Der Tod Rudolf Steiners hat in der zeitgenössischen Presse ein beträchtliches Echo hervorgerufen. Wolfgang G. Vögele hat die Nachrufe gesammelt und zeigt so das damalige öffentliche Bild von Rudolf Steiner.
Die von Herausgeber Vögele getroffene Auswahl reicht von der ‹Frankfurter Zeitung› über den ‹Völkischen Beobachter› bis zur ‹Roten Fahne›, von christlich-konfessionellen Organen bis zu einer Notiz im ‹Zentralblatt für Okkultismus›. Unter den Verfassern finden sich auch damals durchaus prominente Persönlichkeiten wie Siegfried Kracauer, Friedrich Lienhard, Paul Gloning, Karl Beth oder Theodor Kappstein. Manche der Nachrufe, besonders aus konfessionellen Lagern, sind bis zur Unerträglichkeit polemisch, manche erstaunlich differenziert, viele von Unverständnis geprägt.
Man sollte diese Sammlung nicht einfach als Ausdruck einer mehr oder weniger ausgeprägten Gegnerschaft abtun. Denn sie gibt einen interessanten Einblick in die chaotische Zwischenkriegszeit, in der, wie der scharfe Steiner-Kritiker Kracauer sicherlich zu Recht feststellt, ein großes geistiges Vakuum geherrscht hat: «Der fruchtbare Moment der anthroposophischen Bewegung fällt genau in die Jahre der Revolution, in jene Zeit also, in der größere Schichten des Volks sich jeden Halts im Irdischen und Jenseitigen beraubt fühlten.» (S. 30)
Ein Blick zum Beispiel in die 2021 im Rudolf Steiner Verlag erschienene große Bildbiografie macht deutlich, wie sehr Rudolf Steiner nach Ende des Ersten Weltkrieges bis Anfang der 1920er-Jahre eine öffentliche Person war. Dies schlägt sich natürlich auch in den Nachrufen wieder: Steiners Begegnungen mit Politikern in Sachen Dreigliederung, die aus der Dreigliederungsbewegung hervorgegangenen wirtschaftlichen Unternehmungen und deren Scheitern, seine Nähe zu General von Moltke, die Gründung der Waldorfschule, vor allem aber die von einer Konzertagentur organisierten Vortragsreisen mit zum Teil überfüllten Sälen. Bemerkt wird Steiners Rastlosigkeit. Seine Anschauungen werden oft als bloßer Synkretismus und sein Wirken auf fast allen Lebensgebieten als heilloser Dilettantismus begriffen. Viele gehen davon aus, dass die Anthroposophie nach Steiners Tod keine Zukunft haben werde.
Vermittelnde Stimmen bemerken, «wie leicht es in unserer deutschen Publizistik genommen wird, über Menschen und Dinge auch dann zu urteilen, wenn man sich noch nie ernsthaft damit beschäftigt hat» (S. 24), was leider bis heute zutrifft. Oder sie sehen eine positive Bedeutung der Anthroposophie in der Anleitung zur «Pflege der seelischen Kräfte und Anlagen». (S. 157)
Manche der Nachrufautoren haben noch den ‹vortheosophischen› Steiner als Lehrer der Arbeiterbildungsschule oder Redakteur des ‹Magazins für Litteratur› erlebt, mit dem sie zusammen in der Kneipe gesessen haben. Es ist nicht unbedingt verwunderlich, dass sie dem ‹neuen› Steiner nicht folgen mochten, ihn als abgehoben wahrnahmen – letztlich als Verräter an der gemeinsamen sozialistischen Sache. Aus dem Nicht-Verstehen entstand schnell der Vorwurf des Schwindels oder – so der vielleicht nicht immer unberechtigte Vorwurf an Steiners Anhänger – die Behauptung von besonderer Tiefe.

Auch die Erscheinung Steiners ist immer wieder Thema. Er wurde bis in seine Kleidung wohl ähnlich skurril erlebt wie ein halbes Jahrhundert später Joseph Beuys. Ein Beispiel: «Wenn man die kleine, schmächtige, lederpigmentierte, auffallend schwarz drapierte Gestalt auf der Rednertribüne sah und eine sonst allen fremde Weisheit künden hörte, so möchte man wohl für einen Augenblick erwägen, ob da eine Gaukelei auf spirituellem Gebiete vorgeführt wurde.» Dass dies von Karl Beth nicht einfach polemisch gemeint ist, zeigt der folgende Satz: «Aber es war doch nur der kleinste Bruchteil seines Verhaltens, der an Cagliostro gemahnte.» (S. 154) Manche der Nachrufe bleiben bei dem Vergleich mit Letzterem allerdings stehen. Steiners Redeweise wird von den einen als suggestiv und hypnotisierend, von anderen als staubtrocken charakterisiert.
Ebenso skurril muss auf viele Steiners ‹Anhängerschaft› gewirkt haben, in der, wie häufig betont wird, vor allem Frauen zu finden waren. Solche Urteile kann man despektierlich finden. Man kann sich aber auch fragen, wie diese von Vortrag zu Vortrag pilgernden, durch Steiners Präsenz ergriffenen und zugleich oft sicherlich heillos überforderten Menschen auf uns Heutige gewirkt hätten.
In seiner Einleitung gibt der Herausgeber Wolfgang G. Vögele eine knappe Charakteristik und Einordnung und stellt seine Auswahlkriterien dar. Interessant ist vor allem seine Bemerkung zur zeitgenössischen Wortwahl: «Steiner als ‹Führer›», die für heutige Ohren befremdlich klingt, damals aber oft gleichbedeutend mit ‹Leiter› oder ‹Vordenker› verwendet wurde. Steiner habe diese Bezeichnung für sich jedoch abgelehnt.
Buch Wolfgang G. Vögele (Hrsg.): Rudolf Steiner in Nachrufen. Von der Frankfurter Zeitung bis zur Roten Fahne. Info3-Verlag, Frankfurt 2024.