahren beseelt und belebt – ein Angesicht aus Kunst, die nicht vergeht.

Schüler führen Schüler

Zum ersten Mal seit der Antike werden in der Renaissance wieder lebende Personen porträtiert. Gewöhnliche Sterbliche, individuelle Menschen, denen in der beginnenden Zeit des Selbstbewusstseins so eine ganz neue, eigene Würde zukommt. Damit geht auch eine veränderte Erzählweise des Geistigen, der biblischen Geschichten einher. Auch dieses vermittelt die Schau. Zwar durfte das Hauptwerk von Fra Angelico, der berühmte Hochaltar von San Marco, Florenz natürlich nicht verlassen, dafür gelang es, die sogenannten Predellentafeln aus dem Sockelgeschoss, die sich sonst an getrennten Orten befinden – in Museen von Dublin bis Washington zerstreut –, erstmals zusammenzuführen. So kann man mit eigenen Augen nachvollziehen, wie sich diese Bildtafeln lesen lassen. Wie sie wie ein Fries eine fortlaufende Handlungschronologie vermitteln und zugleich die Schilderung simultan stattfindender Geschehnisse möglich machen. Es ist die Geschichte vom Leben und Sterben der heiligen Cosmas und Damian. Beide Brüder waren Ärzte, sie starben den Märtyrertod und waren die Namenspatrone für die Medici-Zwillingsbrüder Cosimo und Damiano.

Das Goldene Zeitalter in Florenz endete mit dem Tod von Lorenzo de Medici, genannt ‹il Magnifico›. Doch die Bilder dieser Zeitspanne erzählen jeder Generation etwas von Schönheit, das zur Neugeburt beitragen kann. Letzteres ist natürlich die Frage der Rezeption, vor allem in Bezug auf jüngere Menschen. Es ist immer wieder ein etwas schmerzlicher Anblick, wenn man die Besucher mit ihren Kopfhörern vor den Bildern beobachtet. Man hat kaum den Eindruck, dass ihnen staunend die Augen aufgehen. Es wird unentwegt souffliert, was man sehen soll, und offenbar ist diese Sinnessynergie sehr anstrengend. Sie hören mit angespannter Konzentration und sehen ein bisschen leidend aus. Wie viel schöner ist das Gespräch von Mensch zu Mensch und ganz besonders, wenn es auf Augenhöhe stattfindet. Im Begleitprogramm findet sich eine wundervolle Veranstaltungsidee: ‹Ich zeige dir Florenz. Schüler führen Schüler durch die Ausstellung›.

Dazu ist die 11. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule München-Schwabing extra nach Florenz gefahren, um nun beim Ausstellungsbesuch die vor Ort gemachten Kunsterfahrungen an andere Schüler zu vermitteln. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie gern die Schüler zur Abwechslung lieber ihren Altersgenossen als ihren Lehrern lauschen … die Veranstaltung ist auch schon lange ausgebucht. Man darf hoffen, dass Einfälle wie dieser Schule machen, dass auch Vermittlung von Kunst wieder künstlerischer, origineller wird.


Ein reich bebilderter Katalog zur Ausstellung, der alle Exponate ausführlich vorstellt, erscheint im Hirmer-Verlag. Ca. 320 Seiten, 170 Abbildungen, für 34.90 Euro.

Titelbild: ‹Verkündigung Mariae› von Filippo Lippi, ca. 1443/45, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München

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