Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sprach sich im April 2020 dafür aus, dem Schutz des Lebens nicht alles unterzuordnen, sondern die Würde als absoluten Wert des Grundgesetzes zu nehmen. Sie sei unantastbar, schließe aber nicht aus, dass wir sterben müssen. Welche Möglichkeiten haben wir gegenwärtig, um zu einem würdevollen Miteinander zu kommen? Wir sprachen mit dem Autor Andreas Laudert, der 2005 ein Buch mit dem Titel ‹Würde – Wie wir Menschlichkeit bewahren› (Verlag Pforte) veröffentlichte.
Kann man unter den heutigen Umständen Würde anders oder neu denken?
Wir blicken meistens auf die Würde des Einzelnen. Aber es gibt auch eine Würde der Menschheit. Wir erfahren zwar immer mehr, dass wir als Wesen miteinander verbunden sind. Nur leben unter uns auch noch Jüngere: die Kinder. Würde ist ein Begriff der Erwachsenen. Welches Kind sagt schon: «Ich fühle mich verletzt und in meiner Entwicklung behindert»? Wenn überhaupt, sind das für Kinder nur Ahnungen. Erwachsene können mehr oder weniger einen würdevollen Weg durch die Situation finden. Kinder können es nicht selbst gestalten. Sie sind angewiesen auf uns, und im Risiko. Der mitfühlende und tiefere Blick auf die Kinder sähe nicht nur das äußerlich ‹Funktionierende›.
Wie sähe ein würdevolles Miteinander heute für dich aus?
Dass eine seelische Grundhaltung der Offenheit dem anderen gegenüber eingenommen wird. Dass ich auch offen die eigene seelische Dynamik betrachten kann, nicht nur empört oder resigniert frage: In welcher Welt lebst du? Sondern auch immer wieder: In welcher Welt lebe ich? Und dann: In welcher Welt wollen wir leben? Oft wird in Kollegien solcher Gesprächsbedarf als Minderheitenbefindlichkeit kleingeredet. Umgekehrt verkennen die, die kritisieren, auch oft die Vielschichtigkeit der Haltung der anderen. Bei alledem verliert die Sprache, etwa beim lässigen Ausdruck ‹Lockdown›, an Plastizität, an im guten Sinne kindlichem Vertrauen und wird infantil. Man scheint unantastbar. So viel war zuletzt von der offenen Gesellschaft die Rede, von offener Anthroposophie, offenen Grenzen, einer Würde als Menschheit. Was lassen wir nun zu? Würde besteht in unseren Potenzialen, in den Zwischenräumen. Wir bleiben als Gemeinschaft unter unseren Möglichkeiten. Aber die Möglichkeiten bleiben auch unter uns, leben unter uns, schützen uns.
Titelbild: Alexanderplatz, Berlin, während des ersten Corona-Lockdowns, 11. April 2020. Quelle: Neomicro, Wikimedia.