Nach der Brandnacht

Der Rauch an der Brandruine des Goetheanum war kaum verflogen, da sagte Rudolf Steiner: «Und ich hoffe natürlich, dass in keiner Richtung hier irgendeine Unterbrechung eintritt.» So wurde der Brand zu einer Zäsur in der Entwicklung der Anthroposophie und nicht zu einem Hindernis.


Rudolf Steiner war von der Brandnacht gezeichnet, auch er. «Man fühlt, wenn man mit dem Bau in Liebe verbunden war, die unbarmherzigen Flammen schmerzend durch die Empfindungen dringen, die in die ruhenden Formen und in die darin versuchte Arbeit sich ergossen haben», schrieb Steiner in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›.1 Trotz der dramatischen Geschehnisse der gesamten Nacht und des Anblicks einer «ausgebrannten Stadt» (I. Rennefeld) ließ Steiner am Neujahrstag die unter Wasser stehende, von Ruß, Schmutz und Gestank erfüllte Schreinerei aufräumen, um am Abend den Kurs ‹Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft› fortführen zu können. «Sie können […] überzeugt sein, ich selber werde mich von meinem Wege niemals abbringen lassen, was auch geschieht. Solange ich lebe, werde ich meine Sache vertreten und werde sie in derselben Weise vertreten, wie ich sie bisher vertreten habe. Und ich hoffe natürlich, dass in keiner Richtung hier irgendeine Unterbrechung eintritt», sagte Steiner am 5. Januar 1923 zu den Arbeitern am Goetheanum.2 Keine ‹Unterbrechung› der anthroposophischen Arbeit am Ort sollte eintreten – trotz des Infernos. Denn genau um diesen Abbruch sei es den Gegnern der Anthroposophie und des Baues gegangen.3

Nicht Larmoyanz und Anklage waren gefragt, sondern etwas ganz anderes. Rudolf Steiner hielt keinen Vortrag mehr, in dem er auf die aversiven Kräfte einging, sondern sprach lediglich über die Selbstverpflichtungen der Anthroposophischen Gesellschaft. Vordringlich seien der Erwerb und die Verstärkung der inneren Kraft und Klarheit – «Studieren Sie die Tragiker aller Zeiten. Sie werden sehen, es besteht die Tragik darinnen, dass alles Äußere zusammenzubrechen scheint und dass nur im Innern selber die Kraft ist, die über die Katastrophe hinausführt.»4 Wesentlich sei das Arbeiten aus dem «Zentrum des Geistigen», unbeeindruckt von äußeren Hindernissen und Einbrüchen – und dies gerade auch dort, wo der Inhalt und das zivilisatorische Wirkanliegen der Geisteswissenschaft auf dem Spiel stehe: «Dass trotz aller Schicksalsschläge, auch trotz aller günstigen Schicksalsschläge, die innere Energie im Herausarbeiten aus dem Zentrum des Geisteslebens nicht erlahmt, davon hängt dasjenige ab, was mit der anthroposophischen Bewegung erreicht werden soll und auch erreicht werden kann.»5 Äußerer Erfolg oder Misserfolg zähle in dieser Perspektive nicht, sondern nur dasjenige bedeute etwas, «was aus der inneren Kraft und den inneren Impulsen der Sache selbst hervorgeht.»6

Die Brandruine signalisierte für Rudolf Steiner nicht nur das Maß der Diffamierung und des Hasses, das der anthroposophischen Arbeit entgegenschlug, sondern auch das Versagen der Anthroposophischen Gesellschaft, die den Bau nicht hinreichend schützte – weder durch ihre öffentliche Präsenz (auch in der Richtigstellung von Verfremdungen und Diffamierungen) noch durch innere, spirituelle Arbeit am Ort. «Der Bau hätte nötig gehabt, dass eine starke Anthroposophische Gesellschaft ihm zur Seite gestanden hätte.»7 Ohne eine «dahinterstehende starke, energische Anthroposophische Gesellschaft» sei auch ein Neubau sinnlos.8 Bereits am Mittag der Neujahrstagung führte Steiner gegenüber Graf Polzer Hoditz aus, dass das «Nicht-Wach-Sein der Mitglieder» wesentlich zu der Destruktion beigetragen habe: «Die Möglichkeit war gegeben, unter uns den Raum des Wortes zu haben, aber der Raum des Wortes kann nur sein, wenn er seine Entsprechungen, sein lebendiges Abbild im Herzen, in der Wortgewissenhaftigkeit hat, das heißt, wenn der Mensch nicht allein zuhört, sondern Verantwortung tragen will und kann, als ein sich verantwortender Mensch vor dem ‹Wort der Welt›. Das war der Sinn des Baues: Wort und Antwort, Logos und Mensch.»9 Das Goetheanum war nie als reiner Versammlungsort und auch nicht als Bühnentheater von Steiner konzipiert worden, sondern als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, von der aufbauende Kräfte und humanistische Initiativen in zahlreichen Lebensfeldern ausgehen sollten. Es ging um «Wort und Antwort» – um die Verantwortungsübernahme für die michaelischen Kräfte in den Auseinandersetzungen der Gegenwart und Zukunft. Der Hochschulgedanke aber war in den Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft kaum verstanden und aufgegriffen worden,10 damit auch nicht der Sinn und die Zielsetzung des Baues. Rudolf Steiner sollte das ganze Jahr 1923 um die notwendige Reorganisation der Anthroposophischen Gesellschaft ringen11 – und er vertrat die Wissenschaftsaufgabe des Goetheanum weiterhin öffentlich, so durch seinen glänzenden Vortrag ‹Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?›, den er im April 1923 in verschiedenen Schweizer Städten hielt.12 Nicht nur die Basler Journalisten, die zu dem Vortrag im Hans-Huber-Saal des Stadtkasinos kamen, hatten ein gebrochenes Auftreten Steiners nach der Zerstörung erwartet, wurden jedoch eines anderen belehrt. «Zwar bekannte Dr. Steiner freimütig, der Schmerz über den Verlust sei zu groß, als dass er sich schildern ließe. Jedoch erklang andererseits aus seinen Worten so viel innerliches Feuer, so viel unbeugsame Wucht, dass auch wir – die wir mit den Grundsätzen der Anthroposophie nicht einiggehen – zur Überzeugung gelangten, die Bewegung in Dornach habe durch die Silvesterkatastrophe nicht nur nichts an Lebenskraft eingebüßt, sondern im Gegenteil einen bedeutenden Impuls empfangen.»13

Den ‹bedeutenden Impuls› empfing die Anthroposophische Gesellschaft ein Jahr nach der Brandnacht, durch die Weihnachtstagung 1923/24 – und bereits in seinem letzten Vortrag im Goetheanum sprach Rudolf Steiner am Abend des 31. Dezember 1922 von den Zukunftsimpulsen der Erde, die nicht aus den Naturreichen und -kräften, sondern nur aus dem Seelisch-Geistigen des Menschen kommen können. «Einzig und allein, wenn wir in diese Erde hineinzustellen vermögen etwas, was sie nicht hat, kann eine Zukunfterde entstehen. Das, was nicht von selbst da ist auf der Erde, das sind die wirksamen Gedanken des Menschen […]»14


Bild Erstes Goetheanum nach dem Brand. Bildquelle: Rudolf-Steiner-Archiv.

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Footnotes

  1. GA 36, S. 322.
  2. GA 259, S. 71.
  3. Vgl. Peter Selg, Der Brand des Goetheanum und die Zukunft der Anthroposophie. Dornach und Arlesheim 2022.
  4. GA 259, S. 156.
  5. Ebd., S. 147.
  6. Ebd.
  7. Ebd., S. 208.
  8. GA 257, S. 15.
  9. In: J. E. Zeylmans van Emmichoven, Wer war Ita Wegman. Eine Dokumentation. Bd. 1. Heidelberg 1990, S. 121 ff.
  10. Vgl. Peter Selg, Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und die Michael-Schule. Arlesheim 2014.
  11. Vgl. GA 259 und Peter Selg, Die Identität der Allg. Anthroposophischen Gesellschaft. Arlesheim 2012.
  12. Vgl. GA 84. Wiederabdruck des Basler Vortrages zuletzt in Peter Selg, Der Brand des Goetheanum […], a. a. O.
  13. In: Wolfgang G. Vögele, Der andere Rudolf Steiner. Dornach 2005, S. 285 f.
  14. GA 219, S. 190. Zum inhaltlichen Kontext des Vortrages vgl. Kultus und Mysterienwesen.

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