Wie die Konferenz von verschiedenen Personen erlebt wurde.
Deutschland
Theresia Alt
Ich war zuletzt vor über 20 Jahren am Goetheanum gewesen und hatte damals unter den moralischen Ver- und Geboten gelitten, die die gemeinsame Arbeit so eng und wenig lebendig gemacht hatten.
Jetzt ist tatsächlich ein neuer Geist eingezogen. Referierende lebten Wertschätzung, Geistesgegenwärtigkeit und Inklusion. Was auch dazu führte, dass fast alles in Englisch kommuniziert wurde und viele Nationen eingeschlossen waren. Besonders eklatant wurde Geistesgegenwart im Workshop ‹Mut zur Verletzlichkeit› gelebt, in dem die Teilnehmenden sich über ihr Erleben, ihre Emotionen in dem jeweiligen Moment austauschten und sich auf Übungen zur Begegnung einließen. Es wurde gemeinsam gelacht und geweint, ohne dass es jemals zu einem rührseligen Verharren im Schmerz wurde. Die praktizierte ständige Übersetzung vom Original ins Deutsche oder umgekehrt ins Englische führte zu einer Verlangsamung, einem besonderen Hinhören. Dadurch vertieften sich die Begegnungen, eine Keimzelle für zukünftige Zusammenarbeit!
Deutschland
Wolfgang Müller
Was man im Prinzip weiß – dass die anthroposophische Bewegung eine Weltbewegung ist –, wird auf einmal so spürbar, ja hörbar. Neben mir wird Portugiesisch gesprochen, hinter mir Holländisch, ein Israeli liest den Wochenspruch auf Hebräisch, ich quäle einen charmanten Mann aus Quebec mit meinem eingerosteten Französisch, beim Kaffee plaudere ich mit einer Frau aus Malaysia. Sicherlich (auch wenn die Reisekosten wohl teilweise von Stiftungen übernommen wurden) ist es eine gewisse Schicht, die sich hier trifft. – Dennoch, die Faszination bleibt. Das Wetter ist gut, zum Essen strömen viele mit ihren Tabletts ins Freie, alle Tische sind belegt, zu viert sitzen wir auf Stufen und Kisten. Und befinden uns unversehens in einem ernsten, tiefen Gespräch über große Fragen der Zeit, politische und seelische. Im anthroposophischen Milieu ergeben sich solche Gespräche oft wie selbstverständlich: nachdenklich, persönlich, suchend, niemand lebt hier ‹vom Brot allein›. – Mir scheint das doch eine Besonderheit zu sein. Man kennt das von Tagungen: Der inhaltliche Ertrag ist oft bescheiden, es zählt mehr die Begegnung. Aber, so mein Eindruck in den Arbeitsgruppen, die Dinge zerfasern doch zu sehr, driften ins Anekdotische, bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Natürlich darf man an einen lebendigen Austausch keine übertriebene Stringenz-Erwartung haben. Dass aber alle, wenigstens von Ferne, den thematischen Mittelpunkt im Blick behalten, wäre nicht zu viel verlangt. Das ‹Hüten des Themas› – diesen schönen Begriff hörte ich unlängst.
Australien
Tanya Coburn
Wie passe ich in die anthroposophische Bewegung? Was muss in der Bewegung neu gestaltet werden? Was in mir? Mit diesen Fragen reiste ich 10 000 Meilen, neugierig darüber, was mich zum Teilnehmen bewegte. Ich war überrascht und erleichtert über den unsicheren, stammelnden Trompetenruf, der uns am Anfang der Eröffnung zum Aufwachen ermahnte. Ich staunte, als das beeindruckende Kunstwerk mit seiner Botschaft von Herausforderung und Chaos hinter der Bühne sichtbar wurde. Und ich weinte. Wie begegnen wir der Polarisierung, Entfremdung, Zerstörung, ohne in Sentimentalität oder Widerstand Zuflucht zu nehmen? Wo ist das Gleichgewicht? In der Arbeitsgruppe ‹Mut zur Verletzbarkeit› fühlte ich mich ganz aufgenommen. Als wir aufgefordert waren, bei einer Übung in Dreiergruppen über ein Erlebnis zu sprechen, wo wir uns schämten oder das Gefühl hatten, nicht dazuzugehören, wurde ich zutiefst gehört und wirklich verstanden. Ich kehre mit einem klareren Blick auf meine eigenen Herausforderungen, auf meinen eigenen Weg zurück, bestätigt in meiner Verankerung in einer Bewegung, die deutlich entschlossen ist, ihr nächstes Jahrhundert mutig, kreativ und wandlungsfähig anzugehen.
Südafrika
Craig Tilsley
Diese Weltkonferenz war mein erster Besuch am Goetheanum. Es war für mich sehr erstaunlich. Das Gebäude selbst war überwältigend: die Größe, die Schönheit, die Düsternis, die Nüchternheit, alles sehr besonders. Besonders beeindruckend war die Holzskulptur. Eindeutig wahrnehmbar war das Bemühen des Organisationsteams, so integrativ wie möglich zu sein. Das hat meine Bedenken, kein Deutsch zu sprechen, sicherlich zerstreut! Der Ort war lebendig, von vor Beginn der Konferenz bis nach ihrem Ende, nur in den Schlafstunden war es ruhig. Das Abendprogramm war unglaublich! Und dann natürlich die wunderbaren Menschen auf der Konferenz – verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen, zufällige Begegnungen, die Erkenntnisse –, was für ein köstlicher Topf. Vielen Dank allen Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft. Und danke speziell an jene vom Goetheanum.
Philippinen
Grace Zozobrado-Hahn
Die Tagung war für mich in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Obwohl es (dank dem Einsatz vieler Menschen) eine klare Form gab, hatte ich den Eindruck, dass der Prozess im Mittelpunkt stand. Es waren viele junge Teilnehmende dabei; das war erfreulich und weckte Hoffnung, dass die Zukunft nicht so katastrophal sein kann, wenn viele junge Menschen sich leidenschaftlich auf verschiedene Weise für das Gute in der Welt einsetzen. Ich habe viele alte Freundinnen und Freunde wiedergesehen und hatte auch einige schöne Begegnungen mit neuen Gesichtern. Das schöne Wetter sorgte auch für eine lebendige Atmosphäre. Die Vortragenden sprachen spürbar aus dem Herzen und präsentierten ihre Anliegen mit Leidenschaft. Die Workshops, an denen ich teilnahm, beschäftigten sich mit sehr relevanten Themen. Das Essen war gut (obwohl ich mich hier angesichts der finanziellen Situation am Goetheanum doch fragen musste, ob etwas weniger Essen nicht auch gereicht hätte). Die Abendvorstellungen waren wirklich großartig. Ich verließ die Tagung mit der neuen Gewissheit, dass die Anthroposophie lebendig ist und dass sie sich in den Händen der jüngeren Generation weiterhin mit Zeitfragen beschäftigen und die Menschheitsentwicklung befruchten wird.
Deutschland
Kai Hansen
Wille und Mut zur Wachheit, zur Verletzlichkeit und zum Fragmentarischen, also zur eigenen inneren Haltung im Beginnen, ging als Weckruf von dieser Tagung aus. Die Sorgen unserer Zeit waren spürbar, aber auch Mut und Zuversicht, die sich im Persönlichen und in den Initiativen der Länder spiegelten. Thematische Foren, Workshops und Reflektionsgruppen brachten ins Zuhören und ließen aufleuchten, wie befruchtend die kulturell unterschiedlichen Erfahrungen zum spirituellen Menschenbild der Anthroposophie beitragen. Es war mir ein herrliches Wunder, dass und wie sich bei dieser Welttagung die Begegnung mit anderen Kulturen zeigen konnte, dass wir alle Menschen auf Augenhöhe sein können und dass uns die Erfahrungsunterschiede, gerade in der Hinwendung zu einem uneingeschränkt Geistigen, gegenseitig bereichern. Ich hatte schon den Eindruck, dass es eine Sorge gibt, die in dem Motto ‹Reshaping World Movement› liegt, dabei war die ‹Bewegung› munter, ernsthaft zugewandt und engagiert. Anthroposophie wurde als inneres Anliegen wahrgenommen, das zu einem veränderten Denken und Handeln in der Welt führen will. Mehr und mehr kommt aus dem freiwilligen Anerkennen und Tun – in einem und für einen Zusammenhang, den man frei wählt. Der Hunger nach Spiritualität (Meditation) im Rahmen eines wirklichkeitsgemäßen, trag- und zukunftsfähigen Menschenbildes wächst dabei, so scheint mir, mit dem Anwachsen der Sorge um die Zustände in der Welt.
Deutschland
Benjamin Brockhaus
Die Konferenzeinladung weckte Hoffnung in mir: Die Vorstellung, an der Neuausrichtung der anthroposophischen Weltbewegung mitzuwirken, faszinierte mich. Doch das Erleben korrigierte mich. Altbekannte Fragen und Kritikpunkte formulierten sich erneut. Einrichtungen aus Entwicklungsländern berichteten am ehesten von wirklichen Schritten ins Neue. Der gemeinsame Entwicklungsimpuls blieb jedoch unklar. Vielleicht entfaltet sich der neue Impuls weder intellektuell noch aktivistisch, sondern in einer vertieften Kultur des sozialen Miteinanders. Zarte Keimlinge dieses Kulturimpulses zeigten sich in Gesprächen, Keynotes und Workshops: Eine mitfühlende Atmosphäre echter Begegnung, die Raum für Freude und Schmerz lässt. Verstärkter Mut zur transparenten Aussprache des Ungesagten wurde spürbar. Die Transformationskraft einer neuen Kultur der Verletzlichkeit wurde erlebbar. Vielleicht ist dieser Kulturimpuls bereits erfolgt und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er auch institutionell Einzug hält. Bin ich bereit, meine Wunde zu zeigen?
Schweiz
Philipp Tok
Michaelinacht: Einige hundert Menschen strömen aus dem Konzert auf die Obstwiesen vor dem Bau, unter den Sternenhimmel, um ein loderndes Feuer. Darüber auf dem Felsli wacht eine leuchtende Schwertskulptur von Rik ten Cate anstelle der gefallenen Linde. Der große, in die Weite verteilte Kreis erklingt an verschiedenen Stellen, sucht ein Lied anzustimmen. Es verstummt im Ganzen. Nur kleine Grade finden gemeinsames Tönen. Jeder ist bei sich, auf sich gestellt in dieser ruhigen, weitgehend schweigsamen Versammlung, die von Blicken durchwärmt wird. Als das Feuer sich selbst gebändigt hat und der gelichtete Kreis enger zusammengerufen wurde, ergreift ein Storyteller die heiße Bühne. Vor dem Feuer auf und ab schmiedet er seine Reime zum Werden der Welt und bannt die Lauschenden in Märchen.
Alle Bilder Weltkonferenz 2023 am Goetheanum, Fotos: Xue Li
Zur „Michaelinacht“: Am Ende des 7. Gesangs der Ilias treten wir gemeinsam über die Schwelle, am Ende des 8. Gesang treten wir in die sternklare Nacht.
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„Sie dort, mutig und stolz, in des Kriegs Abteilung gelagert,
Saßen die ganze Nacht, und es loderten häufige Feuer.
Wie wenn hoch am Himmel die Stern’ um den leuchtenden Mond her
Scheinen in herrlichem Glanz, wann windlos ruhet der Äther
(Hell sind rings die Warten der Berg’, und die zackigen Gipfel,
Täler auch, aber am Himmel eröffnet sich endlos der Äther;
Alle nun schaut man die Stern’, und herzlich freut sich der Hirte):
So viel, zwischen des Xanthos Gestad und den Schiffen Achaias,
Loderten, weit erscheinend vor Ilios, Feuer der Troer.
Tausend Feuer im Feld entflammten sie; aber an jedem
Saßen fünfzig der Männer, im Glanz des lodernden Feuers.
Doch die Rosse, mit Spelt und gelblicher Gerste genähret,
Standen bei ihrem Geschirr, die goldene Früh erwartend.“
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Im 9. Gesang befinden wir uns in der Nacht, aber in einem geschützen und beleuchteten Raum. Im 10. Gesang, in der tiefsten Nacht, gelangen wir dann ins Freie. Das ist die „Dolonie“.
Der 10. Gesang ist von einer beispiellosen Brutalität und Unmenschlichkeit. Sie müssen sich nicht an diesem Gesang beteiligen, man kann diesen Gesang auch auslassen.