Im Februar dieses Jahres sprach Vandana Shiva auf der Landwirtschaftstagung am Goetheanum. Gerald Häfner nutzte die Gelegenheit, sich mit ihr darüber auszutauschen, welche Veränderungen in der Welt nötig sind und wie man diese umsetzen kann. Beide kennen einander von gemeinsamen Aktivitäten für die Heilung der Erde.
Gerald Häfner Du hättest eine perfekte Karriere in Physik, Philosophie, Wirtschaft oder Wissenschaft machen können, hast es aber nicht getan. Warum nicht?
Vandana Shiva Ich entschied mich, mein Leben der ökologischen Arbeit und dem Aktivismus zu widmen, weil mir klar wurde, dass ich zwar erstaunliche geistige Herausforderungen haben würde – ich hätte mich 100 Jahre lang mit Quantenrätseln beschäftigen können –, aber es wäre Selbstgenuss gewesen. Kleine Studien retteten jedoch tatsächlich Täler, Flüsse und Wälder. Mir wurde klar, dass mein Dienst an die Erde und die Menschen gehen muss.
Wann wusstest du, dass du etwas für die Erde tun müsstest?
Bevor ich nach Kanada ging, um dort zu promovieren, besuchte ich einen Wald, um zu wandern. Ich wollte Erinnerungen in mich aufnehmen. Doch ich fand den Eichenwald zerstört. Ich empfand es als einen persönlichen, körperlichen Schmerz. Da hörte ich von der Chipko-Bewegung, bei der die Frauen meiner Region beschlossen, Bäume zu umarmen. Chipko bedeutet ‹umarmen›. Ihr Ruf war: «Ihr müsst uns töten, bevor ihr die Bäume tötet.» Also sagte ich mir, ich werde meinen Doktortitel machen, aber jeden Urlaub werde ich mich freiwillig für diese Bewegung engagieren. Das wurde meine ‹andere› Universität, und das ist es, was ich seitdem getan habe: Aktivistin sein im Chipko-Stil.
Dann hast du über das Sterben der indigenen Landwirtschaft infolge der industrialisierten Landwirtschaft geforscht.
Jede Frage, die ich zu beantworten versuchte, bezog sich auf unnötige Gewalt gegen die Erde oder gegen Menschen. Die Zerstörung der Wälder in meiner Heimatregion war die erste Form dieser von mir erforschten Gewalt, die zweite war der Ausbruch der Gewalt im Punjab, wo die ‹Grüne Revolution› zum ersten Mal angewandt wurde. Die ‹Grüne Revolution› ist die Bezeichnung für industrielle Landwirtschaft in der Dritten Welt. Im Jahr 1984 leckte eine Pestizidfabrik in der Stadt Bhopal und Tausende Menschen kamen dabei ums Leben. Noch heute sterben dort Menschen, und Kinder werden immer noch verstümmelt geboren. Die Katastrophe ist noch nicht vorbei. In jenem Jahr beschloss ich, dieses Modell der Landwirtschaft zu studieren. Ich fand heraus, dass die Industrie, um übrig gebliebene Kriegschemikalien zu verkaufen, unsere Vorstellung von Landwirtschaft, unsere Beziehung zum Land, unsere Beziehung zu Lebensmitteln verändert hatte. Sie definierte Erde als leeren Behälter und Pflanzen als Maschinen, die mit Dünger als Brennstoff betrieben werden müssten. Lebendige Systeme verschwanden und das erstaunliche Wissen der bäuerlichen Gemeinschaften wurde ausgelöscht. Mir ist damals klar geworden, dass ich mein Leben der ökologischen Arbeit gewidmet hatte, doch die Landwirtschaft, ein Waisenkind der Ökologiebewegung, gehört dort auch hinein. Also entschied ich, nach einem gewaltfreien Weg für die Landwirtschaft zu suchen. Die Entscheidung kam aus einem tiefen Mitgefühl für die lebendige Erde und für die Menschen. Mitgefühl ist die wahre Währung, die zwischen uns fließt. Durch den Kolonialismus ist unser Wort verarmt, Währung ist auf Geld und Investition auf Geldverdienen reduziert. Währung muss im Fluss sein. Was zwischen uns fließt, ist Liebe und Mitgefühl. Dieser Fluss wird durch das Wachstum fiktiver Währungen gestört: Geld, Profite, Macht.
Könnte man sagen, dass Leben auch deshalb Mitgefühl ist, weil es vom ersten Tag an ein Geschenk ist?
Da hast du ganz recht. Ich habe gerade ein Buch mit dem Titel ‹Von der Gier zur Fürsorge› geschrieben. Die Ökonomie der Fürsorge beginnt damit, dass wir vom Mutterleib aus auf die Welt kommen. Wenn es keine bedingungslose Liebe gäbe, würde man sich um kein Kind kümmern. Die erste Ökonomie ist die Ökonomie des Schenkens.
Wie kommt es aber dann, dass wir die Erde, einander und uns selbst zerstören?
In Indien ist es sehr klar. Es beginnt mit dem Kolonialismus – eine Handvoll Menschen in Europa beschließt, an anderen Orten reiches Land haben zu wollen. Indien machte zu dieser Zeit 30 Prozent der Weltwirtschaft aus. Die Briten erklärten über Nacht, dass der Boden Indiens Großbritannien gehöre, und begannen, Pacht zu kassieren. Adam Smith, der lediglich beschrieb, wie der koloniale Handel funktioniert und welche Verzerrungen er mit sich bringt, wird als Vater der modernen Ökonomie bezeichnet. Das ist keine Ökonomie. Ökonomie leitet sich von ‹oikos› ab: unser Haus. So verschwand das Zuhause, ‹oikos› verschwand und mit ihm wurde die Gier nicht nur dominant, sondern schlimmer: Sie erklärte brutal, dass jene, die in Fürsorge und Mitgefühl leben, primitiv und barbarisch seien. Es fühlt sich an, als sei es für uns an der Zeit, zu sagen: «Wenn Mitgefühl barbarisch sein soll, dann bin ich lieber barbarisch.»
Was können wir tun? Sollen wir die Strukturen ändern oder sollten wir uns selbst ändern?
Ich glaube nicht, dass es uns gegeben ist, Strukturen zu verändern, weil sie sich unsichtbar gemacht haben. Sie haben sich selbst in die Ferne gerückt – distanziert und unzuverlässig. Aber wir können uns selbst verändern und die Strukturen werden sich dabei verändern. Man kann entweder weiter an die Tür von Monsanto und Bayer hämmern und sagen: «Bitte nicht», oder man kann einfach ein Saatgut in Liebe retten und daraus ein Gemeingut schaffen – und Monsantos Projekt schrumpft simultan. Fangen wir bei uns selbst an. «Sei selbst die Veränderung, die du sehen willst», sagte Gandhi.
Ich stimme dir zu – es gilt, bei uns selbst anzufangen. Aber was sind Monsanto oder Bayer anderes als Konzepte, die von konkreten Menschen geschaffen, organisiert und geführt werden?
Die East India Company, das erste solche Unternehmen, wurde von einigen wenigen Menschen geschaffen, nicht von der gesamten Menschheit. Ich halte es für extrem wichtig, die falschen Konstrukte der Mächtigen und Privilegierten nicht zu verallgemeinern. Sie sind der schlimmste Aspekt des Menschseins. Natürlich müssen wir bei uns selbst anfangen. Wir verändern uns in unseren Köpfen und in unseren Herzen, aber wir leben in einer vernetzten Welt. In der Quantenwelt kann nichts getrennt werden. Trennung ist eine Illusion. Das Einssein ist die Realität, auch die Vernetzung und die Verbundenheit. Daher beginnen die Handlungen, das Denken und die Werte, die du in deinem Leben in die Welt bringst, zu Werten und Veränderungen in der größeren Welt zu werden. Ein großer Teil des kolonialen Instinkts besteht darin, dass sich die Plündernden zu Schöpfern erklären. Wenn ich ein Gen in die Zelle einer Pflanze schieße, erschaffe ich diese Pflanze nicht – es ist kein kreativer, sondern ein kriegerischer Akt. Diese Illusion, dass Zerstörung Schöpfung ist, hat uns daran gehindert, unsere eigene Kraft und unsere eigene Kreativität zu erkennen. Unsere Kreativität ist nicht von der Kreativität der Erde getrennt. Die Erde wurde für tot erklärt: Terra nullius. Das ist der Punkt, an dem all die Gewalt gegen sie legitimiert wird. Aber wir sind Teil einer lebendigen Erde, eines lebendigen, intelligenten, bewussten Universums. Wenn wir unsere Rolle in diesem Universum spielen, und das kann dir ein gewöhnlicher Bauer sagen, erhalten wir das Universum durch die richtige Handlung.
Wo beginnt das Böse? Mit dem Verlust der Beziehung?
Ich denke, Realität ist Beziehung. Objektivierung ist eine gewalttätige Illusion, welche die Erlaubnis gibt, einen Samen, eine Pflanze, einen Fluss oder einen Berg so zu behandeln, als wäre er nur ein Objekt. Dann gibt es die tiefere Illusion, dass ich durch die Zerstörung, durch den Einsatz von Bulldozern und das Ausbringen von Glyphosat das Land verbessere. Der Gedanke der Verbesserung ist Teil einer Beschleunigung der Gewalt.
Wir vergaßen das Göttliche, halten die Dinge für bloße Materie, die es zu erobern gilt. Wie können wir das überwinden?
Nun, wir sitzen im Goetheanum. Goethe hatte eine andere Ansicht! Ich denke, dass Europa seine andere Denkweise wiederfinden muss.
Grün bedeutet Leben, Hoffnung, Zukunft. Grüne Politiker und Parteien treten für das Leben ein. Doch mehr und mehr wird das Wort für sein Gegenteil verwendet. Wie kommt es, dass gute Impulse in Böses verwandelt werden?
Die Verwendung des Wortes ‹grün› für die industrielle Landwirtschaft des Tötens geht der Verwendung des Wortes ‹grün› für die Grüne Partei voraus. Es gab zwei Impulse für die ‹Grüne Revolution›. Erstens, um die ‹Rote Revolution› einzudämmen, die sich von China aus ausbreitet – also eher grün als rot. Zweitens, um einen Markt für übrig gebliebene Kriegschemikalien und -technologien zu schaffen. Man ging davon aus, wenn man es grün nennt, würde niemand darauf achten, worum es sich handelt. Die erste Anwendung fand 1965/66 in meinem Land statt. Ich war damals in der Highschool. Niemand wusste, dass dies geschah, bis 1984 die Gewalt ausbrach. Mir wurde klar, das Böse versucht immer, gute Worte, gute Werte zu vereinnahmen und sie in den Dienst der Gier zu stellen.
Ich glaube immer noch, selbst in dieser Welt der Unternehmen und Regierungen, dass es in jedem Menschen ein Selbst gibt, welches nach Beziehung, Verständnis und Resonanz mit den anderen und der Welt sucht. Wie können wir das befreien?
Jede Krise, wie es in China heißt, muss eine Chance sein. Wir erleben jetzt eine Krise, in der selbst die einfachen Menschen im reicheren Teil der Welt leiden, wie die südliche Welt immer gelitten hat. Die Globalisierung war nichts anderes als die Zerstörung der lokalen Wirtschaft. Jetzt kommt sie hierher nach Europa, wo der Wohlfahrtsstaat abgebaut wird. Alle Anstrengungen, Reichtum und Macht in der Gesellschaft umzuverteilen, werden angegriffen. Das ist ein Moment für die gemeinsame Suche nach einem erfüllten Leben, in dem wir alle unseren Platz auf der Erde haben, sowohl in Bezug auf die Pflege der Erde als auch darauf, dass die Erde uns nährt. Das ist Pflicht und Recht zugleich. Indische Bauern und Bäuerinnen sagen: «Wir lassen uns nicht vom Land vertreiben. Wir werden nicht zulassen, dass Gesetze uns enteignen.» Wir brauchen überall solche ähnlichen Bewegungen. Junge Menschen wollen zurück aufs Land, um ein Leben jenseits des Konsums zu führen, jenseits der Geldmaschine der Wall Street.
Wenn wir unsere Vorstellungskraft für die Zukunft öffnen, für das, was nötig ist und kommen will: Hast du Ideen, wie wir diese Wirtschaft verändern können?
Die erste besteht darin, sich gegen die Ansicht zu wehren, dass ein Prozent der Menschen alle Ressourcen und den Reichtum des ganzen Planeten besitzt. Das ist eine Täuschung. Wir brauchen Wege, den Reichtum zu teilen, damit wir aufhören, mehr von der Erde zu nehmen, als richtig ist. Wir müssen von einer abbauenden Wirtschaft, die das Wachstum bemisst, zu einer Ökonomie des Gebens und Schenkens übergehen, die Albert Howard, Pionier der ökologischen Landwirtschaft, das ‹Gesetz der Rückkehr› nannte. Das bedeutet, die Gaben der Erde als Gemeingut zurückzufordern. Was sind die grundlegenden Dinge, die wir brauchen? Wir brauchen Nahrung und Kleidung, Wissen und Kultur. Dafür sind die Milliarden der Philanthrokapitalisten nicht erforderlich. Es benötigt Mitgefühl innerhalb der Gesellschaft und die Verweigerung von Angst oder Hoffnungslosigkeit.
Sollten wir unsere Vorstellungen von Landbesitz überdenken?
Auch diese Ideen des Privateigentums wurden durch den Kolonialismus geschaffen. Land in Indien konnte nicht gekauft und verkauft werden. Wie wir zu sagen pflegten, hat der Schöpfer das Land erschaffen und besitzt das Land – wir hüten es lediglich. Deshalb haben wir keine Eigentumsrechte, aber eine Sorgfaltspflicht. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, die Privatisierung von Saatgut zu verhindern. Ich habe mit vielen Bewegungen in Indien zusammengearbeitet, um die Privatisierung von Wasser zu verhindern. Die Frauen von Plachimada, die gegen Coca-Cola kämpften, die Bürger und Bürgerinnen auf der anderen Seite des schönen Ganges, die sich die Hände reichten. Ich erinnere mich an die Petition an die Weltbank: ‹Unsere Mutter Ganga steht nicht zum Verkauf›. Land, Saatgut, Wasser und Nahrung sind Gemeingüter. Wissen ist es auch. Man denke an Schriften wie die Veden und die Upanishaden Indiens. Brillante Menschen haben nie gesagt: «geschrieben und verfasst von so und so». Bill Gates, der ständig Dinge patentieren lässt, sagt im Zusammenhang mit der Züchtung von Reissorten: «Ich habe das Hochwassertoleranz-Gen erfunden.» Du kannst nicht so tun, als hättest du geschaffen, was die Natur erschafft, oder was andere Menschen durch ihre kollektive Kreativität erschufen.
Wir haben gerade eine neue Bewegung initiiert: Die Bewegung des Verantwortungseigentums. Ihre Grundannahme ist: Unternehmen sind keine Ware. Die Idee des globalen Kapitalismus, in dem man alles kaufen und verkaufen kann, auch Menschen mit all ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten, auch Unternehmen, Arbeit oder Land, ist zerstörerisch und absurd. Heute sagen die besten Jungunternehmerinnen und -unternehmer: «Wir wollen kein Privateigentum. Wir wollen mit anderen zusammenarbeiten, wir wollen, dass das Unternehmen uns allen gehört.»
Ich habe das Buch ‹Oneness vs. the 1 %› geschrieben, weil wir herausgefunden haben, wie Monsanto von Bayer gekauft wurde. Es sind Vermögensverwaltungsgesellschaften, die das Finanzvermögen von Milliardären verwalten. Land, Mineralien, Wälder und Flüsse wurden privatisiert. Deshalb befinden wir uns in einer Krise. Jene, die die Ökonomie der Illusion geschaffen haben, wollen jetzt den letzten Tropfen Wasser, den letzten Zentimeter Land, die letzte Fähigkeit zur Kohlenstoffbindung auf dem Planeten besitzen. Aber ein Fluss kann nur von den Menschen rund um den Fluss gepflegt werden. Der Boden kann nur vom Landwirt gepflegt werden, der ihn bearbeitet. Handeln an der Wall Street hat nichts mit Fürsorge zu tun und nichts mit Verantwortungsübernahme.
Wer könnten die Akteurinnen und Akteure dieses notwendigen Wandels sein?
Ich glaube nicht, dass wir uns in Zeiten befinden, in denen ein Gandhi, Marx oder Mandela auftauchen wird. Was wir suchen sollten, ist eine katalytische Führung von überall: von Bodenorganismen, die Land wieder zum Blühen bringen; von Pflanzen, die am längsten auf diesem Planeten sind und uns lehren können, wie man wächst und mit Großzügigkeit schenkt. Jugendliche und Kinder können unsere Lehrenden sein, Ältere können unsere Lehrenden sein, und indigene Völker.
Was können wir in Europa von indigenen Völkern lernen?
Erstens, dass die Erde heilig ist. Zweitens, dass ihre erste Identität eine gemeinsame Identität ist. Drittens, dass es deine Aufgabe auf Erden ist, dich um die Erde und die Gemeinschaft zu kümmern. Indigene Völker haben eine erstaunliche Kultur, in der sie sich ständig mit dem Schenken beschäftigen. Als ich eine Zeremonie sah, bei der Menschen Samen brachten, um sie zu teilen, wurde mir klar, dass diese Idee der Allmende als Organisationsprinzip in indigenen Kulturen Realität war. Lebe einfach, steigere deine kreativen Ausdrucksmöglichkeiten durch die Häuser, die du baust, die Musik, die du kreierst, und die Art und Weise, wie du kleine Kinder ernährst. Folge nicht der Vorstellung, dass du irgendwie überlegen bist, wenn du mehr rausholen und dominieren kannst. Es gibt zwei wirklich ernste Probleme. Eines davon ist der Anthropozentrismus, die Idee, dass der Mensch anderen Wesen überlegen ist. Die indigenen Völker lehren uns, dass wir Mitglieder der Erdfamilie sind und alle anderen Wesen unsere Verwandten sind. Das zweite Problem ist der Glaube, dass es keine Intelligenz gibt, die über den Verstand einiger weniger Menschen hinausgeht. Sondern Intelligenz ist überall – Intelligenz ist Leben. Neue Forschungen über Intelligenz und das Wissen der indigenen Völker, dass alles ein Bewusstsein hat, fließen nun ineinander.
Bedeutet das, dass die indigenen Völker klüger sind als viele heutige Akademiker und Akademikerinnen?
Akademisch Gebildete haben eine besondere Art, die Welt zu kennen, indem sie sie nicht kennen. Die Erkenntnistheorie des mechanistischen Reduktionismus, die jedes Gebiet durchdringt, begann mit der Art und Weise, wie Physik und Naturwissenschaften von Francis Bacon gedacht wurden. Aber die Art und Weise, wie Naturwissenschaften betrieben werden, ist auch die Art und Weise, wie Sozialwissenschaften gemacht werden. Der mechanistische Reduktionismus besagt im Grunde, dass die Welt voller Objekte ist, die voneinander getrennt sind. Zu erkennen, dass es keine Trennung gibt und die Welt nicht von Objekten, sondern von Wesen bevölkert ist – das ist mit Sicherheit die Weisheit, die indigene Völker und jene, die in mechanistischem Denken leben, verloren haben.
Gibt es irgendetwas, was akademisch Gelehrte oder wir westlichen und europäischen Menschen beitragen können?
Jeder kann einen Beitrag leisten, solange es mit Demut geschieht, ohne Überlegenheit oder ohne zu denken, dass andere Wesen oder andere Kulturen weniger wert sind. In der westlichen Wissenschaft wurden enorme Fortschritte erzielt, die in den Dienst der Erde und der Gesellschaft gestellt werden können. All die Arbeiten, die in den Bereichen Ökologie, Epigenetik, Evolutionsbiologie, Symbiose geleistet werden, all diese erstaunlichen Wissensströme haben tatsächlich völlige Kohärenz mit indigenen Paradigmen. Ich arbeite an der Erde, mit Menschen aus der Landwirtschaft und ihrem Wissen, aber wir haben ein Labor, in dem wir mit den Bodenmikroorganismen in Dialog treten, die wir ohne das Mikroskop nicht sehen könnten.
Wir trafen uns das erste Mal 1992 in München, wo ich den ‹Other Economic Summit› mitorganisierte – den Gipfel gegen den Weltwirtschaftsgipfel – und dich zu einem Vortrag einlud. Jetzt sitzen wir hier, 30 Jahre später, am Goetheanum, und ich höre zu, wie du mir etwas über die nötige Bewusstseinsveränderung erzählst. Du kennst das Goetheanum, die Biodynamik und die Anthroposophie. Hast du eine Beziehung zu ihnen?
Nicht in der tiefgründigen Art und Weise, wie ihr alle hier, aber natürlich habe ich von Goethe gehört und gelesen. Ich kenne die Einzelheiten von Steiners Denken nicht, aber ich kenne Waldorfschulen. In gewisser Weise ist dieses Denken genau das gleiche wie Tagores Denken über das Lernen und Gandhis Denken darüber, was Bildung sein sollte. Es gibt erstaunliche Übereinstimmungen.
Es ist so schade, dass Goethe vergessen und dieser Strom der deutschen Geschichte unterbrochen wurde. Steiner griff das auf und begann, es für alle Bereiche des Wissens und der Praxis weiterzuentwickeln. Wenn ich dir zuhöre, habe ich das Gefühl, dass du es auf einem anderen Weg, durch eine andere Tür gefunden hast.
Wenn du davon sprichst, wie dieser Strom des ‹goetheanistischen› Denkens in den Untergrund gebracht wurde, denke ich an das Jahr 1484, neun Jahre vor der päpstlichen Bulle, die die Doktrin der Übernahme von Land durch andere legalisierte. 1484 gab es die päpstliche Bulle zu Inquisition und Hexenverfolgung, die sich gegen alle richtete, die anders dachten, die ihr eigenes Wissen über Heilpflanzen hatten, die meisten von ihnen Heilerinnen. Ich glaube, wir leben wieder unter Hexenjagden. Wenn wir an die Macht derjenigen denken, die ‹Big Pharma› kontrollieren, so sehen diese im Grunde jedes freie Denken, jeden unabhängigen, souveränen Weg als etwas, vor dem man Angst haben muss und das ausgelöscht gehört wie eine zerquetschte Fliege.
Es geht um Beziehung und Resonanz, aber eben auch um Freiheit, darum, das eigene Denken selbst so zu entwickeln, dass wir dieser gefangenen Art des Denkens entfliehen.
Veränderung beginnt in dir, und sie beginnt mit der Erweiterung deiner Kapazitäten, deines eigenen Potenzials. Dieses Potenzial wird durch deine Beziehungen erweitert. Je breiter und tiefer unsere Beziehungen werden, desto mehr werden wir selbst aufgewertet. Das ist unsere Freiheit. Ich habe das Buch ‹Earth Democracy› in Bezug auf die Freiheit der Erde und uns selbst als Teil von ihr geschrieben, weil wir als Antiglobalisierungsbewegung definiert wurden. Wir sind aber eine Erddemokratiebewegung. Jedes Mal, wenn sie sagten: «Du weißt, wogegen du bist, aber du weißt nicht, wofür du bist», sagte ich: «Wir sind für das Leben. Wir sind für die Liebe. Wir sind für die Gemeinschaft. Wir sind für die Allmende. Deshalb sind wir gegen Privatisierung und Saatgutpatente, gegen Konzerne, die unsere Nahrungsmittelversorgung kontrollieren, gegen die Vorstellung, dass eine Welthandelsorganisation mit Sitz in Genf die Regeln für unser Leben festlegen kann.»
Ich glaube, 6000 Gemeinschaften in Indien haben sich am 5. Juni 1999 organisiert, weil ich ihnen erzählt habe, was mit der wto passiert. Ich rief sie dazu auf, Mike Moore, dem Generaldirektor der wto, zu sagen, was sie denken. Und sie schickten Postkarten. Sie schrieben: «Wir verstehen, dass Sie das Saatgut und die Pflanzen besitzen wollen. Auch in unserer Gesellschaft gibt es Menschen, die stehlen. Normalerweise aus Verzweiflung. Ein Kind stiehlt, weil die Mutter krank ist, eine Mutter stiehlt, weil ein Kind hungrig ist. Und wenn sie es uns erklären, dann behandeln wir sie eindeutig nicht als Kriminelle. Wir sorgen dafür, dass sie als Teil unserer Gemeinschaft Medikamente bekommen, dass sie das Essen bekommen, das sie brauchen. Kommen Sie und setzen Sie sich unter den Banyanbaum in unserem Dorf und erklären Sie uns: Was ist Ihre Verzweiflung, die Sie dazu bringt, dem ärmsten Bauern der Welt das letzte Saatgut zu stehlen?»
Es sind diese kreativen Aktionen, die von den Menschen selbst ausgingen, welche die Diskussion und die Vorstellungskraft verschoben haben. Genauso wie es falsch ist zu sagen, dass einige Pflanzen Unkraut sind und durch Herbizide ausgemerzt werden sollten, ist es falsch zu sagen, dass Menschen nutzlos sind. Jede Pflanze, jedes Insekt, jeder Mensch hat einen Beitrag zu leisten. Und die Gesellschaft hat kollektiv die Pflicht, ihren Raum zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass sie sich zu ihren Bedingungen entwickeln können.
Kürzlich fragte mich ein junger Mensch voller Ernst, ob es überhaupt eine Zukunft geben wird und ob wir noch die Zeit haben, diese tiefgreifende Transformation zu vollziehen. Vandana, haben wir noch Zeit?
Nun, das Leben ist ein Prozess, und in diesem Prozess gibt es nie den Moment, der sagt: Es gibt keine Zeit. Ich denke also, dass wir uns von der mechanistischen Vorstellung von Zeit und der Vorstellung, dass Dringlichkeit ‹jetzt› bedeutet, lösen müssen und zu der Erkenntnis übergehen müssen, dass Zeit der Fluss ist, durch den sich das Leben entwickelt und recycelt. Dringlichkeit bedeutet Wichtigkeit, nicht Schnelligkeit. Es bedeutet, das Richtige zu tun, die richtige Nische zu finden, die wir als Menschen besetzen können. Es bedeutet nicht, eine weitere Welle der Beherrschung anzustoßen, zum Beispiel durch Geoengineering, noch mehr Veränderung des Klimas oder Entwicklung von Labornahrung und zellulärem Fleisch. Wie Einstein sagte, ist es ein klares Zeichen von Wahnsinn, immer wieder und wieder das Gleiche zu tun und eine Lösung zu erwarten.
Ich habe gesehen, was passiert, wenn ich Kinder auf die Navdanya-Farm bringe und mit ihnen am Kohlenstoffkreislauf arbeite. Ich arbeite mit ihnen an der Kraft des Bodens und der Kraft des grünen Blattes der Pflanze, Kohlendioxid zu binden. Anstatt mit Zukunftsangst beschäftigt zu werden, wird der Verstand des Kindes dann plötzlich zum schöpferischen Geist, um eins mit der Erde zu werden, um zu sagen: «Ich bin hier, um dir zu dienen. Du zeigst mir den Weg.» Es gibt Hoffnung, solange es Leben gibt. Solange es Potenzial für Leben gibt, gibt es Hoffnung.
Die aktuellsten Bücher von Vandana Shiva: ‹Wer ernährt die Welt wirklich?› (2021) und ‹Eine Erde für alle – Einssein versus das 1 %› (2021), ‹Wahre Wirtschaft – Von der Geldgier zu einer Ökonomie der Fürsorge› (2022) sind in deutsch erhältlich.
Titelbild Ganges Fluss mit Blick auf Varanasi. Foto: Stijn Dijkstra
Freiheit der Gedanken veeöffentlichte Aussagen von Präsident Putin auf dem diesjährigen Wirtschaftskongress „Valdai“, die hier anknüpfen:
„Erstens wollen wir in einer offenen, vernetzten Welt leben, in der niemand jemals versuchen wird, künstliche Barrieren für die Kommunikation der Menschen, ihre kreative Entfaltung und ihren Wohlstand zu errichten. Das zweite Prinzip ist die Vielfalt der Welt, die nicht nur bewahrt werden soll, sondern auch die Grundlage für eine universelle Entwicklung sein soll.“
Und das dritte Prinzip, so der russische Staatschef, ist maximale Repräsentativität:
„Niemand hat das Recht oder kann die Welt für andere oder im Namen anderer regieren. Die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven Entscheidungen“, betonte der Präsident.
Viertens: „Universelle Sicherheit und dauerhafter Frieden, der die Interessen der großen und kleinen Staaten gleichermaßen berücksichtigt. Um dies zu erreichen, sei es wichtig, die internationalen Beziehungen von der Blockmentalität und dem dunklen Erbe der Kolonialzeit und des Kalten Krieges zu befreien, so Putin.
Der fünfte Grundsatz ist die Gerechtigkeit für alle:
„Die Zeit der Ausbeutung von irgendjemandem – das habe ich schon zweimal gesagt – gehört der Vergangenheit an. Die Länder und Völker sind sich ihrer Interessen und Fähigkeiten klar bewusst und bereit, sich auf sich selbst zu verlassen, und das vervielfacht ihre Stärke. Jeder muss Zugang zu den Vorteilen der modernen Entwicklung haben“, betonte Putin.
Das sechste Prinzip sei die Gleichheit:
„Niemand dürfe gezwungen werden, auf Kosten seiner eigenen Entwicklung und seiner nationalen Interessen denjenigen zu gehorchen, die reicher oder mächtiger seien, so der russische Präsident.
Das in Putins Rede erwähnte „zivilisatorische Modell“ scheint auf „Prinzipien“ zu beruhen – wie nicht-koloniale Beziehungen, nicht-patronisierende Haltungen, Respekt vor der Vielfalt, die in den verschiedenen Traditionen verwurzelt ist -, die eine enorme Arbeit erfordern, um neue gemeinsame internationale Normen zu schaffen“, so Paolo Raffone, ein strategischer Analyst und Direktor der CIPI-Stiftung in Brüssel.
Die westliche „regelbasierte liberale internationale Ordnung“ ist einseitig und konnte zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte durch die Macht und den Einfluss einer kleinen Gruppe von Kolonialmächten durchgesetzt werden, die nach der Krise des liberalen Modells und dem Bürgerkrieg (1914-1945) von einem entfernten, aber supermächtigen Land (USA) übernommen wurde. „Zusammenfassend kann ich sagen, dass der Ansatz des ‚zivilisatorischen Modells‘ wahrscheinlich darauf abzielt, eine gemeinsame Welt-‚Software‘ zu strukturieren, während die ‚liberale regelbasierte Ordnung‘ darauf abzielt, eine aufgezwungene ‚Hardware‘ zu schaffen, die durch ‚Regeln‘ im Dienste der finanziellen und militärischen Hegemonie verteidigt wird.“
Solche Aussagen ohne Quellenangaben, wann wo und in welchem Kontext …. erachte ich als „gefährlich“ und der Anthroposophie gegenüber schädlich.
Ich wundere mich darüber, daß auf Vandana Shivas Vorstellung eines friedlichen, gewaltlosen Miteinanders ausführliche Zitate eines faschistoiden (Timothy Snyder) Diktators gebracht werden, der gerade jetzt versucht, seine Vorstellungen eines großrussischen Reiches mit brutaler Gewalt durchzusetzen.
Ich bin immer wieder zutiefst erschüttert über Schwachsinnigkeiten die aus der Anonymität heraus („Himmelsblick“, wer bist Du?) unter meinen lieben anthroposophischen Freunden verbreitet werden.
Offensichtlich übt unsere Szene eine Anziehungskraft aus für verirrte Gedanken die sich getrauen sich hier zu artikulieren. Merkwürdig.
Hallo Herr Glauner, diese Zeitschrift heisst „Das Goetheanum“ und so wäre mancher Leser auch gern ein Genie, so wie Goethe. Eigentlich logisch. Nur, wie macht man das? Einfach irgendetwas erzählen, schön schrill und exzentrisch, vielleicht funktioniert es so?
In dieser Nacht ist die Nacht, die unter dem Schlagwort „Todesnacht von Stammheim“ Bekanntheit erlangte, drei Menschen sterben in dieser Nacht. Ein paar Dutzend, vielleicht ein paar Hundert Jugendliche lesen in dieser Nacht die Verse 400 bis 492 aus dem zweiten Gesang der Ilias und richten ihre Gedanken auf die Zukunft.
In was für einer Welt wollen wir leben? In einer Welt der schrillen Lügen, die Menschen erzählen, nur um in die Zeitung zu kommen und ein paar Bücher zu verkaufen? In einer Welt der Verblendung und Unwahrhaftigkeit?
Oder in einer Art Gelehrtenrepublik? In einer Künstler-Kommune? Solch eine Welt gibt es noch nicht. Man müsste sie erschaffen.