Die Polykrise ist die Signatur unserer Gegenwart; anscheinend stehen wir in einer Zerreißprobe. Was will da zerreißen?
Gewöhnlich bin ich überfordert, wenn die äußeren Umstände für mich zu unordentlich werden. ‹Das› muss dann wieder in Ordnung kommen, damit ich mich wiederfinde. Wenn es aber umgekehrt wäre, nicht die Welt mich durcheinanderbrächte, sondern ich die Welt? Vielleicht heißt Polykrise, dass viele Ichs (wie ich) an einem Wendepunkt stehen, ohne zu wissen, wer sie sind. Vielleicht zerreißt der Schleier um unsere Augen, mit dem wir die Welt von uns trennen konnten. Ich will erkennen, wer ich bin. Ich will ich sein. Ich will als Ich verbunden sein. Das ist die Klarheit, die ich suche. Sie schaut nicht zum Vergangenen. Sie befragt mein verschleiertes Sein.
Es ist schwierig, mit dem Selbstverständlichen zu brechen und so einen Teil unseres Selbstbildes aufzubrechen. Es ist schwer, die eigene Sprache, die ich so tief bin, zu überdenken, ‹nur› aus Rücksicht auf andere. Vor allem, wenn die anderen abstrakte Kategorien sind. Aus der Ferne kann ich meinen und recht behalten. In der Nähe vergeht das Recht, um zur Wahrheit zu werden, und umso mehr werde ich mir wahr.
Kae Tempest – kunstschaffend und selbst transident – sagte dem ‹Guardian› 2022: «Transpersonen werden auf eine befremdliche Art und Weise benutzt, um die tiefe Angst der Menschen vor anderen Dingen auszudrücken […]» und: «Ich verstehe nicht, wie mein Körper, unsere Körper, zum Kriegsgebiet geworden sind.»
Der Mensch in seinem Körper ist heute wie ein Fremdkörper. Seine Beziehung zur Erde ist frei. Die Schwerkraft ist verloren – das, was uns ordnend auf die Füße stellte. Kämpfen wir um etwas, das uns das Gewicht, die Bedeutung unserer Körper, und damit die Ordnung, zurückgibt? Und wenn es uns nicht gelingt, versuchen wir, uns der anderen Körper zu bemächtigen?
Liebe wird zur Schwerkraft, die uns in der Freiheit verwurzelt. In der Freiheit, zu sein, was wir waren, sind und werden, wird sie uns zusammenhalten. Sie zeigt uns, was es ist, das wir waren, sind und werden. Die moralischen Leitsterne der Zukunft sind keine Gesetze, sondern Gebete, die sich entfalten. Wie Kae Tempests Wort: «I can feel myself opening up […] Let me be love, let me be loving, let me give love, receive love, and be nothing but love. In love and for love and with love.» (‹Grace› 2022)
In Liebe, für die Liebe, mit Liebe.
Skizze Fabian Roschka