Jom Kippur, der Tag, an dem die Taten gewogen werden.
Es ist einfacher, sich auf den Drachen zu konzentrieren als auf die Waage in Michaels Hand. Der Drache erscheint uns als Feind, faszinierend und ‹da draußen›. Aber die Waage wiegt unsere Taten, und dabei gibt es niemanden außer mir zu beschuldigen. Es ist der Blick Michaels, der unsere geistigen Handlungen bejahend in das Kosmische eingliedert oder von sich abweist. Jom Kippur, das jüdische Michael-Herbstfest, ist kein Fest. Es ist ein Tag des Fastens, der einen ganzen Monat Vorbereitung krönt, zehn Tage nach dem neuen Mondjahr. Es ist der heiligste Tag im jüdischen Kalender. In den letzten 3000 Jahren legten Jüdinnen und Juden ihre Taten vor das Antlitz dessen, ‹der wie Gott ist›, auf Hebräisch: ‹Mi-ka-El›. Michael prüft, aber nie moralisierend, nicht nach ‹darf und darf nicht›, sondern nach Wert für das Kommende. Er prüft, was in Gottes Sinn ist. Die Waagschalen sind Michaels Augen, und sein Blick sortiert das Getane, nimmt das auf, was geistig von Bedeutung ist, und weist das ab, was nur für das Erdenleben Sinn hat. Das Judentum, von Michael als Wegbereitung des Christus geführt, unterschied von Anbeginn an zwischen dem Sozialen und dem Kosmischen. Es gibt zwei Beziehungen im menschlichen Leben, die jährlich neu konstituiert und bewertet werden müssen: zu den Mitmenschen und zum ‹Ort›, ‹Ha-Makom›, dem Gott. Ersteres ist eine rein menschliche Angelegenheit, die zwischen Menschen gelöst werden soll, bevor wir vor das Antlitz Michaels treten. Alles, was ein Mensch am Mitmenschen verschuldet hat, soll wieder gutgemacht und verziehen werden, bevor am langen Gebetstag, Jom Kippur, die Menschen vor Gott treten und die Bewertung ihrer Jahresarbeit am wiegenden Blick ablesen. Jom Kippur ist das innere Gericht, ein Michaeli-Fest, das früh durchschaute, wo der ‹Drachen› liegt. Das ist den meisten Gläubigen nicht bewusst, aber es geht nie um das Wissen, sondern immer um das Tun.
Titelbild Der Erzengel Michael als Seelenwäger aus der Elsässischen Legenda Aurea. Elsässische Werkstatt von 1418. Universität Heidelberg.