Mensch werden mit dem Tier

Während der Coronapandemie haben viele ihre Liebe zu Tieren entdeckt, vermutlich oft aus Sehnsucht nach Beseelung in Zeiten des Social Distancing. Inzwischen ist diese Liebe vielfach zur Last geworden, sind die Tierheime überfüllt. Warum? Vielleicht weist der Untertitel von Marica Bodrožić’ neuem Buch auf eine Antwort: ‹Von der Liebe der Tiere›.


Um Tod und Leben, um neu zu erringende Freiheiten geht es in ‹Mystische Fauna›, und dabei spielt das Zusammenwirken mit Tieren eine Rolle. Das ist in Bodrožić’ Werk nicht ganz neu. So tragen die Seelenstenogramme ihrer Wanderung über die Pyrenäen auf den Spuren Walter Benjamins den Titel ‹Die Arbeit der Vögel› (2022). Vögel begleiten im Roman ‹Das Wasser unserer Träume› (2016) das langsame Erwachen des Protagonisten aus dem Koma in ein neues Leben hinein. In ihrem neuen Buch steht nun das unverhoffte Zusammenleben mit einem Hund auf der Insel La Gomera im Mittelpunkt. Dabei hütet die Autorin nicht nur den von ihr so getauften ‹Inselito›, sondern er begleitet sie auch beim Aufkeimen freud- wie leidvoller Erinnerungen aus Kindheit und Jugend. Er zeigte ihr einen «Weg in die Gegenwart, ins Jetzt der Zeit». Mit ihm durchlebt sie noch einmal, wie ihr Großvater auf dem bäuerlichen Anwesen in Dalmatien im Jähzorn dem eigenen Hund ein Auge ausschlägt. «Da stehe doch ich an der Schwelle, sage ich mir, ich bin dort nicht unbekannt, es ist das Haus der Kindheit, da kenne ich mich und werde erkannt. Der Hund der Kindheit. Der liebste Mensch der Kindheit. Das Blut der Kindheit. Es ist Augenblut.»

Sie erlebt von Neuem das Schlachten der Tiere, die sie geliebt hat und die ihr – anders als die Menschen – bleibende Aufmerksamkeit schenkten. «Ging der Sommer zu Ende, überfiel mich dann aber tiefe Trauer, weil ich wusste, schon bald im Herbst würde man sie schlachten.» So lebte sie mit ihrer Umgebung, mit Natur und Mensch, mit Leben und Tod in den Augen der Tiere. «Die Tiere und ihre Blicke erzählen von diesem unendlich sich verfächernden Sein im Netz des Lebendigen.» Und sie «begriff, dass es einen Platz in der Welt gibt, der von der Gewalt [des Menschen] nicht ausgelöscht werden kann, weil er sich jenseits von ihr befindet« und dass sie selbst dieser Platz ist. Mit dieser durch Inselito vermittelten Gewissheit findet sie auch ein Verhältnis zu der Gewalt, die sie als Jugendliche, inzwischen in Deutschland, durch die eigene Mutter erfährt, die, selbst vom Leben geprüft, sie als Mädchen nicht lieben kann. Das Leben an sich verläuft durchaus nicht gewaltfrei. Doch es gibt eine Gewalt seitens des Menschen, die das Leben ignoriert und so aus ihm herausfällt – im Krieg, durch willkürliche Schikane, Perversitäten oder wenn der Jähzorn in berechnende Kälte umschlägt. Dann entstehen tiefe «Risse im Lebensgewebe». Solches Reißen hat Bodrožić als Kind erlebt, zum Beispiel als ihr Großvater den Esel, der an seinem Wein gefressen hatte, auf grausame Weise zu Tode brachte: «Zieh dir die Schuhe an, der Esel muss weg.» So musste sie mitmachen. Nun schreibt dieser Esel an diesem Buch mit, «schenkt mir die Kraft, seinen Tod zu erzählen.»

Zu Marica Bodrožić’ «mystischer Fauna», deren Schmerz sich in ihren eigenen Körper eingenistet hat, gehören auch Kühe und Schweine, Ziegen, ein weißes Lämmchen, von der Mutter erschlagene Schlangen und in einem hessischen Badezimmer geschlachtete Hühner. Salamandern, einer Wildsau mit ihren Frischlingen sowie zwei Katzen – «ein Bild der Seele für das stille Glück des Hierseins» – kann sie unbefangen begegnen. All diese Tiere sind ihr Tore zu einer magischen Umwelt. «Ich spürte, dass sie ihre Umgebung genau wahrnahmen, aber nichts an ihrem Schicksal ändern konnten – und das irgendwie auch zu wissen schienen.»

Doch es ist immer wieder der der Autorin unversehens anvertraute Hund Inselito, mit dem es ihr gelingt, «Bild für Bild in meiner Erinnerung abzutasten», Innen und Außen so ins Gespräch zu bringen, dass Einzelereignisse sich miteinander verweben. So lernt sie, das – scheinbar – Zufällige als etwas zu sehen, «das uns anvertrauend zufällt und das uns deshalb auf eine mit dem bloßen Verstand nicht zu begreifende Weise kennt.»

Die grüne Insel im Atlantik, auf der sie eine Art Übergangszeit verbringt, wird für Marica Bodrožić zu einem äußeres und inneres Leben verbindenden Ort – ein buchstäblicher Lebensmittelpunkt für Rückblicke in die Kindheit, auf das eigene Werden, und für Vorblicke auf ein zukünftiges Sein. «Die Insel La Gomera wurde für mich ein Ort des neuen sphärischen Lernens». Hier realisierte sie sich als ein Mensch, der sich nicht durch örtliche oder gruppenmäßige Zugehörigkeiten definiert, sondern «der innerlich zur ganzen Erde« gehört». Gerade die Wahrnehmung des seit Kindheitstagen durch sie selbst hindurchgehenden Risses, «der durch Gewalt geschieht» – «dieses Einschnittes in Raum und Zeit» – «leitete das Neue ein und veränderte mich». Das auf der Schwelle stehende, «von der Gewalt seiner ersten Umgebung verschreckte», aber nicht zerstörte Kind selbst sah sie schließlich an und blieb fortan bei ihr.

Bis heute spricht dieses Gewahrsein der Tiere, ihre eigene Art von Anwesenheit zu mir, in ihren Augen ist ein anderes Ufer, eine Verbindung zur unsichtbaren Welt.

Auf diesen Umschmelzungsprozess schaut die Autorin von heute aus erkennend zurück, inzwischen mit eigenem Kind in Berlin und am Rande der Mecklenburgischen Seen lebend, wo es zu immer neuen Tierbegegnungen kommt. In dieser Verschachtelung hebt sich die linear ablaufende Zeit auf in eine neue Gegenwart. Zeit zeigt sich in dem, was sie mit sich bringt, als etwas Gelebtes und zu Lebendes. Darüber verknüpfen sich auch die verschiedenen Lebensräume. Und mittendrin das Leben auf Zeit auf der Insel. So entsteht eine eigene Geografie und Geschichte, die Raum und Zeit überschreitet.

Vermittler dieser neuen Raum-Zeit ist für Marica Bodrožić das Tier. Es trägt Raum und Zeit in sich, ist «Anwesenheit im Zeitlosen», lebt «im Überzeitlichen». Daher rührt auch seine Bedingungslosigkeit seiner Umwelt gegenüber – auch noch im Leiden. So kann das Tier dem Menschen zu einem lebendigen, sich hingebenden Spiegel werden. In dieser «magischen» Umwelt werden das selbst erfahrene Leid, das selbst erfahrene Glück zu Erfahrungen von Welt, die das eigene Selbst verwandeln. Dies erinnert mich an Äußerungen von Joseph Beuys, für den ebenfalls das Tier zum «Co-Operateur» des Menschen geworden ist. Das Tier werde zum Menschen hin erlöst, während der Mensch zu «einem Zukünftigen» aufrückt: «Also das Tier hat sich geopfert, damit überhaupt ein Mensch zustande kam. Das ist also die große – man könnte sagen – Liebesleistung der Tiere, dass sie vorauslaufen in der Evolution, dass es also Vorversuche sind für das Menschwerden.»1

Dieses Buch berührt mich auf sonderbare Weise. Es ist die Begegnung mit dem Tier als einem Mittler zwischen Mensch und Welt; das Bewusstwerden darüber, Teil eines über die bloß natürlichen Verhältnisse weit herausreichenden Beziehungsgefüges zu sein, das mich erst individueller Mensch sein bzw. werden lässt. Lasse ich mich nicht darauf ein, verliere ich den Kontakt nicht nur zum Leben, sondern auch zu mir selbst. Mir scheint, Marica Bodrožić beschreibt genau diese Schwelle: Es geht nicht darum, der vergehenden, leidenden und sterbenden Natur zu folgen, sondern das mir Entgegengebrachte durch eigene Kraft auferstehen zu lassen. Erst dann kann ich mich der Welt und auch meinem Schicksal, meiner eigenen Gewordenheit, in Freiheit gegenüberstellen und zugleich diese tätig mitgestalten und so Zukünftiges ermöglichen. Miterlebter und selbst erfahrener Schmerz können so auf fruchtbare Weise gewendet werden – denn «nur der gefühlte Schmerz [führt] zur Schmerzlosigkeit».

Es geht bei Bodrožić’ exakten seelischen Beobachtungen nicht um etwas Rührseliges, sondern um das Menschwerden mittels des Tieres. Im Verhalten dem Tier gegenüber zeigt sich das Menschsein: Das «Angesehenwerden» von einem solchen außerhalb unseres Raumes und unserer Zeit lebenden Wesens «ist ein Akt der Gnade. Es ist ein Geschenk an uns […], wenn wir es erkennen, es anerkennen. […] Nur im Sein und in der Teilhabe wird es wesenhaft in uns eingeschrieben und trifft dabei auf in uns Eingeschriebenes. Die Tiere haben das nie vergessen.» Die Tiere «geben uns das Gefühl, dass sie, anders als wir, ewig leben, dass es immer dieses eine Tier ist, das wiederkommt und das uns wieder begegnet» – «eine Art mystische Wiederkehr». Bei Bodrožić ist es speziell der Esel, der sie immer wieder «aus seiner Gattung heraus grüßt. So hat jeder Mensch seinen Einzug in ein inneres Jerusalem.»


Alle nicht anders bezeichneten Zitate stammen aus dem besprochenen Buch.

Buch Marica Bodrožić, Mystische Fauna, Von der Liebe der Tiere, Matthes & Seitz, Berlin 2023

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Footnotes

  1. Joseph Beuys zu Alois Martin Müller, in: Joseph Beuys und das Kapital. Schaffhausen 1988, S. 138 f.

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