Morgen sind wir zwei, übermorgen drei

Minka Straube und Martin Straube waren zwischen 2010 und 2014 mehrmals im Gazastreifen für die Notfallpädagogik der Freunde der Erziehungskunst tätig. Zu den Eindrücken und Perspektiven aus dem verlorenen Ort, den die Hamas durch ihren Terror und die Entführungen nun in neues Elend gestürzt hat. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wie fing eure Arbeit im Gazastreifen an?

Minka Straube Es war eine völlig andere Situation als heute nach dem Blutrausch der Hamas am 7. Oktober. Ich war das erste Mal mit einer multiprofessionellen Gruppe 2010 dort, bei der Volksgruppe der ‹Samunis›. Wir arbeiteten in einer Lkw-Garage. Die israelische Armee war zuvor gerade dort eingedrungen, sodass die Menschen, die ich traf, die Wucht dieses Angriffs erfahren haben. Mit Menschen vor Ort haben wir für die Traumapädagogik ein Team aufgebaut in Kooperation mit dem AlQatan-Zentrum in Gaza. Da 60 Prozent der Bevölkerung Kinder und Jugendliche sind, ist Bildung sehr wichtig, denn auch der Analphabetismus ist hoch. Wir haben zuerst mit den Kindern gearbeitet und dann wurde uns klar, dass wir dort neue Pädagogen und Pädagoginnen gewinnen müssen, wenn es nachhaltig sein soll. Aus dieser fünfjährigen Arbeit entstand so das Narva-Zentrum, wo sich auch der Waldorfkindergarten befindet und Freizeitbeschäftigung stattfindet. Was die Menschen dort auf die Beine gestellt haben, hat uns sehr beeindruckt. Uns ging es immer um die Kinder. Unsere Arbeit war nicht politisch, antiisraelisch oder antisemitisch motiviert. Im Gegenteil. Wir wurden schließlich von israelischen Freunden gebeten, dort zu arbeiten, denen es auf der Seele lastete, was im Namen Israels dort passiert ist.

Wie muss man sich das Gaza-Gebiet vorstellen?

Martin Straube Fangen wir mit Gaza-Stadt an: Sie ist enorm belebt mit unendlich vielen Menschen. Zwischen den zum Teil schwer beschädigten Häusern schlängelt sich der Straßenverkehr mit viel Lärm und ohne Regeln. Dazwischen die von Eseln oder Pferden gezogenen Fahrzeuge. Weil der Strom häufig ausfällt, brummen überall laute Generatoren und natürlich hört man auch die Muezzins. Es ist staubig, weil es fast nie regnet. Der einzige Süßwasserfluss war damals von Israel abgesperrt. Es ist gleißend hell. Und dazwischen die Menschen! Sie sitzen am Straßenrand und starren in die Luft, weil sie keine Perspektive haben. Es gibt keine Spielplätze. Die Kleinen können kaum aus dem Haus, weil vor der Haustür der irrsinnige Verkehr tobt. Damit die Eltern arbeiten können, sitzen die Kinder zu Hause. Es gibt auch fast keine Grünflächen, weil es so wenig Wasser gibt. Überall begegnet dir Hoffnungslosigkeit. Es sind unglaublich viele Kinder und Jugendliche zu sehen, die keine Perspektive haben.

Gaza, Aufnahmen 2023, Minke Straube

Minka Es gibt auch Oasen der Hoffnung. In einer Hochhaussiedlung gibt es einen Ort, wo es mit einem Mal grün ist. Aus nichts haben die Menschen da etwas Nettes gebaut: ein kleines Café, wo sich Künstler und Künstlerinnen treffen, wo Musik gemacht, gemalt wird. Was in diesem kleinen Land an Kunst entsteht! Auch der Choreograf Royston Maldoom hat in Gaza gearbeitet, der in Berlin den Film ‹Rhythm is it› gemacht hat. Ein Teilnehmer aus unserer Weiterbildung, der ursprünglich aus dem Gazastreifen stammt, gibt jetzt dort in einem Hilfscamp der UNHCR einen Hip-Hop-Kurs für Jugendliche. Eine kleine Geschichte: Wir waren in Gaza und wollten an den Hafen und dann trafen wir einen Teilnehmer aus einem unserer Kurse. «Sag mal, was machst du denn?», haben wir ihn gefragt. «Ich male! Ich male, obwohl mir alle sagen, ich male es nicht so, wie es aussehen würde.» «Und warum malst du so?», habe ich ihn gefragt. Da sagte er: «Heute stehe ich hier und morgen sind wir vielleicht zwei und übermorgen drei.» Solch eine Zuversicht hat uns berührt.

Martin Du musst dir vorstellen: Gaza, so groß wie Bremen, aber mit dreimal so vielen Menschen und umgeben von einer Mauer. Die Sperranlage um Gaza ist wesentlich höher als die Berliner Mauer. Der Übergang in Erez, über den wir reingekommen sind, führt erst mal durch israelische Kontrollen und dann geht man fast einen Kilometer durch einen vergitterten Korridor, wie im Zirkus, wo die Löwen zur Manege kommen, nur ein bisschen höher. Da steht ein verrosteter und verbeulter Rollstuhl für die Leute, die nicht gehen können. Es ist nur einer. Du läufst durch ein Stück Niemandsland, eine Gegend, die offensichtlich vermint ist. Und dann folgen zwei Kontrollen auf der Gaza-Seite, eine von der Hamas und eine von der PLO, und dann bist du drin. Für dieses Prozedere musst du einen halben Tag rechnen. Das gilt für uns. Die Menschen in Gaza kommen ja nicht heraus, bis auf wenige für die medizinische Versorgung, und ansonsten nur über Ägypten.

Dieses Land produziert selbst fast nichts, es ist völlig abhängig von den Lieferungen aus Israel und Ägypten. Wenn wieder ein Tanklastwagen aus Ägypten gekommen ist, stehen die Autos kreuz und quer Schlange für ein paar Liter Benzin. Es herrscht einfach permanente Not. Was uns tief beeindruckt hat in dieser Not, sind die Menschen, diese wunderbaren Menschen, gebildet, mit Ausstrahlung, die nur in Frieden leben wollen. Die haben mit der Hamas nichts zu tun. Sie verabscheuen sicher den Gewaltexzess vom 7. Oktober genauso wie wir.

Wie groß sind die Ressentiments gegen Israel?

Minka Groß. Zugleich sind es sehr gastfreundliche Menschen. Sobald du ein Haus betrittst, bist du ein Familienmitglied. Ich war auch 2014 dort, als Gaza von der israelischen Armee bombardiert wurde. Und natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, Gaza wieder zu verlassen. Da sagten sie mir: «Nimm das Team und geh! Wir könnten nicht mit der Schuld leben, wenn dir hier etwas passieren sollte.»

Garage, wo wir mit den Kindern gearbeitet haben. Foto: Minka Straube

Diese Menschen leiden auch unter der Hamas. Einmal war eine Demonstration gegen die Hamas geplant und ein Kellner, den wir kannten, ging dort hin. Als er zurückkam, sahen wir einen gebrochenen Mann. Die Hamaskämpfer hatten ihn aufgegriffen, bevor die Demonstration überhaupt anfing, und dann haben sie ihn öffentlich in einem Käfig zur Schau gestellt.

Was mich jetzt so traurig macht, ist, dass man mit den Vergeltungsangriffen eine neue Generation von Palästinensern und Palästinenserinnen heranzieht, die wieder hassen wird, vielleicht noch stärker, angesichts dessen, was in Gaza nun an Krieg bevorsteht. Diese Menschen, die mit der Hamas nichts zu tun haben, wollen nur leben.

Welche Hoffnung bleibt euch, wenn der Krieg nach dem Überfall der Hamas auf Israel Gaza jetzt erreicht?

Minka Ich hoffe, dass die Menschen, die positiv in Gaza wirken, die Kraft und die innere Größe haben, ihre Arbeit fortzusetzen. Natürlich wünschen wir uns, dass die Versorgung der Menschen vor Ort weitergeht, auch die medizinische Versorgung. Meine dritte Hoffnung, mein Wunsch, ist, dass man den Menschen erlaubt, dort zu leben, wo sie möchten, und dass man sie nicht in diesem größten Gefängnis der Welt festhält. Als wir im Gazastreifen waren, war ein Schiff mit medizinischen Hilfsgütern aus der Türkei unterwegs. Es ist nicht angekommen, weil es von der israelischen Marine abgefangen wurde. Da sagte man uns in Gaza: «Es ist nicht wichtig, dass das Schiff hier ankommt. Es ist wichtig, dass es sich auf den Weg gemacht hat.»

Martin Wir haben unsere Freunde in Gaza gefragt, was wir denn tun können, um zu helfen, wenn wir wieder in Deutschland sind. «Erzählt von uns, damit man uns nicht vergisst.» Das sind so Sätze, die fahren dir in die Knochen.


Titelbild Gaza, Aufnahmen 2023, Minka Straube

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